Dokumentarfilm über das fatale Zusammenspiel von Ökonomie und Ökologie, das das Leben am Victoriasee in Tansania auf kurz oder lang zerstören wird. Das Ansiedeln von Barschen, die als Speisefisch nach Europa und Japan exportiert werden, und die damit einhergehende Industrie haben zwar kurzfristig Arbeitsplätze geschaffen und Devisen eingebracht, zerstören aber langfristig das ökologische Gleichgewicht des Binnengewässers sowie alte soziale Strukturen. Der Film zeigt diese Konsequenzen mit schonungsloser Offenheit und beschreibt differenziert die komplizierte Zusammenhänge zwischen so unterschiedlichen Dingen wie dem Fischfang, AIDS und Waffenschiebereien. Dabei entsteht ein Bild von erschreckender Düsternis. (O.m.d.U.)
- Sehenswert ab 14.
Darwins Alptraum
Dokumentarfilm | Frankreich/Österreich/Belgien 2004 | 111 Minuten
Regie: Hubert Sauper
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Filmdaten
- Originaltitel
- DARWIN'S NIGHTMARE
- Produktionsland
- Frankreich/Österreich/Belgien
- Produktionsjahr
- 2004
- Produktionsfirma
- Mille et Une Prod./Coop 99/Saga Films
- Regie
- Hubert Sauper
- Buch
- Hubert Sauper
- Kamera
- Hubert Sauper
- Schnitt
- Denise Vindevogel
- Länge
- 111 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 6; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Diskussion
Die Katastrophe begann scheinbar harmlos. Im Rahmen eines wissenschaftlichen Experimentes wurden Ende der 1960er-Jahre ein paar Barsche im Victoriasee ausgesetzt, die bis dahin nur im Nil heimisch waren. Ohne natürliche Feinde vermehrte sich der gefräßige Raubfisch in seiner neuen Umgebung rasant. Mit der Konsequenz, dass heute von der einstigen Artenvielfalt im zweitgrößten Binnengewässer der Erde so gut wie nichts mehr übrig ist. Da der Barsch aber auch alle Pflanzen fressenden Fische dezimierte, droht dem See in absehbarer Zeit jener Kollaps, den man gemeinhin als „Umkippen“ bezeichnet. Ein ökologisches Desaster, das mit einer ökonomisch-sozialen Katastrophe einhergeht, obwohl das Ganze für ein Land wie Tansania lange Zeit wie ein segensreicher Fortschritt aussah. Denn der wohlschmeckende, bald in „Victoria-Barsch“ umgetaufte Fisch entwickelte sich zum Exportschlager und ließ an den Ufern unzählige Fabriken entstehen, in denen die Tiere filetiert werden, um von einem eigens eingerichteten Flughafen aus nach Japan und Europa verfrachtet zu werden.
Hubert Saupers Dokumentarfilm beginnt mit den vermeintlichen Gewinnern des Barsch-Booms: Einer ukrainischen Flugzeugbesatzung, die mit ihrer riesigen Iljuschin gerade gelandet ist, einem Angestellten, der im behelfsmäßigen „Tower“, eigentlich eher eine Bretterbude, eine Wespe jagt, Fischern, die die riesigen Barsche aus dem See ziehen und Arbeitern, die aus den Tieren handliche Filets machen. Selbst die Prostituierten, die in einem nahen Hotel auf die Piloten der zahllosen Frachtmaschinen warten, scheinen von den Fischen zu profitieren. Das ist gewiss keine Idylle, aber es gibt üblere Verhältnisse in Afrika. Was sollte der Fisch-Export mit dem Elend jener verwaisten Straßenkinder zu tun haben, die nachts dösend in Rinnsteinen kauern? Es gehört zu den herausragenden Qualitäten von „Darwins Alptraum“, diesen und andere Gewaltzusammenhänge sinnfällig deutlich zu machen. Und dies mit dezidiert filmischen Mitteln, ohne jeden erklärenden oder anklagenden Off-Kommentar. Irgendwann kommen ganze Siedlungen mit armseligen Baracken am Seeufer ins Bild, in denen jene Männer hausen, die einst als Bauern im Landesinneren lebten, sich aber irgendwann, vom Barsch-Boom angelockt, am See niederließen, um als Fischer oder in der Fabrik zu arbeiten. Den Männern folgten die Prostituierten, vornehmlich alleinstehende Frauen, die für sich und ihre Kinder keine andere Perspektive sahen. Vor dem Hintergrund, dass sich AIDS in solchen Kontexten noch dramatischer ausbreitet als ohnehin in Afrika, und die Arbeiter das HIV-Virus während ihres Urlaubs in ihre Heimatdörfer tragen, ist man sehr schnell bei den verwaisten Straßenkindern.
