Drama | Frankreich/Italien/Großbritannien/USA 2003 | 114 Minuten

Regie: Bernardo Bertolucci

Ein amerikanischer Student lernt im Mai 1968 in Paris zwei Geschwister kennen, mit denen ihn bald eine intensive "menage à trois" verbindet. Unverkrampft schaut der Film den Dreien beim Leben zu, wobei ihre Alltagshandlungen als Akte der Befreiung in einem nahezu paradiesischen Urzustand inszeniert werden. Dabei ist der Film keine nostalgische Rückbesinnung auf eine bewegte Zeit, sondern eine kritische Liebeserklärung an das Kino als Ort der Aufklärung, das in immer neuen Wendungen von der Sehnsucht nach Leben erzählt. - Sehenswert ab 18.
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Filmdaten

Originaltitel
I SOGNATORI | THE DREAMERS
Produktionsland
Frankreich/Italien/Großbritannien/USA
Produktionsjahr
2003
Produktionsfirma
Fiction Film/Hachette/Peninsula/Recorded Picture/Kushner-Locke Comp./Murakami-Wolf Prod.
Regie
Bernardo Bertolucci
Buch
Gilbert Adair
Kamera
Fabio Cianchetti
Schnitt
Jacopo Quadri
Darsteller
Michael Pitt (Matthew) · Louis Garrel (Theo) · Eva Green (Isabelle) · Robin Renucci (der Vater) · Anna Chancellor (die Mutter)
Länge
114 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 18.
Genre
Drama | Historienfilm | Liebesfilm
Externe Links
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Heimkino

Die Extras umfassen u.a. einen dt. untertitelbaren Audiokommentar des Regisseurs, des Drehbuchautors und des Produzenten.

Verleih DVD
EuroVideo/Concorde (16:9, 1.78:1, DD5.1 engl./dt.)
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Diskussion
„Non, je ne regrette rien“, singt die Piaf, und man darf sicher sein, dass dies auch für Bernardo Bertolucci gilt. In seinem neuen Werk „Die Träumer“ erklingt das berühmte Chanson ganz am Ende eines Films, der zuvor voller Rock und Pop ist, die Wildheit des Pariser Mai 1968 rekapituliert, aber auf eine Weise, wie man es noch nie gesehen hat. Denn Bertolucci, der oft genug erklärte, dass man ein anderes Verhältnis zu dieser Epoche des Aufbruchs finden müsste, dass es nicht mit der üblichen Verdammung oder Historisierung getan sei, erliegt selbst nicht der Versuchung, die eigene Jugend einfach zu beschwören: „Die Träumer“ ist vielmehr eine ziemlich unbequeme Selbstbefragung.

Ein Amerikaner in Paris. Matthew ist gekommen, um zu studieren, doch es dauert nicht lang, da verbringt er seine Zeit im Kinosaal der Cinémathèque française des Henri Langlois, und nur wenig später ist er schon mitten drin, im wilden Mai des Jahres 1968. Die damalige Revolte begann, heißt es, mit dem Versuch, Langlois seines Amtes zu entheben – und mit dem letztlich erfolgreichen Protest von Studenten und Filmemachern steigt Bertolucci ein: Man begegnet Matthew, der auch Off-Erzähler des Films ist, zunächst als staunendem Beobachter des Geschehens. In einer schönen kleinen Szene sieht man Schwarz-Weiß-Aufnahmen von François Truffaut bei einer kurzen Rede, dann in Farbe Jean-Pierre Léaud, der dessen Worte zu Ende führt. An diesem Tag trifft Matthew die schöne Isabelle und ihren Bruder Theo, beide Kinder aus linksliberalem Intellektuellenmilieu. Kino, Politik und Lebensgefühl verschmelzen schon in diesen ersten Szenen wie in den Gesprächen der Twens; schnell freunden sie sich miteinander an, und als die Eltern der Geschwister für längere Zeit aufs Land fahren, wird Matthew eingeladen, in die Wohnung einzuziehen. Nun beginnt eine merkwürdige „menage à trois“. Viel Action gibt es nicht, und doch passiert eine Menge. Vor allem schaut der Film seinen Figuren beim Leben zu: aufstehen, baden, essen, lieben, reden, Filme gucken. Man sieht viel nackte Haut; ganz unverklemmt schildert „Die Träumer“ gerade zu Beginn das Leben in der Wohnung als paradiesischen Zustand der Seligkeit. Dabei ist dies kein bisschen Altherrenfantasie, vielmehr jugendlich cool und gelassen, weit entfernt von der hysterischen Sexualität, die 30 Jahre zuvor „Der letzte Tango in Paris“ (fd 18 266) prägte und den Film zu einem der wichtigsten Dokumente der Epoche machte. „Die Träumer“ ist nun die Reflexion über sie. Die erwähnte „menage à trois“ ist dabei eine geistige, die Kinoerfahrung deren Vermittlungsinstanz. Während es zum Sex zwischen Isabelle und Matthew kommt, bleibt die inzestuöse Komponente der Geschwisterbeziehung ebenso wie die homosexuelle zwischen Theo und Matthew zum Ärger mancher Tugendwächter der sexuellen Korrektheit nur latent.

