In einem kalten Winter kreuzen sich in Peking die Wege eines Blumenverkäufers und einer Friseurin, die beide einsam und unbehaust sind. Sie verbringen einige Zeit miteinander, wobei sie versuchen, die fehlenden Eltern zu ersetzen. Eindringlicher, wortkarger Debütfilm, der trotz geringster Produktionsmittel eine hohe stilistische Geschlossenheit aufweist und seine unspektakulären semidokumentarischen Szenen so verdichtet, dass er unter anderem auch als bitterer Kommentar auf die gesellschaftlichen Folgen der Kulturrevolution gelesen werden kann. (O.m.d.U.)
- Sehenswert ab 16.
Chen Mo und Meiting
- | VR China/Deutschland 2002 | 78 Minuten
Regie: Liu Hao
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Filmdaten
- Originaltitel
- CHEN MO HE MEITING
- Produktionsland
- VR China/Deutschland
- Produktionsjahr
- 2002
- Produktionsfirma
- Liu Hao Filmproduktion/zero Film/ZDF/arte/Network Movie
- Regie
- Liu Hao
- Buch
- Liu Hao
- Kamera
- Li Bingquiang
- Musik
- Song Ge
- Schnitt
- Li Qing
- Darsteller
- Wang Lingbo (Chen Mo) · Du Huanan (Meiting)
- Länge
- 78 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 6; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Diskussion
Schwarze Inserts im Vorspann informieren über Hintergründe, deren Bedeutung erst retrospektiv erschlossen wird: Meiting, heißt es dort, sei ein Kind der Kulturrevolution. Zur Welt kam sie in der Provinz, wohin der Staat ihre Eltern gezwungen hatte; deren Ehe hielt dem offenbar nicht stand, weshalb Meiting bei ihrem Onkel in Peking aufwuchs. Auch Chen Ho verlor früh seine Eltern, auch er stammt vom Land und lebt nun in der Hauptstadt, weil er für die Augenoperation seines älteren Bruders Geld verdienen muss. An einem kalten Wintertag läuft er Meiting in die Arme und drängt ihr wortlos eine Kiste mit Blumen auf; eine Sekunde später hetzt er weiter, da ihm die Polizei dicht auf den Fersen ist. Unvermittelt reißt der Film die Zuschauer in eine grau-triste Umgebung, in den kleinen Friseursalon, in dem Meiting arbeitet, auf namenlose Straßen, die sich im Nirgendwo verlieren. Mal beobachtet die Kamera mit ruhigen, distanzierten Bildern aus der Ferne, öfters auch von einem erhöhten Standpunkt aus, mal ist sie extrem nahe und klebt vor allem an Meiting. Minutenlang werden Alltagssituationen registriert, mehr oder weniger spannende Details, auch Langeweile, wenn Meiting auf Kundschaft wartet oder Chen Ho sich von der Sonne wärmen lässt. Doch die scheinbar zufälligen Impressionen verdichten sich schnell zu präzisen Konturen eines anonymen, einsamen Lebens in der Großstadt, das nur wenige Freuden kennt. Nachts, wenn die Vorhänge zugezogen sind, sieht man Meiting ab und zu eine Weile tanzen, ehe sie sich in einem winzigen Zimmer zur Ruhe legt. Die Hütte, in der Chen Ho haust, ist nicht viel größer, bietet den Titelfiguren aber für eine Weile einen Schutzraum. Dass sie zu einer Art Paar werden, hat mit den Blumen zu tun, die Chen Ho ein paar Tage später zurückhaben will. Als er merkt, dass Meiting von ihrem Chef belästigt wird, mischt er sich ein. Wenig später stehen beide auf der Straße, Meiting allerdings auch mit ihren wenigen Habseligkeiten. Nur widerwillig akzeptiert sie sein Angebot, bei ihm unterzukommen.
Dass Chen Ho sich um sie kümmert, gefällt Meiting jedoch zunehmend; schließlich schlägt sie ihm vor, sich abwechslend Vater und Mutter zu sein, drei Tage er, drei Tage sie; ein Spiel, das an tiefe Sehnsüchte rührt und Versäumtes nachholen lässt. Wenn Chen Ho völlig erschöpft nach Hause kommt, weil er den ganzen Tag über Bier ausgefahren hat, massiert ihm Meiting den Rücken; er besorgt Essen und bringt sogar Blumen mit. Abend für Abend schmiegen sie sich dick eingepackt unter einer Steppdecke aneinander, um sich gegenseitig zu wärmen. Vielleicht ist es diese Wärme, die Meiting eines Tages flüchten lässt, vielleicht aber auch eine Unfähigkeit, das Gehäuse der Einsamkeit zu sprengen, das selbst Chen Ho gefangen hält. Der riskiert es lieber, seine Bleibe und damit auch die Nähe zu Meiting zu verlieren, als wegen ihr mehr Miete zu bezahlen; sein eisern gesparter Hungerlohn ist ausschließlich für den Bruder bestimmt. Wie viele andere Details hält der 1969 geborene Regisseur Liu Hao auch hier eine exakte Auflösung vor; was zählt und die Wirklichkeit bestimmt, sind nicht Motivationen oder Absichten, sondern die harten Fakten: der leere, verwaiste Raum – und später der veruntreute Lohn, den Chen Ho einem Freund anvertraute.
Das Spielfilmdebüt ist trotz seiner indirekten Erzählweise ein geradliniges, schnörkelloses Drama mit dezenten bildhaften Verdichtungen, die das semi-dokumentarischen Material für unterschiedliche Lesarten aufschließen. Obwohl ohne staatliche Genehmigung und damit fast halblegal entstanden, beeindruckt der Film durch sein stilistisch wie inzenatorisch klares Konzept, dessen kritische Gegenwartssicht wohl der eigentliche Grund gewesen ist, weshalb die chinesischen Behörden den Film nicht auf der „Berlinale“ sehen wollten: Eindringlicher und nachhaltiger lässt sich über eine elternlose Gesellschaft im Kino kaum sprechen. Die Kälte und die Farblosigkeit Pekings spiegelt nicht nur die seelische Unbehaustheit der Protagonisten, sondern enthüllt sich auf einer übertragenen Ebene als sozialer oder politischer Kommentar zur jüngeren chinesischen Geschichte – und die eindringlichste Bildfindung, ein kleines, warm erleuchtetes Fenster in der Tiefe einer gespenstisch dunklen Leinwand, als ebenso gefährdetes wie widerständiges Symbol einer Intimität, die von westlichen Paarvorstellungen wahrscheinlich ähnlich weit entfernt ist wie vom Ideal eines vergesellschafteten Individuums.
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