Die Geschichte von Marie und Julien

- | Frankreich/Italien 2003 | 150 Minuten

Regie: Jacques Rivette

Eine junge Frau liefert sich mit einem eigenbrötlerischen Uhrmacher ein verwirrendes Liebesspiel, wobei die Absichten auf beiden Seiten lange im Unklaren bleiben. Jacques Rivettes souverän entwickelter und mit großer Leichtigkeit inszenierter Film hebt die Grenze zwischen Leben und Tod auf, um zum Nachdenken über die Zeitlichkeit anzuregen. Das kunstvoll verschachtelte Werk, mit dem der Regisseur ein vor 30 Jahren liegen gebliebenes Projekt zu Ende bringt, erinnert mit seiner schillernden Doppelbödigkeit und der labyrinthischen Struktur eindrucksvoll an die Hoch-Zeit des europäischen Autorenkinos. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
HISTOIRE DE MARIE ET JULIEN
Produktionsland
Frankreich/Italien
Produktionsjahr
2003
Produktionsfirma
Pierre Grise Prod./Arte France Cinéma/VM/FMB 2/Canal +/Eurimages/Cinemaundici/Cofimage 14/Gimages 6/CNC
Regie
Jacques Rivette
Buch
Pascal Bonitzer · Christine Laurent · Jacques Rivette
Kamera
William Lubtchansky
Schnitt
Nicole Lubtchansky
Darsteller
Emmanuelle Béart (Marie) · Jerzy Radziwilowicz (Julien) · Anne Brochet (Madame X) · Bettina Kee (Adrienne) · Olivier Cruveiller (Verleger)
Länge
150 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Externe Links
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Diskussion
Wie etabliert man eine Erzählung aus dem Reich der Toten? Vielleicht so beiläufig wie Jacques Rivette es mit dieser in mehrfacher Hinsicht aus der Zeit gefallenen Episode seines in den 1970er-Jahren unvollendet gebliebenen Zyklus „Aus dem parallelen Leben“ vorführt. Ein Mann mittleren Alters erwacht in einem Park, umgeben von Flaneuren. Eine Frau geht scheinbar zufällig vorüber; man erkennt sich wieder, der knappe Dialog scheint der Situation jedoch unangemessen: „Marie!“ „Julien!“ „Sie erinnern sich an mich?“ „Ich denke immer an Sie. Seit einem Jahr.“ Ein Jahr sei vergangen, „seit jenem Abend“. Beide versichern einander, jetzt füreinander frei zu sein. Das Wort „Erlösung“ steht im Raum, da hat Marie unvermittelt einen Dolch in der Hand, den sie gegen Julien erhebt. Schnitt. Julien erwacht in einer Kneipe, offenbar aus einem verstörenden Traum. Draußen auf der Straße begegnet er erneut Marie. Der einleitende Dialog wiederholt sich teilweise. Marie und Julien verabreden sich für den nächsten Tag in seinem Café. Doch Marie versetzt Julien. Bevor es zur nächsten, jetzt wieder überraschenden Begegnung kommt, erlebt man Julien als etwas unbeholfenen Erpresser der geheimnisvollen Madame X, die Zertifikate für chinesische Seide gefälscht hat. Viel wichtiger als das mit der Erpressung verbundene Geld scheint Julien jedoch zu sein, dass er die Spielregeln bestimmt. Doch Madame X lässt sich ebenso wenig darauf ein, wie Marie am nächsten Tag zur Verabredung erscheint. Schon befindet man sich mitten in einem der für Rivette typischen Erzähllabyrinthe, in denen Figuren unvermittelt und einer geheimnisvollen Logik folgend aufund abtreten. Mit außerordentlicher Behutsamkeit und dem Mut zur Ellipse spinnt „Die Geschichte von Marie und Julien“ ihre Fäden. Julien Müller ist ein etwas grantiger, zurückgezogen lebender Uhrmacher, der nach einer enttäuschenden Liebesgeschichte allein die Gegenwart seiner Katze „Nevermore“ (!) zuzulassen scheint. In diese Einsiedlerexistenz drängt sich mit großer Selbstverständlichkeit Marie. Sie unternimmt lange Erkundungsgänge durch Juliens immer labyrinthischer erscheinendes Haus und probiert die Kleider und Schuhe von dessen Ex-Frau Estelle an. Die Katze fungiert dabei mitunter als Pfadfinder und „zeigt“ Marie Juliens Verstecke, wo er die Gegenstände, mit deren Besitz er Madame X erpresst (ein Foto, eine Puppe und ein Zertifikat, einen Brief), aufbewahrt. Marie und Julien leben miteinander, erzählen einander Fragmente aus ihrer Vergangenheit, doch sie bleiben sich fremd. Nur beim Sex sind sie sich nah. Ansonsten scheint ihre Beziehung von einer Art absoluter Gegenwärtigkeit, die in immer neuen Anläufen begründet werden muss. Insbesondere Marie entzieht sich Julien zunehmend und richtet sich in dessen Haus ein Zimmer ein, dessen Ausgestaltung offenbar einem geheimnisvollen Plan gehorchen. Vollends mysteriös wird die „Geschichte von Marie und Julien“, als Adrienne, die Schwester der Madame X, zu Marie Kontakt aufnimmt. Dabei ist Adrienne schon seit sechs Monaten tot. Marie dagegen kann sich nicht erinnern, was sie vor der Begegnung mit Julien getan hat. Ohne Zweifel man hat es mit einer Gespenster-Story zu tun, die sich erst als abgründige Liebesgeschichte gibt, um dann zu einem Film Noir in der Tradition von Jacques Tourneur („Out of the Past“, fd 24 918) zu werden, bevor sie sich wieder in eine (unmögliche) Liebesgeschichte mit deutlichen Verweisen auf Kleists „Penthesilea“ verwandelt. Wo Küsse und Bisse einander ähneln – worauf ja auch die Hassliebe zwischen Marie und ihrem Ex- Geliebten Simon deutet –, ist Selbstmord keine Lösung. Am Erde steht (vielleicht) eine morbide Liebesmetaphysik: Nicht (mehr) erlöst werden zu wollen, ist für Marie die Chance, ihre wahre Liebe zu leben.