Dafür inszeniert Bertolucci die Erotik des Kinos umso schwelgerischer, pathetischer, im guten Sinne nostalgisch – nämlich als Erinnerung an ein Kino, das nicht Unterhaltung und Eskapismus im Sinn hatte, sondern Befreiung. Werke wie „Außer Atem“ (fd 9 287) von Godard, Bressons „Mouchette“ (fd 14 934), aber auch „Schock- Korridor“ (1963) von Samuel Fuller werden zur Initiation grundlegender Veränderung – ein Traum, den die Filmemacher von heute offenbar längst begraben haben. Bertoluccis Umgang mit dem Kino ist ebenso klug wie leidenschaftlich. Immer wieder schneidet er kurze Originalszenen ein, spielt nach oder parodiert, wobei es bei all dem immer darum geht, Gedanken sichtbar zu machen. Die Zitate sind keine geschmäcklerischen Insider-Freuden, sondern werden als solche benannt und kenntlich gemacht; es soll ein anderer Umgang mit Kino vorgeführt werden – die Drei denken Kino, leben Kino, sind Kino.

Bei aller Verehrung holt die Regie zugleich die Idole vom Sockel und versucht vorsichtige Neudefinitionen. Etwa Greta Garbo, die sich in „Königin Christine“ (fd 1 372) lasziv um eine Säule/Phallus schlingt, kommentiert das Geschehen, wie dieses umgekehrt den Auftritt der Diva. Für manche mag es einem Sakrileg gleichkommen, quasi „heilige“ Szenen wie das Rennen durch den Louvre aus Godards „Außenseiterbande“ (fd 13 450) nachzustellen, und mitunter ihrer Bedeutung zu entkleiden. Doch gerade hier zeigt sich die subtile Stärke von Bertoluccis Film. Wenn er – während eines Tischgesprächs wird verbrannte Ratatouille serviert – unaufdringlich Pasolinis „Die 120 Tage von Sodom“ (19 663) zitiert, in dem die Personen unter anderem gezwungen werden, Exkremente zu essen, dann erklärt der einstige Assistent Pasolinis mit dieser ironisierenden Volte auch dessen puritanische Provokationsposen für überholt. Weitaus wichtiger für Bertolucci aber ist, dass dieses Kino etwas mit Verführung zu tun hat. Dazu gehört, dass Theo einmal vor einem Marlene-Dietrich-Foto onaniert. Dass er dies gezwungenermaßen vor den anderen tut, weil er beim Szenenraten verloren hat, ist Bertoluccis Kommentar zu 1968: Lust und Zwang liegen nahe zusammen. Der Regisseur erzählt den „Mythos 1968“ nicht als Geschichte der Politisierung und öffentlicher Demonstrationen, der Barrikadenkämpfe und Polizeischlägereien, sondern als die einer eher privaten, oberflächlich betrachtet unpolitischen Entdeckungsreise. Elegant werden innere und äußere Vorgänge miteinander verschränkt. Fast der ganze Film verharrt kammerspielartig im mit allen repräsentativen Insignien und Zitaten ausgestatteten bürgerlichen Salon als dem eigentlichen Ausgangspunkt der Revolte und beschreibt einen psychoanalytischen Kontext, scheut auch vor einer umgedrehten Urszene – „unschuldige“ Eltern überraschen die Kinder beim Sex – nicht zurück.

So sympathisch die drei in ihrer Neugier und Entdeckungslust, auch in ihrer Dekadenz sind, so präzis zeigt Bertoluccis trotzdem Wahn und Tristesse dieser mitunter schrecklichen Kinder: Untergründige Trauer und Sehnsucht liegt in allen Blicken. Konsequenterweise endet es mit dem letzten bürgerlichen Ausweg: dem Selbstmord – auch ein Filmzitat, aus „Mouchette“ (fd 14 934). Da aber fliegt gerade noch rechtzeitig ein Pflasterstein durchs Fenster, ein Luftzug verweht den giftigen Dunst und lässt den Lärm der Straße hinein. Die drei ziehen hinaus und verlieren sich in der Menge. Auch hier vermeidet „Die Träumer“ das Abgegriffene und Bekannte, mit dem man 1968 in immer wieder den gleichen Bildern schildert; nur beiläufig beschwört der Film die Ikonen jener Epoche, auch musikalisch, indem er zwar die Doors und Jimi Hendrix spielt, aber unbekanntere Songs. Es ist beglückend, zu verfolgen, wie Bertolucci das Lebensgefühl jener Jahre feiert, sich manchmal geradezu in ihm verliert und unter der Hand alte Ideale beschwört.

Ein wenig fragwürdig bleibt allenfalls die Hauptfigur. Denn während die Geschwister einem Film von Cocteau oder des frühen Bertolucci entsprungen sein könnten, ist Matthew sowohl in seinem skeptischen Realitätssinn als auch in seiner politischen Naivität und seinem Moralismus ein heutiger Zeitgenosse. Der Moralismus zeigt sich am besten darin, dass Matthew jedes Tabu zu brechen bereit ist, sich aber entsetzt in einen All-American-Boy zurückverwandelt, als man ihm die Schamhaare rasieren möchte. Und seine unreflektierte, rein instinktive Ablehnung jeder Gewalt, selbst gegen Sachen, ist so sympathisch wie unhistorisch, in ihrer Niedlichkeit allerdings absolut zeitgemäß. Ansonsten verzichtet Bertoluccis Film darauf, den Aufbruch als die Spinnerei einer irregeleiteten Jugend abzutun oder ihn in Extremismus und Terror enden zu lassen. Ganz anders als Louis Malle, der den Pariser Mai als absurde Komödie inszenierte („Eine Komödie im Mai“, fd 28 193), nimmt Bertolucci das Pathos von einst wohltuend ernst, ohne in depressive Geschichtslektionen zu verfallen; sein Film bleibt unvorhersehbar und findet immer wieder neue Wendungen. Am Ende steht der Auszug aus dem Paradies, aus der Verwechslung von Kino und Leben, steht die Befreiung von einer Bürgerlichkeit, nach der sich heute wieder viele sehnen. Ihnen hält Bertolucci den Spiegel vor; doch nur um etwas zu zeigen, nicht um zu beweisen.

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