Feel Like Going Home
Musikfilm | USA 2003 | 83 Minuten
Regie: Martin Scorsese
Filmdaten
- Originaltitel
- FEEL LIKE GOING HOME
- Produktionsland
- USA
- Produktionsjahr
- 2003
- Produktionsfirma
- Reverse Angle International/Vulcan/Cappa/Jigsaw
- Regie
- Martin Scorsese
- Kamera
- Arthur Jafa · Lisa Rinzler
- Schnitt
- David Tedeschi
- Länge
- 83 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 0; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 12.
- Genre
- Musikfilm | Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Umso überraschender, dass Scorsese im weiteren Verlauf von „Feel Like Going Home“ diskret in den Hintergrund tritt und seine gelegentlichen Off-Kommentare auf objektive Informationen beschränkt. Selbst wenn er gegen Ende noch einmal Stellung bezieht, bedient er sich der Worte eines anderen, die aus dem Off eingespielt werden: „Um Dich selbst zu kennen, musst Du Deine Vergangenheit kennen“, lautet der Satz, den Corey Harris schon zu Beginn aussprach. Harris, der zu den renommiertesten Blues-Musikern der jüngeren Generation gehört, ist es auch, der die „persönliche Reise“ unternimmt, die den Film strukturiert. Im Auto sieht man ihn ins Mississippi Delta fahren, ins Geburtsland des Blues. Dort spricht er mit dem alten Musiker Sam Carr, dem Sohn des legendären Robert Nighthawk; mit Kollege Taj Mahal besichtigt er die ehemalige Plantage, auf der Muddy Waters’ Karriere ihren Ausgangspunkt nahm; schließlich führt die Reise zu den Wurzeln des Blues nach Westafrika, wo er u.a. Salif Keita und Ali Farka Touré begegnet.
Der Blues sei das einzige, was man den Schwarzen niemals wegnehmen konnte, sagt der Afroamerikaner Harris zu Beginn. In diesem Satz scheint für einen Moment das Dilemma auf, das untergründig im Film mitschwingt und einige auffallende Leerstellen erklärt; dass nämlich spätestens seit dem Rock’n’Roll die Aneignung schwarzer Musik durch Weiße ein Politikum darstellt – und zwar nicht nur die Aneignung durch weiße Interpreten, sondern auch durch weiße Hörer und Historiker. So ist wohl zu erklären, warum Scorsese (wie sein Drehbuchautor, der Musikhistoriker Peter Guralnick) Gelegenheiten verstreichen lässt, die förmlich dazu einladen, die eigene Begegnung mit dem Blues zu reflektieren. Wenn Fernsehaufnahmen aus den 1950ern eingespielt werden, die ein weißes Studiopublikum beim etwas ungelenken Tanz zu einem Auftritt von John Lee Hooker zeigen, dann bemerkt Scorsese lapidar, dass diese Musik etwas ganz Neues gewesen sei. Dabei lässt er es bewenden – ohne mit einem Wort zu erwähnen, dass er selbst das Interesse am Blues über eben diesen Umweg des Rock’n’Roll fand. Später sieht man aktuelle Aufnahmen, die ein schwarzes Blues-Publikum beim Tanz zeigen. Doch zu den Ironien dieser Musik gehört, dass sie in der Gunst der Afroamerikaner mindestens seit den 1960er-Jahren von anderen Genres abgelöst wurde. Derweil waren es die Kinder des weißen Mittelstandes, die, zuerst begeistert von amerikanischem Folk, später vom Rock, längst vergessene Blues-Musiker wieder entdeckten. Das führte mitunter dazu, dass in den 1960er-Jahren ergraute Künstler plötzlich wieder Platten aufnahmen. Zu den anrührendsten Momenten des Films gehören Aufnahmen von Son House, der berichtet, warum er viel Jahre zuvor die Musik an den Nagel gehängt hatte: Nachdem mehrere seiner Kollegen jung gestorben waren, habe er es einfach mit der Angst zu tun bekommen, dass es ihn auch bald erwischen werde.
Von Charley Patton, einem der legendären früh Verstorbenen, ist nur ein einziges Foto überliefert, weshalb sich Scorsese damit behelfen muss, „High Water Everywhere“ mit zeitgenössischen Filmaufnahmen von Überschwemmungen zu illustrieren. Im Falle von Robert Johnson werden dagegen schlicht die beiden überlieferten Fotos des Künstlers, eine Originalschallplatte und das Studioformular mit den Aufnahmedaten präsentiert. So wird augenfällig, wie grotesk die Diskrepanz zwischen dem schier unermesslichen Einfluss dieses Titans populärer Musik und dem geringen Wissen über ihn ist. Die genannten Namen geben einen Eindruck davon, dass die Auswahl der Musiker, im Gegensatz zu Scorseses Film über das amerikanische Kino, den großen Namen vor etwaigen Geheimtipps den Vorzug gibt. Eine Ausnahme ist Otha Turner, der erst in den 1990ern zwei LPs einspielte, als vielleicht letzter Interpret eines Subgenres, das wohl auch vielen Blues-Fans unbekannt ist. Mehr als der eigentliche Blues lassen diese atemberaubenden polyrhythmischen Klänge, die mit Basstrommeln und primitiven Flöten erzeugt werden, die afrikanischen Wurzeln erahnen, denen Harris im zweiten Teil des Films nachspürt. Dann gibt es, während sich Scorsese sonst jedes Anflugs von filmischer Virtuosität enthält, immerhin eine Sequenz, die mit den Mitteln der Montage suggeriert, welche Vielfalt von Eindrücken auf Harris einstürmt, als er Ali Farka Touré begegnet. Touré bringt auch den ungelösten Widerspruch im Zentrum des Films explizit zum Ausdruck. Scorsese zitiert zuvor als eine Art Fazit den weißen Musikarchivar Alan Lomax, der die ersten Aufnahmen von Muddy Waters und anderen Blues-Musikern machte und später weltweit musikalische Dokumente für die Nachwelt sicherte. Als zentrale Nebenfigur ist Lomax immer wieder im Film kurz in Erscheinung getreten und repräsentiert implizit, wahrscheinlich stellvertretend für Regisseur und Autor, eine universalistische Perspektive auf den Blues. Touré reklamiert den Blues indes vehement für einen schwarzen Kulturalismus: Es gebe keine schwarzen Amerikaner, nur Schwarze in Amerika, gibt er dem Gast aus Übersee mit auf den Heimweg.