Wie es sich für einen zünftigen Boxkampf gehört, beginnt das Kräftemessen bereits im Vorfeld. Friedrich Weimer, Weddinger Arbeiterjunge und ein freundlicher Siegfried vom blonden Scheitel bis zur Sohle, gerät mit seinem Gegner aneinander, als der in Herrenmenschen-Manier die Umkleidekabine betritt. Die junge Elite des Führers macht in der Berliner Provinz Station, um mit piekfeinen Uniformen und großkotzigem Auftreten ihre Überlegenheit zu demonstrieren. Im Ring schrumpfen die Zöglinge der nationalpolitischen Erziehungsanstalten, kurz: Napolas, allerdings auf Normalgröße zusammen. Friedrich bringt seinen Gegner an den Rand eines Knockouts, zögert jedoch, seinem bereits taumelnden Gegenüber den entscheidenden Schlag zu versetzen. Wie ein Pfadfinder im Ring lässt er ihn wieder auf die Beine kommen, nur um schmerzlich zu erfahren, dass nicht jeder derlei Skrupel kennt.
Dennis Gansel braucht in seinem dritten Spielfilm keine zehn Minuten, um die Konfliktlinien seiner Erzählung zu konturieren: Auf der einen Seite ein Junge mit Herz, auf der anderen ein unmenschliches System. Es ist Spätsommer 1942, die deutschen Armeen siegen noch, und die Rekrutierung des nationalsozialistischen Nachwuchses ist im vollen Gange. Den Boxlehrer der Napola beeindruckt Friedrichs Kampfstil so sehr, dass er ihn trotz seiner Niederlage zur Aufnahmeprüfung einlädt. Dank kräftigen Wuchses und blauer Augen besteht der 17-Jährige mit Auszeichnung und schleicht sich, das strikte Verbot seines Vaters missachtend, im Morgengrauen aus dem Elternhaus. Die Aussicht, Boxer werden zu können, erfüllt Friedrich mit ungewohnter Entschlossenheit: Als Abschiedsgruß bleibt die Drohung zurück, seinen Vater zu denunzieren, falls der ihn nicht gehen lässt.
Nach Bernd Eichingers Version von Hitlers „Untergang“
(fd 36 679) ist „Napola“ ein weiterer Film aus Deutschland, der im Nationalsozialismus nicht zunächst die Verpflichtung zur ästhetischen Zurückhaltung, sondern vor allem einen Filmstoff sieht. Wie Eichinger sichert auch Gansel dieses Wagnis dadurch ab, dass er einen Auftrag zur deutschen Erinnerungskultur damit verbindet. „Der Untergang“ gab dem älteren Publikum einen sichtbaren Fetisch ihrer persönlichen Kriegserinnerungen zur Hand, „Napola“ ist ein Lackmustest für die Teenager von heute. „Lasst Euch nicht verführen!“, lautet die Botschaft, und in diesem Sinne wird verständlich, warum Gansel mitunter auf die Inszenierungstechniken einer Leni Riefenstahl zurückgegriffen hat. Bei den Aufmärschen der Jugend, dem morgendlichen Drill und natürlich Friedrichs sportlichen Triumphen spielt er komplizenhaft den Regisseur des Teufels, um es seinen Zuschauern nicht zu leicht zu machen.
Als dramaturgisches Gegengewicht zur Riefenstahl-Ästhetik hat Gansel das Genre des Schul- und Internatfilms gewählt. Dessen Personal ist vom drahtigen Sportlehrer bis zum übergewichtigen Stubentölpel beinahe vollständig angetreten, und Albrecht, Friedrichs bester Freund, scheint direkt aus dem „Club der toten Dichter“ auf die Napola zu kommen. Mit diesem empfindsamen Schöngeist verfügt die Schülerschaft über ein nicht zu korrumpierendes moralisches Gewissen, weshalb man früh ahnt, dass es ein böses Ende mit ihm nehmen wird. Albrecht macht Friedrich Vorwürfe, als der endlich gelernt hat, im Ring kein Mitleid mehr zu zeigen, und er rebelliert als einziger, nachdem eine Schüler-Kompanie mitangesehen hat, wie unbewaffnete Kriegsgefangene zusammengetrieben und erschossen wurden. Verharmlosung kann man Gansel beim schlechtesten Willen nicht vorwerfen: Er lässt keinen Zweifel daran, dass es in der Eliteschule, auch wenn sie sich einen anderen Anstrich gibt, um die Ertüchtigung zum rassistisch motivierten Mord geht. An diesem Punkt distanziert sich Gansel eindeutig von der nazistischen Ästhetik und attestiert ihr eine Mitschuld qua Verschleierung.
Mit „Napola“ wollte Gansel nicht nur einen bislang kaum wahrgenommenen Winkel der deutschen Vergangenheit beleuchten, sondern, wie er immer wieder betont, auch eine aktuelle Geschichte erzählen. Etwas überraschend ist es da schon, dass sich sein Film vor allem aus anderen Filmen speist und mögliche Parallelen zu heutigen Verhältnissen dadurch eher verdeckt werden. Worin wird sich das anvisierte Publikum wohl eher wiedererkennen: In der verführten Jugend einer lang vergangenen Epoche oder in den vertrauten Figuren und Mustern des Genrefilms? Vielleicht kann Gansels Lackmustest am Ende gar nicht funktionieren. Was von „Napola“ dann in Erinnerung bliebe, ist neben exzellent gemachtem Kino vor allem eines: gute Absichten, die ihr Ziel verfehlen.