Nelken für die Freiheit

Romain Antony | 29.04.2024

Der Film folgt fiktional dem Ablauf des Putsches, der von mehreren Capitãos durchgeführt wurde und möchte diesen Offizieren der mittleren Dienstgrade, hierarchisch zwischen Major und Leutnant stehend, dem deutschen Rang des Hauptmanns entsprechend, ein Denkmal setzten. Sie sollten in der portugiesischen Geschichte nicht vergessen werden. Der Film beginnt mit harten Dokumentarfotos von grausam massakrierten, verstümmelten Opfern des Kolonialkrieges, den Portugal in Angola, Mosambik und Guinea-Bissau führte. Die von der militärischen Führung geforderte enorme Härte und Brutalität im Kampfeinsatz mit traumatisierenden Folgen für die Soldaten, von denen über 8000 getötet wurden, der Niedergang der Wirtschaft mit zunehmender Verarmung, Verelendung wegen der hohen Summen, die für die Kriegsführung ausgegeben wurden,waren neben alltäglicher Willkür, Entrechtung, Bespitzelung und Unterdrückung durch den Geheimdienst Pide die Antreiber für die Nelkenrevolution. Der Film folgt mit fiktionaldokumentarischen Bildern den Ereignissen des Staatsstreichs, der Besetzung des Radiosenders Rádio Clube Português, von dem aus dann durch Ausstrahlung des Liedes "Grândola, Vila Morena" von José Afonso das Signal zur Auflehnung innerhalb der Movimento-das-Forças-Armadas-Streitkräfte gesendet wurde. Die zeitgeschichtlichen Akteure und Schlüsselfiguren tauchen, interpretiert durch Schauspieler, im Film mit ihren Einstellungen und Handlungen namentlich auf. Die hervorragendste Rolle, um den sich der Film zentriert, dreht sich um den Hauptakteur des Staatsstreiches, Captain Salgueiro Maia (Stefano Accorsi), unterstützt von seinen Mitstreitern Major Gervásio (Joaquim de Almeida), Lieutenant Labão (Fele Martinez). Antónia, eine linke Journalistin, wird gespielt von der Regisseurin Medeiros, die in vielen portugiesischen und internationalen Produktionen geschauspielert hat. Es ist Medeiros erster Film als Regisseurin. Antónia wirft ihrem Mann Manuel (Frédéric Pierrot) fehlenden Widerstand gegenüber dem Regime vor, ohne zu ahnen, dass er in die rebellierende MFA eingebunden ist. Sie ist mit einem ihrer Studenten befreundet, macht sich Sorgen um ihn, der vom Geheimdienst wegen vermuteter Sabotage an Hubschraubern gefangen gehalten wird. Sie befürchtet, dass er die Folter nicht überleben wird und verübelt ihrem Mann, dass er nichts dagegen unternehmen will. Ein Konvoi von Militärfahrzeugen und Panzern bewegt sich auf Lissabon zu. Inzwischen sind die Straßen gesäumt von begeisterten, jubelnden Menschen, die in hervorragend orchestrierten Massenszenen von der Kamera ausgiebig porträtiert werden. In eine dieser Unterstützungsdemonstrationen schießen Gefolgsleute des DGS/Pide-Geheimdienstes in die Menge und verursachen die einzigen vier Toten des Aufstandes. Eine Liebesgeschichte zwischen Rosa (Rita Durão), einer Freundin von Antónia und Daniel (Duarte Guimarães) zieht sich als roter Faden durch den Film. Rosa wird als erste gezeigt, wie sie eine rote Nelke in die Gewehrmündung steckt, rote Nelken, die mit anderen Blumen den Aufständischen entgegengeworfen werden und die sinnbildlich für die friedvolle Revolution in den Gewehrläufen stecken. Im Tajo richtet ein Kriegsschiff seine Kanonen auf Lissabon, der Brigadier Pais (Luís Miguel Cintra) stellt sich mit seiner Panzerkolonne den Putschisten entgegen. Mit Standhaftigkeit und