Die große Reise (2004)

Road Movie | Frankreich/Marokko 2004 | 102 Minuten

Regie: Ismaël Ferroukhi

Nachdem sein älterer Bruder unter Alkoholeinfluss einen Unfall verursacht hat, muss ein 19-jähriger Franzose arabischer Abstammung seinen Vater, der seine Pilgerreise antreten will, mit dem Auto nach Mekka fahren. Da der junge Mann mit Religion und Traditionen wenig im Sinn hat, ist der Ärger für die lange Reise vorprogrammiert. Ein bewegendes Road Movie, an dessen Ende eine teilweise Annäherung, Versöhnung und Verstehen zwischen den Generationen stattgefunden haben. Formal überzeugt der Film durch brillante Darsteller und eine faszinierende Musik, die als mystischer Kontrapunkt gesetzt ist. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
LE GRAND VOYAGE
Produktionsland
Frankreich/Marokko
Produktionsjahr
2004
Produktionsfirma
Ognon/Les Films du Passage/Casablanca Film Prod./Soread-2M/arte France Cinéma
Regie
Ismaël Ferroukhi
Buch
Ismaël Ferroukhi
Kamera
Katell Djian
Musik
Fowzi Guerdjou
Schnitt
Tina Baz
Darsteller
Nicolas Cazalé (Reda) · Mohammed Majd (Vater) · Jacky Nercessian (Mustafa) · Ghina Ognianova (alte Frau) · Kamel Belghazi (Khalid)
Länge
102 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Road Movie
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Diskussion
Ein Schrottplatz im Süden Frankreichs. Zwei Brüder, offensichtlich arabischer Herkunft, streiten sich. „Ich bin doch nicht dein Sklave!“, ereifert sich Réda, der Jüngere, und zieht zornig von dannen. Zuhause am Mittagstisch herrscht bedrücktes Schweigen, der Vater zieht in unterdrücktem Grimm die Gebetsperlen durch die Finger. Der 19-jährige Réda traut seinen Ohren nicht: Sein Bruder hat mit Alkohol am Steuer einen Unfall provoziert und seinen Führerschein verloren. „Du wirst mich nach Mekka fahren. Ich kann die Reise nicht mehr aufschieben“, sagt der Vater. Réda steht kurz vor dem Abitur und hat mit der arabischen Tradition seiner Familie nichts gemein. Sein Vater ist jedoch auch nach 30 Jahren in Südfrankreich immer noch seinen religiösen und kulturellen Traditionen treu geblieben. Jetzt will er endlich die Hadsch, die Pilgerfahrt nach Mekka, antreten, über Italien, Slowenien, Kroatien, Serbien, Bulgarien, Türkei, Syrien, Jordanien bis hin nach Saudi Arabien. Für Redá ist das so weit weg wie der Mars. Er will bei seiner Freundin bleiben und seinen Schulabschluss machen. „Kannst du nicht fliegen, wie alle anderen auch?“, fragt er den Vater. „Die große Reise“ ist ein Road-Movie der besonderen Art, in der sich zwei unterschiedliche Charaktere ständig streiten, reiben und annähern. „Wer in Eile ist, ist doch schon tot“, sagt der Vater, um den Sohn zum Anhalten zu bewegen. Dann reißt er ihm das Steuer aus der Hand. „Du bist starrköpfig, aber hier entscheide ich“, fährt ihn der Vater an, als Réda keine Anstalten zum Halten macht. An einer anderen Stelle antwortet ihm der Sohn hämisch: „Woher willst du denn wissen, was der richtige Weg ist? Du kannst doch nicht einmal lesen und schreiben.“ Doch während der Sohn mit seinen gestammelten Sätzen auf Englisch im ehemaligen Jugoslawien kaum verstanden wird, gelingt es dem Vater immer wieder, in eine fast archaisch anmutende, nonverbale Kommunikation mit den Einheimischen zu treten, oder auch ohne größere Worte Geld in Belgrad erhalten – zu Vertreter einer Generation, die ihr Wissen noch viel stärker über Beobachtung als über abstraktes Schulwissen entwickelt hat. Immer wieder inszeniert der Film anrührende Momente gegenseitigen Verstehens – etwa im eisigen Frost der verschneiten Berge Bulgariens. „Warum bist du eigentlich nicht nach Mekka geflogen?“, will der Sohn erneut von seinem Vater wissen. „Wenn das Wasser aus dem Meer aufsteigt, verliert es sein Salz und wird wieder rein.“ Daher, so der Vater, sei es besser, die Pilgerfahrt zu Fuß zu machen als mit dem Pferd, besser mit dem Pferd als mit dem Auto, besser mit dem Auto als mit dem Schiff, besser mit dem Schiff als mit dem Flugzeug. Während der Reise beginnen sich beide zu verstehen, es ist aber auch ein langer Abschied. Der Vater hat die Reisekasse knapp kalkuliert. Bei den Nächten im kalten Auto holt er sich eine Lungenentzündung und stirbt fast im Krankenhaus in Sofia. Die Konflikte resultieren immer wieder aus unterschiedlichen Weltanschauungen: wenn der Vater einer Bettlerin einen Geldschein in die Hand drückt, obwohl er selbst nichts mehr zum Essen hat, und den Sohn schlägt, als dieser der Bettlerin das Geld wieder entreißen will: „Wir liegen einfach nicht auf der gleichen Wellenlänge!“. Als der Vater den betrunkenen Sohn in enger Umarmung mit einer Nachtclubtänzerin sieht, bricht er am nächsten Tag alleine auf. Erst mit dem wütenden Ausruf, „Kennt deine Religion denn kein Verzeihen?“, bringt Réda den Vater dazu, wieder ins Auto zu steigen. „Die große Reise“ zeigt eine Annäherung unversöhnlicher Positionen, zeigt aber auch, wie sich die Einstellungen verschieben, wie der Vater im arabischen Raum zunehmend an Souveränität gewinnt. Schon in Jordanien treffen sie auf andere Pilger. Jetzt ist Réda der Außenseiter: „Mein Sohn kann dich nicht verstehen. Er spricht kein Arabisch“, erklärt der Vater mit entschuldigendem Lächeln. Kurz vor dem Ziel kommt es zu einer Versöhnung: „Ich habe auf dieser Reise viel gelernt.“ „Ich auch“, antwortet Réda. Ein letztes Lächeln gilt dem Sohn, als er zum letzten Gang ins Zentrum des Heiligtums antritt. Hunderttausende strömen auf das Heiligtum zu. Hier durchbricht der Film die Enge der Fiktion, zeigt, was man bislang selten sah – das Innere des höchsten islamischen Heiligtums. „Die große Reise“ ist der erste Spielfilm, der in Mekka gedreht wurde. Der Film ist ein faszinierend menschliches Road-Movie über einen Generationskonflikt, über die Immigration und über die Religion. Er zeigt eine Realität des Islams, die nichts mit gängigen negativen Sensationsklischees zu tun hat. Ein brillanter Erstlingsfilm von Ismaël Ferroukhi und eine große Produktion des eigenwilligen, viel zu früh aus dem Leben geschiedenen französischen Produzenten Humbert Balsan. Neben der brillant natürlichen Darstellerleistungen der Schauspieler wirkt die synfonische Filmmusik von Fowzi Guerdjou nicht nur als Klammer, sondern als mystischer Kontrapunkt. Wenn am Ende die Sängerin auf arabisch „Mein Herz ist empfänglich geworden für jede Form“ singt, dann trifft das auf Réda zu, aber wohl auch auf einen großen Teil des Publikums.
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