Goethe light

Dokumentarfilm | Deutschland 2002 | 92 Minuten

Regie: Thomas Frickel

Im "Goethe-Jahr" 1999 nimmt ein hessisches Paar bei seiner Fahrt durchs deutsch-tschechische Grenzgebiet einen Asylsuchenden auf, der verblüffende Ähnlichkeit mit dem gefeierten Dichterfürsten aufweist. Daraus wird eine Geschäftsidee geboren: Die Beiden gründen eine Event-Agentur und vermieten ihr aus Bulgarien stammendes Poeten-Double an Volksfeste, Ausstellungseröffnungen oder Politikerempfänge. Die eher lose skizzierte Spielhandlung dient als Gerüst für dokumentarische Schlaglichter, die mit der fiktionalen Ebene korrespondieren. Daraus ergibt sich ein unterhaltsamer, allerdings nicht allzu tief lotender Seitenhieb auf die allgemeine Tendenz der kulturellen Verflachung. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2002
Produktionsfirma
HE-Film
Regie
Thomas Frickel
Buch
Thomas Frickel
Kamera
Thomas Frickel
Musik
Dietmar Staskowiak
Schnitt
Thomas Frickel
Darsteller
Christo Aprilov (Goethe) · Cornelia Niemann (Frau Niemann) · Erich Schaffner (Herr Schaffner)
Länge
92 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Es gibt Mozartkugeln, Bismarck-Hering, Puschkin-Wodka, Steak „Strindberg“ und Fontane-Pils – warum könnte es nicht auch eine Goethe-Bratwurst geben? Schliesslich schreibt man das offizielle Goethe-Jahr 1999, in dem landauf, landab Tagungen, Feierstunden und Symposien zum Thema abgehalten werden. Johann Wolfgang von Goethe erlebt gerade seine maximale mediale Auswertung; mit seinem Namen im Etikett wird so mache Deutschmark umgeschlagen. Wenigstens ein Verleihdepot für Goethe-Doppelgänger sollte möglich sein – so die Überlegungen eines hessischen Paares um die 50, dem während einer Urlaubsfahrt durch das deutsch-tschechische Grenzgebiet ein äusserlich verblüffend dem Dichter-Geheimrat ähnelnder Asylsuchender „zuläuft“. Der Mann ist Bulgare, hat von Goethe noch nie etwas gehört und spricht kein Wort deutsch. Doch egal – schnell ist die Geschäftsidee von der Eventagentur „Rent a Goethe“ geboren. Der klapprige Lieferwagen der erfolglosen Vorläuferfirma „Schall und Schauch – Profisound“ erhält einen neuen Schriftzug, wegen der Förderzuschüsse wird die Operationsbasis von Hessen nach Thüringen verlegt. Bald öffnet in der Goethe-Metropole Weimar ein apartes Büro seine Pforten. Nach einigen Anfangsschwierigkeiten läuft das junge Unternehmen Erfolg versprechend an. Es gibt Einladungen zu Volksfesten und Ausstellungseröffnungen, Politiker posieren mit dem Doppelgänger. Ausgerechnet im unmittelbaren Anschluss an den offiziellen Festempfang zum 250. Geburtstag des Dichterfürsten, an dem auch sein bulgarisches Double teilnimmt, erfolgt der Zugriff durch die Polizei. Im historisch nachempfundenen Festtagsornat wird der sich mit seiner Rolle mehr und mehr identifizierende Ersatz-Goethe abgeführt: ein ganz gewöhnlicher Ausländer ohne Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung, der in der Festung (West-)Europa nicht länger geduldet wird. Der Untertitel von Thomas Frickels Film lautet „Ein Beitrag zur deutschen light-Kultur“ und verweist unzweideutig auf dessen inhaltliche Intention. Es geht um die Verkürzung sämtlicher kulturhistorischer Ereignisse auf ihre Verwertbarkeit zum „Event“, um die Formatierung des kulturellen Erbes auf das nicht eben nachhaltige