Road Movie | Frankreich/Belgien/Deutschland 2003 | 107 Minuten

Regie: Vincent Dieutre

Ein etwa 40-jähriger Franzose und sein 15-jähriges Patenkind reisen quer durch Deutschland auf den Spuren der früheren Liebhaber des homosexuellen Mannes. Ein hochartifizielles Road Movie mit faszinierenden poetischen Bildern, das als ungewöhnlicher "Lehrfilm" über das Leben, Erinnerungen und Gefühle funktioniert, was sich sowohl über die Schönheit der deutschen romantischen Musik, vor allem Schuberts "Winterreise", vermittelt als auch über die in deutschen Gedichten zum Ausdruck kommende Kälte, Einsamkeit und Morbidität. (Teils O.m.d.U.) - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
MON VOYAGE D'HIVER
Produktionsland
Frankreich/Belgien/Deutschland
Produktionsjahr
2003
Produktionsfirma
Les Films de la Croisade/Simple Production/Carré Noir-RTBF/Films sans Frontières/Tag-Traum Filmproduktion
Regie
Vincent Dieutre
Buch
Vincent Dieutre
Kamera
Benoît Chamaillard · Jean-Marie Boulet
Schnitt
Dominique Auvray
Darsteller
Itvan Kebadian (Itvan) · Vincent Dieutre (Vincent) · Andreas Steier (Pianist) · Christoph Pregadien (Tenor) · Daniel Sepec (Geiger)
Länge
107 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Road Movie

Diskussion
Die Reise könnte seine letzte sein, so schwermütig, melancholisch und poetisch, wie sie beginnt: mit Paul Celans Todesfuge und Liedern aus Schuberts „Winterreise“. Sie ziehen sich als Leitmotiv durch dieses ungewöhnliche Road Movie. Der langsame Rhythmus der Worte, die Off-Stimme auf Französisch gegen die deutschen Wörter in Gedichten und Liedern, die tristen Melodien in Moll und vor allem die Bilder, die schwarz-weiß wirken, obwohl sie es nicht sind, sorgen für die eigentümliche Stimmung. Hat man sich an diese kunstvoll inszenierte Atmosphäre gewöhnt, ist der Film eine wunderschöne Erfahrung, irgendwo zwischen Fiktion, Dokumentar- und Traumfilm.

Regisseur und Autor Vincent Dieutre (Jhrg. 1960) spielt die Hauptrolle selbst und erzählt mit sanfter sonorer Stimme aus dem Off den Sinn seiner Reise durch ein einsames, verschneites Deutschland, nach Tübingen, Stuttgart, Nürnberg, Regensburg, Bamberg, Weimar, Leipzig, Dresden und Berlin. Vincent hat sein 15-jähriges Patenkind Itvan dabei, weil eine Freundin ihn darum bat. Die beiden reden nicht miteinander – Dialoge im üblichen Sinne gibt es ohnehin nicht, sie würden nur die Atmosphäre zerstören –, aber man spürt an den Blicken des Jungen, der als einzige Person immer wieder in Nahaufnahme gezeigt wird, das stille Einverständnis zwischen den Reisenden. Gegen Ende, als Itvan wieder einmal von den Bombern im Krieg über der Stadt träumt, geht er zu Vincent ins andere Hotelzimmer, legt sich in die freie Hälfte des Doppelbettes, deckt Vincent zu und schläft beruhigt ein. Es ist, als hätte er verstanden, was Vincent mit der Reise bezweckte: sich an die wichtigsten Gefühlsmomente in seinem Leben zu erinnern.

Vincent, der Homosexuelle, der allein ist und wahrscheinlich Aids hat, besucht seine Liebhaber von einst, die seltsamerweise alle Deutsche waren. Zwei sind bereits tot, wie die Off-Stimme erzählt und wie ein Friedhofsbesuch illustriert; die anderen lieben Vincent nicht mehr. Dennoch herrscht zwischen den Männern zwischen 40 und 50 Jahren immer noch große Zärtlichkeit und Ruhe. Vincents Freunde rezitierten Gedichte (Celan, Brecht, Enzensberger und Bachmann), sind Musiker oder gehen stumm mit ihm spazieren. Die Stimmung bleibt in dem eigentümlichen Moll-Ton, den Schuberts Lieder vorgeben (obwohl auch andere Stücke vorkommen, von Schumann, Clara Wieck und Beethoven), die Off-Stimme erzählt Bruchstücke aus Vincents Leben, so, wie Schuberts „Winterreise“- Zyklus aus an sich unverbundenen Liedern besteht. Aber sie sind vom selben Duktus getragen, so, wie die aus dem Auto gefilmten malerischen langsamen Fahrtbilder der verschneiten Landschaft und meist menschenleeren Städte, die an die Dokumentarfilme von Chantal Akerman („D’est“) erinnern. Dieutre hat einen romantischen Film über Deutschland gedreht, wie ihn wohl kein Deutscher wagen würde. Nicht nur, weil das Land so melancholisch, grau und morbid wirkt, sondern auch, weil er an eine deutsche Kultur erinnert, die heute antiquiert wird, eine Kultur, die Dieutre geprägt hat und die er indirekt seinem jungen Begleiter vermittelt. Irgendwann hält er eine „Winterreise“-CD in Händen, auch wenn er danach die Techno-Musik im Auto laut aufdreht, als sie sich Berlin nähern. Der höchst artifizielle Film lehrt, genau auf Worte, Geräusche und Musik zu hören und Bilder aufzunehmen, die zwar künstlich komponiert sind, aber trotzdem aus der Realität stammen – und durch Unschärfe (gedreht wurde auf Super-16 und DV) und fahle Farben eine eigenständige Qualität bekommen. Die Milde der Erinnerungen trifft immer wieder auf die Härte der Realität wie Hakenkreuz-Graffiti und Spuren deutscher Geschichte wie die Berliner Mauer. Real sind auch die als Trennmomente zwischen die Städtebilder eingefügten Szenen aus dem Musikstudio, wo der Pianist Andreas Stainer, der Tenor Christopf Prégardien und andere Musiker an Schuberts Liedern arbeiten. Wenn Vincent und Itvan noch lange nach einem Konzertbesuch im leeren Foyer der Konzerthalle auf einer Bank sitzen, wird klar, dass Dieutres ungewöhnlicher und den Zuschauer fordernder Film ohne diese wunderschöne Musik wohl nie entstanden wäre.

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