Ein 13-jähriges Mädchen mit pubertären Nöten und der Angst vor dem Erwachsen- und Verlassenwerden und ein 16-Jähriger, der seine Eltern bei einem Autounfall verlor, begeben sich auf eine Flucht, die geografisch am Unfallort in Frankreich endet, deren eigentliches Ziel aber unverbrüchliche Freundschaft und das Erlebnis von Nähe sind. Road Movie über die Schwierigkeit, Einsamkeit zu überwinden und erwachsen zu werden. Mit bescheidenen, aber klug eingesetzten Mitteln inszeniert, besticht der Film durch großes Einfühlungsvermögen und überzeugende junge Darsteller. Klug gesetzte Filmzitate fügen sich nahtlos in die Initiationsgeschichte ein.
- Sehenswert ab 14.
Mutanten
- | Deutschland/Schweiz 2002 | 82 Minuten
Regie: Katalin Gödrös
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Filmdaten
- Originaltitel
- MUTANTEN
- Produktionsland
- Deutschland/Schweiz
- Produktionsjahr
- 2002
- Produktionsfirma
- Egoli Tossell Film/Jana Kohlmann/ZDF/Euroarts
- Regie
- Katalin Gödrös
- Buch
- Katalin Gödrös
- Kamera
- Sebastian Edschmid
- Musik
- Kirsten Kunrath
- Schnitt
- Uta Schmidt
- Darsteller
- Karoline Teska (Paula) · Jacob Matschenz (Jens) · Sabine Timoteo (Charlotte) · Peter Lohmeyer (Paulas Vater) · Barbara Philipp (Paulas Mutter)
- Länge
- 82 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Diskussion
Am liebsten versteckt sie sich hinter der dunklen Sonnenbrille ihrer Mutter. Insbesondere, wenn der Nachhauseweg durch die schmucke Reihenhaussiedlung zum Spießrutenlauf zu werden droht, wenn freundlich lächelnde Nachbarn sie scheinbar grundlos angrinsen. Doch die 13-jährige Paula kennt die Gründe für dieses Verhalten: Die unentwegt lächelnden Menschenhüllen sind Mutanten, die des Nachts ihres Selbsts beraubt wurden. Damit dies dem pubertierenden Mädchen, das erhebliche Probleme mit seinem Scheidungsvater hat, nicht auch widerfährt, hat das Kind ein Selbsthilfe-Stressprogramm entwickelt: Batterien von Weckern sorgen dafür, dass Paulas Schlaf stündlich unterbrochen wird und kein Außerirdischer Zugriff auf ihre Persönlichkeit erhält. Jens hat ganz andere Probleme. Der 16-Jährige verlor seine Eltern bei einem Autounfall in Frankreich, wird von der Fürsorge zur Wartung eines Freibads herangezogen und gerät in Panik, als er seinen Erzieher im Streit niederschlägt. Paula wird Zeugin dieses Vorfalls, bei dem offensichtlich ein Mutant ausgeschaltet wurde, und entert Jens‘ Fluchtfahrzeug. Der ist nicht begeistert über die Begleitung der Göre mit ihren verschrobenen Ideen, doch da Paula sich nicht so leicht abschütteln lässt, und an ihrer „Mutanten“-Theorie vielleicht etwas dran ist, setzen die beiden ihre zunächst ziellose Flucht gen Süden fort. Wobei es Paula versteht, die emotionalen Bande so eng wie möglich zu knüpfen, indem sie ihren Vater kurzerhand für tot erklärt. Über Mundraub und den Diebstahl mehrerer Autos kommt man sich näher, und bald kristallisiert sich der Fluchtpunkt der Reise heraus: Jens will in Frankreich jenen Brückenpfeiler aufsuchen, an dem seine Eltern den Tod fanden. Unterwegs treffen sie auf Charlotte, eine junge Erwachsene mit einem erheblichen Elternproblem, die sich als „Nachwuchsmutantin“ entpuppt. Doch diese Bewährungsprobe schweißt die verlassenen Kinder nur enger zusammen, bis am Ziel der Flucht Paulas Vaterlüge und Jens‘ Planlosigkeit noch einmal alles in Frage stellen. Der Ausflug in die Selbständigkeit endet im Kreisverkehr, der die beiden ins angrenzende Maisfeld katapultiert, wo sich sich die tief empfundene Freundschaft bewähren kann.
Der Erstlingsspielfilm der in Zürich geborenen ungarischstämmigen Regisseurin Katalin Gödrös (geb. 1969) ist ein kleiner Glückfall: ein einfühlsamer Film über pubertäre Nöte und die Gefühle des Verlassenseins, die sich in Aggressionen entladen, die vordergründig zwar nach außen gerichtet sind, grundlegend jedoch selbstzerstörerische Tendenzen haben. Als Hoffungsschimmer am Horizont zeichnet Gödrös das Idealbild einer unumstößlichen Freundschaft, die jenseits kindlicher Blutsbrüderfantasien angesiedelt ist, aber auch keine Begehrlichkeiten kennt, sondern die es gestattet, Nähe auszuhalten und zu akzeptieren. Wenn sich Paula und Jens im gestohlenen Caravan gegenüber sitzen und sie fragt: „Bist Du jetzt mein Freund?“, erreicht die junge Regisseurin mit einfachen Mitteln einen Moment von ungeahnter Eindringlichkeit und ist am eigentlichen Ziel ihrer Filmreise angelangt: Heimat. Wie jedes Road Movie, das sich und sein Genre ernst nimmt, wird „Mutanten“ von einer gewissen Lakonie beherrscht, die auch selbstironische Töne anschlägt. Bei genauerem Hinsehen offenbart der Film jedoch auch einen großen Zitatenschatz, der nie um seiner Selbst willen bemüht wird, sondern zweck- und zielgerichtet eingesetzt ist. Verschiedene Einstellungen erinnern an John-Ford- Western, der frühe Wim Wenders mit seinen rastlosen Road Movies ist allgegenwärtig. Als die Kinder ihre Suche beenden und sich finden, jeder ein Stück von sich und jeder einander, ist folglich auch die Reise für die beiden Zierfische beendet, die Paula von ihrer Mutter geschenkt bekam und die im Rucksack des Mädchens in einem Plastikbeutel im Kreis schwammen. Suche kann nur nach vorn gerichtet sein, nicht im Kreis geschehen.
Auch das Werk eines anderen deutschen Filmemachers wird zitiert: Heiner Carows „Die Legende von Paul und Paula“ (fd 18 775), auch eine Fluchtgeschichte, wenn auch ohne große Ortsveränderung, stand offensichtlich Pate. Wenn Jens im strömenden Regen vor der Telefonzelle übernachtet, aus der Paula ihre Eltern angerufen und sich Rückversicherung geholt hat, dann ist das durchaus Winfried Glatzeder, der sich in Paulas Treppenhaus einrichtet, um eine Verbindung mit dem viel zu alten Fred Delmare zu verhindern; und wenn sich die Kinder nach allen Abenteuern erschöpft im Maisfeld aneinander kuscheln, einschlafen und der Junge „Jens und Paula“ murmelt, dann ist das ein deutlicher Hinweis auf die DEFAFilmlegende. So nähert sich der ebenso bewegende wie durchdachte Film mit bescheidenen, klug eingesetzten Mitteln ebenso Wahrheiten an wie großen Vorbildern.
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