Niveau der „Spasskultur“. Mit „Goethe light“ greift der Regisseur das Erfolgsrezept seiner Doku-Komödie „Deckname Dennis“ (fd 32 594) auf, und auch diesmal dient eine eher lose skizzierte Spielhandlung als Gerüst für diverse dokumentarische Schlaglichter, die wiederum alle mit der fiktionalen Ebene korrespondieren. Nach einem den kommentarlastigen Wochenschau-Gestus parodierenden Prolog lebt der Film vorrangig von einer modifizierten „Montage der Attraktionen“, die als Collage provinzieller Kuriositäten daher kommt. Frickel fördert einmal mehr Bemerkenswertes zutage. Dank seiner Recherche erfährt man so, dass es in Deutschland mit Dieter Friedrich Holste einen selbsternannten „Windbeutelkönig“ gibt, der seine Kreationen stets thematisch ausrichtet und deshalb auch eine Fettbombe namens „Goethes Traum“ geschaffen hat: Krokant steht dabei für die Ambivalenz der poetischen Gedanken, Amaretto für die romantisch akzentuierte Italienreise des Universalgenies. „Goethes Reise um die Welt“ heisst ein groteskes Ausstellungsprojekt des Künstlerpaares Verena Graff/Kurt Petz, deren Ideengehalt sich auf den Titel reduziert, das aber dank Deutscher Flughafen AG und Goethe-Institut tatsächlich eine globale Tournee antreten konnte. In Leipzigs „Auerbachs Keller“ findet ein ausuferndes „Goethe-Jubiläums-Gastmahl“ statt. Dass es in Kassel ein als „Goethe-Elefant“ bekanntes Grosspräparat gibt, wird auch mitgeteilt. Daneben stehen Begegnungen mit Bernhard Vogel und Wolfgang Thierse, mit dem Fälscher der Hitler-Tagebücher Konrad Kujau und Udo Lindenberg („Alle Tage sind gleich lang, doch verschieden breit“). An all diesen Stationen fungiert der balkanische Ersatz-Goethe als Maskottchen. Im Gegensatz zu „Deckname Dennis“ fallen die inhaltlichen Massstäbe konkreter aus. Dies führt zu einigen Übersetzungsproblemen zwischen der dokumentarischen und der fiktionalen Ebene. Versuche, dem Asylsuchenden mehr Profil zu verleihen, bleiben in Ansätzen stecken. Diese wenigen Momente zeigen aber, welche Potenzen darin gelegen hätten. So gibt es eine Szene, in der das sonst stumme Poeten-Double ausgerechnet mit einem Goethe-Zitat gegen seine windigen Arbeitgeber aufbegehrt: „Wenn man von Leuten Pflichten fordert, ihnen aber keine Rechte zugestehen will, muss man sie gut bezahlen.“ Diese Szene bildet aber eine Ausnahme. Über Hintergrund und Innenleben des Protagonisten wird nichts mitgeteilt. Insgesamt kommt der Hauptfigur damit in dramaturgischer Hinsicht die gleiche Funktion zu wie auf den Strassen Weimars: Sie bleibt Staffage. Sicher, der Film wäre durch eine andere personelle Gewichtung ein ganz anderer geworden, hätte dann vermutlich nicht die dokumentarische Bandbreite aufmachen können, an der dem Regisseur gelegen war. Beides auf einmal – Drama und Panoptikum – ist nicht zu haben. Der Preis des angestrebten Kuriositätenkabinetts besteht deshalb notgedrungen im Verlust an individuellen Details. Eine künstlerische Entscheidung, die möglicherweise mit dem Blick auf das Publikum erfolgte. „Die Masse könnt ihr nur durch Masse zwingen, ein jeder sucht sich endlich selbst was aus. Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen; und jeder geht zufrieden aus dem Haus.“ Dies war schon das Motto des Theaterdirektors in Goethes „Faust“.
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