Als „Spider-Man“
(fd 35 439) in die Kinos kam, befanden sich die USA im Zustand des Schocks. Die Wunden, die der 11. September 2001 im amerikanischen Selbstverständnis hinterlassen hatte, waren noch frisch. Der Optimismus von Sam Raimis Comic- Adaption, sein bedingungsloser Glaube an die Grundwerte der Nation, waren in dieser Situation hoch willkommen. Die Geschichte des Durchschnittsmenschen Peter Parker, der durch den Biss einer Spinne paranormale Fähigkeiten entwickelt, die er zum Wohle der Allgemeinheit benützt, setzte die Überzeugungen eines Benjamin Franklin ins Recht: dass es jeder Mensch weit bringen kann, wenn er nur hart arbeitet und nie den Glauben an sich selbst verliert. Genau das passiert Peter Parker jedoch in der Fortsetzung. Er hadert mit seinem Schicksal und zweifelt, ob er weiterhin als Spider-Man die Welt retten will. Auf diese Weise spiegelt auch „Spider-Man 2“ die aktuelle Befindlichkeit in den USA. Der Krieg gegen den Terror hat seine moralische Rechtfertigung verloren, und die Lage im Irak droht zum zweiten Vietnam zu eskalieren, weshalb sich die Amerikaner derzeit ebenfalls die Frage stellen, ob sie der ethischen Verpflichtung, die sowohl ihr kulturelles Erbe als auch ihre militärische Macht mit sich bringen, weiterhin gerecht werden wollen.
Peter Parker empfindet seine Heldenrolle zunehmend als Last, die ihn daran hindert, sein eigentliches Leben zu führen. Seine permanenten Rettungstaten lassen ihm kaum Zeit für sein Physik-Studium. Selbst seinen Nebenjob als Pizza-Bote verliert er, da er regelmäßig zu spät ausliefert. Erst recht unerträglich ist es für Peter, dass er seiner Jugendliebe Mary Jane nicht seine Gefühle offenbaren kann; zu groß ist seine Angst, dass sie an seiner Seite ins Visier seiner Feinde geraten könnte. Mary Jane hat unterdessen aufgehört, auf ihn zu warten, und sich einem anderen Mann zugewandt. Im Grunde hat Peter damit schon ausreichend Probleme; da es sich bei „Spider-Man 2“ aber um ein Produkt für den US-Kino-Sommer handelt, bedarf es obendrein eines Erz-Schurken, der Anlass für diverse Actionszenen liefert: Doktor Octavius ist zu Beginn ein liebenswürdiger Wissenschaftler, der an einer neuartigen Methode der Energieerzeugung durch Kernfusion arbeitet. Doch der erste Probelauf mit der neuen Technologie gerät außer Kontrolle und Octavius unter den Einfluss der mechanischen Arme, die er sich zur Durchführung des Experiments umgeschnallt hatte, und deren künstliche Intelligenz nun Kontrolle über sein Bewusstsein erlangen.
Das entscheidende Duell ficht nicht Peter Parker gegen „Doc Ock“ aus, sondern das erwachsene Drama im Kern des Films gegen die unvermeidlichen Gimmicks einer Comic-Adaption. Hatte im ersten Film der Comic noch knapp gesiegt, gelingt Raimi in „Spider-Man 2“ das Kunststück, die seelischen Konflikte seines Helden konsequent in den Vordergrund zu stellen. Statt sich dem Diktat des digitalen Einheitskinos zu ergeben, verschreibt er sich noch radikaler der klassischen Kunst des Erzählens. Der Film hat kaum weniger CGI-Effekte als „Van Helsing“ (fd 36 487) oder „The Day After Tomorrow“ (fd 36 507), doch stehen die Artefakte aus dem Computer nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit, sondern im Dienst der Story – und die dreht sich weniger um den Kampf des Helden gegen das Böse als um Spider-Mans Kampf für sein wahres Ich, denn Peter Parker hat seinen Platz in der Welt noch längst nicht gefunden. In einer der Schlüsselszenen steht er vor seinem offenen Kleiderschrank und sieht sein Heldenkostüm neben seinem einzigen Jackett hängen. Spider-Man und Peter Parker sind für ihn separate Identitäten, die er zusammen mit der Garderobe wechselt; beide zu integrieren, erscheint ihm unmöglich. Doch seine geheime Existenz ist zermürbend, da sie ihm unermüdlichen Einsatz abverlangt, aber kaum Anerkennung einbringt. Umso verlockender erscheint es ihm, sich als Peter Parker in den Alltag zurückzuziehen und endlich wieder Zeit zu haben, – für sein Studium, seine Tante May und vor allem für Mary Jane, die seinen permanenten Zeitmangel als Zurückweisung interpretiert. Peters Zweifel an seiner Berufung werden schließlich so groß, dass er seine Fähigkeiten einbüßt und sein Kostüm in die Mülltonne wirft. Erst als er bei einem Versuch, Menschenleben zu retten, mangels seiner Spinnenkräfte teilweise versagt, sieht er ein, dass Spider-Man ein Teil von ihm ist, den er weder leugnen kann noch darf. So ist es nur konsequent, dass während des Showdowns mit „Doc Ock“ sein Kostüm zunehmend in Fetzen geht, bis die Maske komplett fällt.
Sam Raimi macht keinen Hehl aus den tragischen Elementen, die „Spider-Man 2“ durchziehen, vermeidet aber Pathos und Verzagtheit, um die letzte Versuchung Peter Parkers mit Humor und Leichtigkeit zu inszenieren. Das Seelendrama des Superhelden dient ihm nicht als Selbstzweck, sondern als Anlass, den ur-amerikanischen Glauben an das Individuum, seine Stärke und Integrität, zu zelebrieren. Vor diesem Hintergrund sind sowohl das mehrfach verwendete Motiv der Sonnen durchfluteten Straßenschluchten Manhattans als auch die omnipräsenten US-Flaggen in Tante Mays kleiner Siedlung nicht als blinder Patriotismus zu verstehen. Sie sind vielmehr Embleme eines nationalen Mythos, der für Raimi seine moralischen Implikationen noch nicht verloren hat.