Überzeugungskraft gelingt es Maia dessen Männer zum Überlaufen zu bewegen. Auf dem Kriegsschiff verhindern meuternde Matrosen den Beschuss auf die Stadt. In den Filmdialogen werden sowohl Entschlossenheit und Zweifel, Planungsunwägbarkeiten, Improvisationsbedarf angesprochen, für mich allerdings nicht immer leicht verständlich, weil der Film in portugiesischer Originalversion lief, mit sehr schnell sich weg blendenden englischen Untertiteln, so dass ich etwas Mühe hatte den Dialogen zu folgen, was jedoch meinem Spaß am Film und meiner Rührung angesichts dieser Hymne auf Demokratie, Freiheit und Selbstbestimmungswille keinen Abbruch tat. Mit der Ankunft des Generals António de Spinola (Ruy de Carvalho) in der Geheimdienstzentrale, wo sich der Premierminister Caetano (Ricardo Pais) zurückgezogen hatte, endete die Befehlsgewalt von Maia. Der General übernahm Verhandlungen und sicherte Caetano und seiner Entourage freies Geleit zum Flughafen zu. Caetano flog über Madeira ins brasilianische Exil. Antónias Liebhaber Emilio (Pedro Hestnes) konnte aus dem Foltergefängnis Caxias befreit werden. Manuels Mitwirkung im Aufstand hat die Ehe Manuels nicht kitten können. Er und Antónia engagierten sich sehr erfolgreich politisch, doch erfolgte ihre Trennung zwei Jahre später. Die weitere Geschichte von Antónia und Manuel wurde aus dem Off von ihrer Tochter erzählt, die man während einer Autofahrt ihrer Eltern auf dem Rücksitz sitzen sieht, eine filmisch originelle Gestaltungsidee. Die etwa zehnjährige Tochter (Raquel Mariano) taucht auch in einer anderen sehr schönen Szene auf. Nachdem klar war, dass Caetano außer Landes fliegen würde, umkreiste Amélia den diskutierenden Maia, mit Gebrumm und ausgebreiteten Armen, ein Flugzeug nachmachend. Super ausgedacht! Im Film gefällt mir auch die Verbindung von humorvollen komödiantischen Elementen mit der Ernsthaftigkeit, mit der die Ereignisse geschildert werden. Auch werden die beiden tragenden drei Protagonisten, die die Verantwortung und Führung für den Aufstand übernommen haben, in ihren persönlichen Umfeld, ihren Beziehungen zu Frau, Freundin, Familie, Kameraden gezeigt und ihnen dadurch ein lebendiges Denkmal gesetzt in dieser für die politische Geschichte Portugals und Europas so bedeutsamen Zeit. Mehrere Monate nach der Nelkenrevolution fällt die Diktatur in Griechenland und die in Spanien 1975 nach dem Tode von Franco. Das Publikum der Filmvorführung bestand großenteils aus Portugiesinnen und Portugiesen. Viele hatten rote Nelken in der Hand. Neben mir auf dem engen, holzbestuhlten Balkon des Kinos, summten und sangen einige Zuschauenden das Lied "Grândola, Vila Morena" von José Afonso mit. Ich war zutiefst gerührt. Dazu trug auch die Wahrnehmung der Filmbotschaft bei. Im Film wurde gejubelt, ausgelassen gefeiert, wie sie sagten war es für viele der schönste Tag in ihrem Leben, Freiheit zu spüren, Aufbruchsstimmung zu erleben. Endlich frei vom Joch der Bevormundung und Unterdrückung, politische und sexuelle Selbstbestimmung, Gleichberechtigung der Geschlechter in Sicht. Endlich Mitgestaltung, endlich Demokratie. So werden es auch GriechInnen und SpanierInnen erlebt haben und zwei Generationen später taucht der Wunsch nach Autokratie wieder auf, die Jugend wählt in Portugal und Spanien europakritisch und rechtspopulistisch. Wieso? Ich begreife das nicht. cf. auch filmblog: www.filmekommentieren.wordpress.com