Drama | Frankreich 2001 | 128 Minuten

Regie: Laurent Cantet

Ein treusorgender Familienvater verheimlicht den Seinen seine Arbeitslosigkeit, geht zum Schein einer Beschäftigung bei der UNO in Genf nach, stürzt sich in Schulden und begeht Betrügereien, um den Lebensstandard halten zu können. Feinfühlige Studie eines Furcht einflößenden Selbstbetrugs, die die Krise des Mittelstands vor dem Hintergrund zunehmender Globalisierung spiegelt. Der nach einer wahren Begebenheit inszenierte Film besticht durch den Hauptdarsteller sowie die ausgewogene Wechselwirkung von emotionaler Kälte und Selbstentfremdung. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
L' EMPLOI DU TEMPS
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2001
Produktionsfirma
Haut et Court Produktion/Havas Images/Rhone-Alpes Cinéma/Arte France Cinéma
Regie
Laurent Cantet
Buch
Robin Campillo · Laurent Cantet
Kamera
Pierre Milon
Musik
Jocelyn Pook
Schnitt
Robin Campillo · Stephanie Leger
Darsteller
Aurélien Recoing (Vincent) · Karin Viard (Muriel) · Serge Livrozet (Jean-Michel) · Jean-Pierre Mangeot (Vater) · Monique Mangeot (Mutter)
Länge
128 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
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Diskussion
Wochenlang ist Vincent manchmal unterwegs, auf Geschäftsreisen zu Kongressen und Firmen; er lungert auf unwirtlichen Rastplätzen herum und telefoniert unentwegt mit Zuhause, um seiner Frau und den Kindern vage von seinem Arbeitstag zu berichten. Ein Alltag, rastlos und anstrengend, den er fast ausschließlich im Auto verbringt, das ihm wie ein Kokon Schutz zu bieten scheint und zum zweiten Domizil geworden ist. Denn sein Arbeitsleben ist längst reine Fiktion: Der Ex-Geschäftsmann führt eine Doppelexistenz und verschweigt seiner Familie seit Wochen, dass ihm gekündigt wurde. Dafür legt er sich um so mächtiger ins Zeug, um den Schein zu wahren und Geld für den Unterhalt zu beschaffen. Also verlässt er jeden Morgen das Haus und erfindet sich eine neue Stellung, da er den kleinen Notlügen entkommen will, in die er sich zunehmend verstrickt. Angeblich arbeitet er jetzt bei der UNO in Genf und organisiert Wirtschaftshilfe für Afrika. Um diese Illusion aufrechtzuerhalten, nimmt er bei seinem Vater ein größeres Darlehen für eine nicht existierende Eigentumswohnung auf, die ihm das Pendeln zwischen Genf und daheim ersparen soll. Dennoch verfängt er sich immer mehr in ein Lügennetz, aus dem es kein Entkommen gibt, als er alten Schulkameraden beträchtliche Geldsummen für fingierte Aktiengeschäfte abknöpft, damit Muriel und die Kinder ihr gewohntes Leben weiter führen können. Mit einer Mischung aus Verständnis und Verwunderung beobachtet Laurent Cantet die inkompatiblen Welten des erwerbslosen Familienvaters, dessen Schicksal vom Arbeitsmarkt ins Privatleben hineingreift, ohne dass er mental in der Lage wäre, diese Schmach vor sich selbst und den Nächsten einzugestehen. Wie in seinem Spielfilmdebüt „Ressources humaines“ (fd 34 942), in dem er einen Arbeitskampf mit einer Vater-Sohn-Geschichte verknüpfte, gelingt es ihm auch hier, Lebenskontext und soziales Milieu prägnant zu skizzieren. Vincents halsbrecherische Lügengeschichten halten einer Mittelschicht den Spiegel vor, für die die Aufsteigermentalität zum Standesdünkel gehört, ein bestimmter Lebensstandard einen unverrückbaren Status quo darstellt und die sich selbst zu den Leistungsträgern der Gesellschaft zählt. Für Versagensängste ist dort ebenso wenig Platz wie für unabsehbare Rückschläge. Immer, wenn Vincent beinhart mit der Realität zusammenstößt, stellt er reflexartig und routiniert den Unerschrockenen zur Schau. Ein Sturm der Seele, der ihm ins Gesicht bläst, wird von anderen nicht wahrgenommen und lässt seine Selbstdarstellung als ein öffentliches Schauspiel erscheinen, hinter dem sich das private Desaster zu verbergen weiß. Bis sein Traumgespinst – Auszeit vom Leben zu nehmen, um mit den Folgen der Arbeitslosigkeit nicht konfrontiert zu werden – wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt, als ein kleiner Gauner seinen Betrügereien auf die Schliche kommt. Feinfühlig und schnörkellos zeichnet der Film die Stationen eines angsteinflößenden Selbstbetrugs nach, der in die Abgründe einer Scheinexistenz führt und wie jede Lebenslüge bitter bestraft wird. Seine Spannung bezieht „Auszeit“ aus der Diskrepanz zwischen der menschlichen Tragödie, deren unaufhaltsames Fortschreiten ambivalente Gefühle auslöst, und einer unspektakulären Inszenierung fern jeder sozialen Anklage. Statt dessen ist Cantet mehr an den Schattenseiten der Globalisierung interessiert als an sozialromantischen Klischees. Das subtile Kammerspiel über die verhängnisvolle Wechselwirkung von emotionaler Kälte und Selbstentfremdung changiert zwischen Nähe und notwendiger Distanz, was die Figuren erst richtig fassbar macht und für Verstörung sorgt. Nach dem Ende der New-Economy-Blase hat die Unkontrollierbarkeit des eigenen Karriereplans auch hierzulande die Mittelschicht erreicht. Die Kündigungswelle erfasst die Leistungsträger der Gesellschaft; die neue Mitte erfährt, wie brüchig der Boden ist, auf dem sie steht. Passiert etwas Unkalkulierbares, gerät der Lebensstandard in Gefahr. Nicht selten bricht wie für Vincent das ganze Bezugssystems zusammen, was dieser nicht verkraften kann. Die Story basiert auf einer wahren Begebenheit, der Affäre Romand, die bereits den Stoff für einen Roman und Nicole Garcias Film „L’adversaire“ lieferte. Cantets Psychodrama nimmt sich nicht nur wie ein Seismograf gesellschaftlicher Entwicklungen aus, sondern besticht vor allem durch seine faszinierende Hauptfigur. Ihrer Lügen bewusst und zugleich der Selbsttäuschung fähig, erinnert sie an die Protagonisten aus Kubricks „Shining“ (fd 22 670) oder Hitchcocks „Psycho“ (fd 9570), in denen es auch um die Wechselwirkung von Wirklichkeit und Schein, Realität und Projektion geht – und um die traumatischen Abgründe, die sich jenseits des „gesunden Menschenverstandes“ auftun. Bei aller Zwiespältigkeit und Selbstverstrickung verdankt „Auszeit“ seine Glaubwürdigkeit dem unauffälligen Hauptdarsteller Aurélien Recoing, der in Frankreich ein renommierter Theaterschauspieler ist. Auch wenn das Drama in einer emotional aufreibenden Konfrontation gipfelt – das Leben sah ein extremeres Finale vor: Während Vincent einen Neuanfang versuchen darf, brachte sein reales Vorbild lieber die ganze Familie um als die vermeintliche Schande öffentlich einzugestehen.
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