Die Geschichten von Pixar sind an Abstrusität kaum noch zu überbieten. Da wittert ein guter alter Stoff-Cowboy in einem einem Hightech-Astronauten harte Konkurrenz um den Rang des Lieblingsspielzeugs („Toy Story“, fd 31 830); eine kleine Ameise probt den Aufstand gegen gefräßige Heuschrecken und plant, einen Abschreckvogel zu basteln („Das große Krabbeln“, fd 33 530); die monströsen Ungetüme aus den kindlichen Albträumen leben tatsächlich hinter Kleiderschranktüren, nur haben sie ihrerseits Angst vor kleinen Kindern („Die Monster AG“, fd 35 258). Doch so absurd die Geschichten erscheinen mögen, so einfach ist ihr Prinzip: Was wäre, wenn alle so handeln, leiden und leben würden, wie wir Menschen? Spielzeuge mit Minderwertigkeitskomplexen, Ameisen mit mangelndem Durchsetzungsvermögen, Monster mit Urängsten. Die Filme des Studios, das Computeranimation zu einer ernstzunehmenden filmischen Gattung geformt hat, verblüffen und begeistern, weil sie so einfach und dennoch so unmöglich erscheinen.
Das behinderte Kind eines Clownfisches wird von Hobbytauchern gefangen und in ein Aquarium „entführt“, woraufhin sich der Vater auf die Suche nach dem Sohn macht. Wie das gehen soll? Ganz einfach: Der Vater schwimmt Richtung Hafen, und der Sohn ergreift bei nächstbester Gelegenheit die Chance, in einem Wasserbeutel aus dem Fenster zu rollen, über die Küstenstraße und das Hafenpier zu robben, im Wasser angekommen, den Beutel zu durchstoßen und auf seinen Daddy zu treffen. So oder so ähnlich könnte ein erstes Gespräch zwischen Produzent John Lasseter und Drehbuchautor/ Regisseur Andrew Stanton gewesen sein, als es um die Entwicklung des neuen Filmstoffs ging. Sicherlich wäre der Ideengeber in jedem anderen Studio ausgelacht worden, doch bei Pixar geht man solchen Stoffen nicht aus dem Weg, sondern wächst mit der Lösung an anstehenden Probleme. Woher soll der Vater wissen, wo der Taucher wohnt? Wie kann ein kleiner Clownfisch seine sichere Seeanemone verlassen und über weite Strecken durchs offene Meer schwimmen? Wie nimmt der Vater Kontakt zu seinem Sohn auf? Woher weiß der Sohn, dass sein Vater nach ihm sucht? Und wie kommt der Sohn aus seinem Gefängnis wieder zurück in die Freiheit des Meeres? Das sind nur einige Fragen, vor denen man kapitulierte, sondern höchst eigenwillige Lösungen fand, die die Sache mitunter erst einmal noch aussichtsloser zu machen scheinen. So hat Marlin, der Vater des entführten Nemo, in dem Paletten-Doktorfisch Dorie seinen einzigen Verbündeten, der zwar aus unerfindlichen Gründen die Sprache der Wale beherrscht und menschliche Schriftzeichen entziffern kann, dafür aber unter einer chronischen Schwäche des Kurzzeitgedächtnisses leidet und sich nichts merken kann. Dass die beiden dennoch auf die Spur Nemos kommen, ist eines der vielen Wunder des Films, die bei genauerer Betrachtung aber gar nicht so unwahrscheinlich scheinen. Auch Nemo werden im Aquarium allerlei skurrile Gefährten zur Seite gestellt, von denen jeder eine Kleinigkeit dazu beisteuern kann, dass das Unmögliche wahr wird.
Wie in einem guten Krimi ist die Handlungsstruktur aufgebaut: Immer, wenn es am spannendesten wird, wechselt der Ort des Geschehens von Vater zu Sohn und umgekehrt. Das ist nur für Augenblicke enervierend, weil sich beide Handlungsebenen schon binnen kürzester Zeit zu einem fesselnden Abenteuer hochschaukeln. Sowohl Tempo und Timing als auch die (sehr sorgfältig und stimmig synchronisierten) Dialoge leisten dabei wertvolle Dienste. Besonders viel Wert wurde auf die ausgewogene Dosierung von Wortwitz und Slapstick-Elementen auf der einen Seite, Schock und Dramatik auf der anderen Seite gelegt. Die Regisseure Andrew Stanton und Lee Unkrich verhätscheln ihre jungen Zuschauer in keiner Weise und muten ihnen manches heftige Spannungselement zu – freilich in der Gewissheit, dass Kinder damit umgehen können. Im Kontext einer Abenteuergeschichte funktioniert nun mal keine Entspannung ohne Spannung; Analogien zu zeitlosen Meisterwerken wie „Bambi“ (fd 1016) werden hier wohl sehr bewusst gezogen. Dies hat nebenbei zur Folge, dass auch Erwachsene die gleiche emotionale Achterbahnfahrt erleben wie Kinder – schön, wenn sich beide Zielgruppen nach der Vorstellung auf gleichem Niveau über das Gesehene austauschen können. Wie im selten gewordenen „guten alten Abenteuerfilm“ üblich, erfährt man in Nebensätzen einiges über die Randbedingungen – im Falle von „Findet Nemo“ über das Meer. Mit erstaunlicher Akribie und Ernsthaftigkeit nehmen die Autoren die Geheimnisse der Unterwasserwelt auf und bauen sie in die Handlung ein. Natürlich nicht ohne Augenzwinkern: So findet man auch hier wieder allzu Menschliches und erlebt den entwaffnenden Charme von Haien in einer „Vegetarierselbsthilfegruppe“. Dass auch Meisterliches einen Makel haben kann, sieht man indes im letzten zu bestehenden Abenteuer. Im Epilog meint der Film es dann zu gut mit seiner Moral und zelebriert das „Nur gemeinsam sind wir stark“-Leitmotiv ein wenig zu plakativ; völlig unnötig eigentlich, weil die sympathische Botschaft um Mut, (Selbst-)Vertrauen und Freundschaft, väterliche Zuneigung und Fürsorge, vor allem aber um die „Kunst“ des Loslassens und Selbstständigwerdens über die gesamte Dauer des Films bereits wohl dosiert wurde und sich entsprechend gut vermittelte. Dennoch ist „Findet Nemo“ ein würdiger fünfter Teil in der Reihe abstrus-turbulenter Filme, die derzeit niemand so souverän beherrscht wie Pixar.