Michael Winterbottom rekapituliert ebenso facettenreich wie unterhaltsam die höchst produktive Geschichte der Musikszene Manchesters zwischen den Jahren 1976 (Punk) und 1992 ("Rav-o-lution") und brennt dabei ein Feuerwerk an filmischen Einfällen ab. Erzählt aus der Perspektive des Impresarios und Lokalfernseh-Moderators Tony Wilson (1950-2007), verbinden sich Spielszenen, Dokumentarmaterial, Film im Film, Cameo-Auftritte bekannter Musiker und fliegende Untertassen mit viel Selbstironie zu einer Melange, bei der Dokument und Legende übergangslos ineinanderfließen. (O.m.d.U.)
- Sehenswert ab 16.
24 Hour Party People
Biopic | Großbritannien/Frankreich/Niederlande 2002 | 112 Minuten
Regie: Michael Winterbottom
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Filmdaten
- Originaltitel
- 24 HOUR PARTY PEOPLE
- Produktionsland
- Großbritannien/Frankreich/Niederlande
- Produktionsjahr
- 2002
- Produktionsfirma
- Revolution Films/The Film Consortium/WAVEPictures/Baby Cow Prod./Channel Four Films
- Regie
- Michael Winterbottom
- Buch
- Frank Cottrell Boyce · Andrew Eaton
- Kamera
- Robby Müller
- Musik
- Sex Pistols · Happy Mondays · The Buzzcocks · New Order · Marshall Jefferson
- Schnitt
- Trevor Waite
- Darsteller
- Steve Coogan (Tony Wilson) · John Thompson (Charles) · Lennie James (Alan Erasmus) · Shirley Henderson (Lindsay Wilson) · Sean Harris (Ian Curtis)
- Länge
- 112 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 16
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Biopic | Drama | Musikfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Die umfangreichen Extras enthalten u.a. originell produzierte, informative, dt. untertitelbare Audiokommentare u.a. mit Tony Wilson, Steve Coogan und Produzent Andrew Eaton, ein Feature über Tony Wilson und die Dreharbeiten, ein Porträt über Regisseur Michael Winterbottom (24 Min.) sowie ein 24-seitiges Booklet in einer schön gestalteten Edition. Die Edition ist mit dem Silberling 2008 ausgezeichnet.
Diskussion
Da verstehe noch einer die deutschen Kinofilmverleiher. Da drehte der renommierte britische Filmemacher Michael Winterbottom im Jahr 2002 einen, zugegeben, ziemlich irrwitzigen und insiderhaften Film (man mag sich gar nicht ausmalen, was deutsche Fördergremien oder Fernsehsender aus solch einem Stoff machen würden) über die höchst produktive Geschichte der Musikszene Manchesters zwischen 1976 (Punk) und 1992 („Rav-o-lution“); und zwar nicht etwa zufällig, sondern gewissermaßen auf dem Wellenkamm des um 2001 einsetzenden umfassenden Post-Punk-Revivals. Was gibt es da alles zu erzählen! Die Geschichte vom allerersten Auftritt der Sex Pistols in Manchester, den nur 42 Zuschauer sahen, von denen aber jeder – so die Legende – etwas Visionäres in Bewegung setzte – abgesehen vielleicht von Mick Huckhall, bei dem es nur zur Retro-Soul-Kapelle Simply Red reichen wird (so ist der Tonfall von „24 Hour Party People“). Mehr Geschichte(n): Vom legendären „Factory Label“, das Bands wie Joy Division, The Durruti Column, New Order, A Certain Ratio eine Heimat und vor allem völlige künstlerische Freiheit bot, später der legendäre, selten Profit abwerfende „Hacienda“-Club, der spät noch zum Zentrum der „Madchester-Rav-o-lution“ werden sollte, mit Bands wie Happy Mondays, mit Drogen, Waffen, Enthusiasmus, Exzesse und originellen Geschäftsethiken galore. Jeder Popmusik-Fan, der „24 Hour Party People“ seinerzeit auf Festivals sah, kam angesichts seines mit viel Witz und Augenzwinkern vorgetragenen Gestus’ aus dem Schwärmen nicht mehr heraus – und dann kommt dieser todsichere Kultfilm hierzulande tatsächlich nicht in die Kinos!
Michael Winterbottom brennt mit „24 Hour Party People“ ein Feuerwerk an filmischen Einfällen ab, das es mit Richard Lesters Musikfilmen in den 1960er- Jahren spielend aufnehmen kann. Er erzählt seine Geschichte von „Madchester“ aus der Perspektive des Impresarios und Lokalfernseh-Moderators Tony Wilson (1950-2007), betont britisch und spleenig gespielt von Steve Coogan. Gleich zu Beginn des Films sieht man Wilson bei der Arbeit: Für den Fernsehsender muss er mit einem Gleitschirm fliegen und kommt bei der Landung, selbstverständlich, zu Fall. So eine Szene implementiert dem Film automatisch einen metaphorischen Subtext. Sagt Coogan direkt in die Kamera und nennt als Stichwort nur „Ikarus“. Wem das jetzt nichts sagt, der müsse sich vorwerfen lassen, zu wenig zu lesen. Später werden noch das Rad der Geschichte und die Doppelhelix in diesem Sinne als poptheoretische Metaphern eingeführt. Es gibt Spielszenen, Dokumentarmaterial, Film im Film, Cameo-Auftritte bekannter Musiker wie Mark E. Smith (The Fall) oder Howard Devoto (Magazine), fliegende Untertassen, viel Selbstironie und schließlich sogar einen Kurzauftritt Gottes, der nicht nur wie Wilson aussieht, sondern auch dessen Musikgeschmack im Großen und Ganzen teilt und einige treffende Repertoire-Tipps auf Lager hat.
Winterbottom hält es mit John Ford: „When you have to choose between the truth and the legend, print the legend!“ Selbst, wenn der, der in der Legende eine zentrale Rolle spielt, in die Kamera kommentiert, er könne sich daran beim besten Willen nicht erinnern. Durch die eigentümliche Verspätung, mit der „24 Hour Party People“ jetzt via DVD einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, ist es jetzt immerhin möglich, Winterbottoms luzide Erzählung der Geschichte von Joy Division und des Sängers Ian Curtis mit Anton Corbijns Version („Control“, fd 38 519) abzugleichen, was Corbijns brave Hagiografie noch älter aussehen lässt. Immerhin ist die Zwei-DVD-Edition von „24 Hour Party People“ derart randvoll mit Audiokommentaren von Tony Wilson selbst, von Steve Coogan sowie von Produzent Andrew Eaton, mit diversen Interviews, 24 aus der Kinofassung herausgeschnittenen Szenen, einem Winterbottom-Porträt sowie einem informativen Booklet, dass man dies als Wiedergutmachung angesichts der Schlafmützigkeit verstehen kann. Dass man auf die DVD-Edition gespannt sein durfte, hatte Steve Coogan bereits im Film selbst versprochen. „Er“ hat Wort gehalten. Wie man es auch dreht und wendet: „24 Hour Party People“ ist einer der zehn schönsten Filme dieses Jahrzehnts!
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