Doch letztlich ist es nicht einmal das allgegenwärtige Elend, was den mehrfach ausgezeichneten Dokumentarfilm nur schwer erträglich macht. Vielmehr ist es der deprimierende Eindruck einer umfassenden Perspektivlosigkeit, das Gefühl, dass ohnehin längst alles zu spät ist. Auch die Erleichterung, einzelne identifizierbare Verursacher der Katastrophe vorzuführen, denen man (auch als Zuschauer) die Schuld in die Schuhe schieben könnte, verweigert der Film so konsequent wie redlich. Selbst die EU-Kommissare, die auf einer Pressekonferenz zusammen mit einheimischen Beamten den Aufschwung Tansanias durch den Fisch-Export rühmen, erscheinen weniger als zynische Schurken denn als Erfüllungsgehilfen eines Systems, das harmlos „Globalisierung“ heißt.
So setzt Hubert Sauter in einer ausgeklügelten Montage Stück für Stück das Mosaik eines alltäglichen Super-GAUs zusammen, wobei die Dramaturgie fraglos etwas von einem Elends-Crescendo hat. Wann immer man glaubt, am Tiefpunkt des Grauens angelangt zu sein, beweist die folgende Sequenz das Gegenteil. Wenn Kinder sich aus den Plastikverpackungen der Fisch-Filets eine Schnüffel-Pampe kochen oder man Menschen sieht, die im Morast die von Maden durchsetzten Fischabfälle zum Trocknen aufhängen, um daraus später Nahrung für den einheimischen Markt zu gewinnen, dann mag man eigentlich gar nicht mehr hinsehen. Der Hinweis, dass zwei Millionen Menschen in Tansania an Hunger leiden, während Tag für Tag 500 Tonnen Barschfilets ausgeflogen werden, nimmt man angesichts solcher Bilder schon fast emotionslos zur Kenntnis. Dabei ergeht sich der Film durchaus nicht in einer Aneinanderreihung von Schreckensbildern, sondern zeigt zwischendurch auch realsatirische oder sogar humorvolle Momente. Wofür neben ein paar dezent ironischen Inserts in erster Linie die Besatzung der Iljuschin zuständig ist, die über mehrere Tage auf das Beladen ihres Fliegers wartet (was erzählerisch so etwas wie den roten Faden bildet) und mit Hammer und Meißel an ihrem High-Tech-Flieger herumbastelt. Doch nachdem ein Crew-Mitglied, das bis dahin alle Fragen hinsichtlich des Frachtguts nach Afrika („Ich kümmere mich nicht um Politik“) zurückgewiesen hat, am Ende wehmütig gesteht, dass der kleine Flughafen am See auch eine zentrale Drehscheibe für den Waffenexport aus ehemaligen Sowjetrepubliken nach Afrika ist, kollabiert auch der bis dahin vergleichsweise unverfängliche Erzählstrang.
Damit nicht genug, macht dieses Kaleidoskop des realexistierenden Grauens deutlich, dass die wahre Katastrophe noch bevorsteht. Denn die wird unausweichlich stattfinden, wenn in zehn oder 20 Jahren auch die letzten Barsche im ökologisch toten Gewässer verenden. Denn momentan – so das angesichts des gegenwärtigen Elends grenzenlos deprimierende Fazit – geht es den Menschen am Victoriasee ja vergleichsweise prächtig.
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