Es ist erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit und Souveränität es Jacques Rivette gelingt, mit einfachsten filmischen und erzählerischen Mitteln die Grenze zwischen Leben und Tod aufzuheben. Da werden redundante Dialoge ausgetauscht, die darauf zielen, eine geheimnisvolle Spannung zwischen den Figuren zu bewahren. Räume verdoppeln sich, Träume wiederholen sich, Gegenstände, die von Hand zu Hand gehen, entwickeln ein Eigenleben, erweisen sich mitunter als Botschaften aus dem Jenseits und Handlungsanweisungen zur ersehnten oder gefürchteten Erlösung. Selbst, wenn man der von Adrienne und Madame X angebotenen „Plausibilisierung“ des Geschehens folgt, bleiben logische Leerstellen, die immer wieder auf sich selbst und damit die Aufhebung der Grenze zwischen Leben und Tod verweisen. Damit verbunden ist eine konsequent entfaltete, mehrschichtige Metaphorik zu den Themenfeldern „Gedächtnis“, „Erinnern und Vergessen“ und der damit verbundenen Zeitlichkeit. Hieraus entsteht im Film eine Spannung zwischen omnipräsenter Präzision – Julien ist ein Uhrmacher – und dem permanenten Verfehlen der Figuren, die Rendezvous verpassen, sich missverständlich verabreden oder aneinander vorbei reden. Die traumhafte Atmosphäre des Films, die im Zeichen Edgar Allan Poes immer wieder Türen zur Realität hinter der Realität zu öffnen versteht, wird durch die Sinnlichkeit der Liebesszenen zwischen Emmanuelle Béart und Jerzy Radziwilowicz noch profiliert. Dass Radziwilowicz sehr zurückhaltend, fast unbeteiligt seinen oftmals pathetischen Text „aufsagt“ oder große Gesten „absolviert“, gibt der Figur etwas Verzweifeltes, selbst wenn dadurch in Kauf genommen wird, dass man darüber rätselt, warum eine Schönheit wie Marie sich von einem Mann wie Julien angezogen fühlt. Aber diese etwas gespreizte Larmoyanz älterer Männer kennt man ja auch von Woody Allen und nicht zuletzt aus den Filmen, die Drehbuchautor Pascal Bonitzer selbst inszeniert hat (u.a. „Encore“, fd 32 617). Es ist jedenfalls nicht ohne Komik zu beobachten, wie Julien allmählich und ohne großen Widerstand die Kontrolle über sein Leben verliert und zum Objekt einer Intrige wird, das unvermittelt seine Manipulierbarkeit erkennen muss. Es ist ein absoluter Glücksfall, dass Rivette sich dieses liegen gebliebenen Stoffes – die Dreharbeiten von „Marie und Julien“ mit Albert Finney und Leslie Caron wurden 1975 nach nur drei Drehtagen abgebrochen, weil Rivette sich nach dem ökonomischen Desaster von „Unsterbliches Duell“ (fd 20024) eine depressive Auszeit von zwei Jahren gönnte – noch einmal angenommen hat. Heute wirkt sein Film fast wie eine Flaschenpost aus der Hoch-Zeit des europäischen Autorenfilms, womit sich die schillernde Doppelbödigkeit des Films selbstreflexiv potenziert.

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