Feine Klaviermusik klingt aus dem Off, und natürlich muss es regnen am Anfang, denn man befindet sich im „Good Old England“: Matsch, zwei Rolls Royce auf engen Landstraßen, in dem einen eine Frau von Geblüt, die sich – schnippisch, selbstbewusst, mit britisch-aristokratischer „stiff lip“ – mit ihren jungen Dienstmädchen unterhält. Dann öffnet sich das Bild, und zu sehen ist ein prächtiges Schloss: Gosford Park. Hier trifft sich eine Jagdgesellschaft, alter Adel, doch zum Teil mit frischem, nicht ganz so vornehmem Blut angereichert; dabei ist als Gast auch ein misstrauisch beäugter – weil amerikanischer, jüdischer, homosexueller – Filmproduzent, sozusagen als heimlicher Hofnarr. Sie alle bringen ihre Dienstboten mit, die von Butlern kommandiert werden, die kaum weniger Standesdünkel haben als ihre Herrschaften und durch ihre feinen Unterschiede – etwa wie am Morgen der Tee und zur Nacht die heiße Milch zubereitet werden – am unteren Ende der Gesellschaft deren interne Hierarchie getreu spiegeln, bis zu den Namen ihrer Herren, die ihnen unter dem Personal der Einfachheit halber zugeordnet werden. „Upstairs, Downstairs“, wie in der gleichnamigen Fernsehserie aus den 70er-Jahren („Das Haus am Eaton Place“), an die Altmans Film den kontinentalen Zuschauer immer wieder erinnert. Die Klassengesellschaft des Empire ist noch fast intakt – das Vereinigte Königreich anno 1932.
Aber wie jeder soziale Verbund hat auch dieser seine Sollbruchstellen und – noch wichtiger – seine kleinen und größeren Geheimnisse. Raum also für Entlarvung, Bloßstellung, Wegreißen des mehr verhüllenden als behütenden Scheins und dessen allenfalls ironisch gebrochene Bestätigung. Hier wird klar, was Altman vor allem an diesem Period Picture interessiert. Zwar versteht er es, auch mit mittlerweile 77 Jahren sein Publikum immer wieder zu überraschen, doch nur auf den allerersten, oberflächlichen Blick fällt sein neuer Film ganz aus seinem riesigen Werk (über 40 Filme) heraus. Berühmt wurde er für sarkastisch-engagierte Filme wie „M.A.S.H.“
(fd 16 830), vor allem aber für seine Faible zur dramatisch zugespitzten Gesellschaftssatire wie in „Nashville“
(fd 19 724), „Short Cuts“
(fd 30 588) oder „Dr.T and the Women“
(fd 34 679). An diese knüpft er an, arbeitet geduldig und unaufdringlich die feinen Haarrisse seines Schauplatzes heraus.
Vor allem in der ersten Stunde ist der Film, in dem Altman die fremde Welt erst einmal vorstellt, mit der Neugier und Detailbesessenheit des Ethnologen in ihre Nischen vordringt und weder Besonderheiten noch die ihnen zugrundeliegenden Strukturen vergisst, von meisterlicher Perfektion. Sein Interesse konzentriert sich weit stärker auf die Dienstboten, ihre Mühe mit den Wünschen ihrer Herren, ihren Alltag, damit auch ihre Betrachtungsweise der Menschen und Verhältnisse, denen sie dienen. So nimmt der Zuschauer große Teile des Geschehens aus der Sicht des Personals wahr, das oft mehr Durchblick hat als ihre Herrschaften. Das Resultat ist ein typischer Altman-Film mit einem riesigen Ensemble herausragender Schauspieler (vor allem Kristin Scott Thomas, Helen Mirren, Jeremy Northam, Emily Watson, Maggie Smith und Kelly MacDonald agieren glänzend), das mit leichter Hand, fehlerlos und elegant choreografiert wird. Mit Hilfe der kaum stillstehenden Kamera wirft Altman seinen multiperspektivischen Blick auf eine Welt, die er offensichtlich liebt und doch kühl analysiert: ein Film über Atmosphären und Oberflächen, über die Spur des Nicht-Offensichtlichen im Sichtbaren. Unter anderem ist „Gosford Park“ auch eine hübsche Reflexion des Verhältnisses zwischen dem alten Europa und dem frühen Hollywood. Jeremy Northam spielt die historische Figur des nur halb erfolgreichen, schon fast resignierten Schauspielers Ivor Novello, der in den Salons der Oberklasse den Gesangsunterhalter spielte – ein nahe gehendes Porträt, bei dem der schönste Dialogsatz des Films fällt: „Wie halten sie es nur mit diesen Leuten aus?“, fragt Produzent Weissman Novello, der lächelnd antwortet: „Sie vergessen, dass ich mein Geld damit verdiene, sie darzustellen.“
Ein Verbrechen wird auch enthüllt, aber die „Murder Mystery“-Geschichte, zu der sich „Gosford Park“ im Folgenden entwickelt und die die „klassischen“ Krimis von Agatha Christie zitiert, ist das Unwichtigste. Zumal Altman sie mit ihren Klischees und eingefahrenen Ritualen aufs Korn nimmt und letztlich nur benutzt, um eine ganz eigene, völlig andere Geschichte zu erzählen. Trotzdem scheinen der zeitliche Abstand und auch die kulturelle Distanz zu dieser spätfeudalen und ungleichen Gesellschaft den Blick Altmans eher zu mildern. Gnädig, stellenweise gönnerhaft, altersweise geht er mit den vielen Schwächen und Sünden, den heimlichen Lastern seiner Figuren um. Lüge und Intrige sind allgemein, alle haben etwas zu verstecken, und augenzwinkernd signalisiert der Regisseur, der Mensch sei eben nicht perfekt, und man solle es doch bitte nicht allzu genau nehmen.
Zugleich fehlt es seiner sardonischen Komödie aber nicht an Härte in der Betrachtung und Kritik der gesellschaftlichen Strukturen. Altman ist ein genauer Beobachter von Demütigung und Ausbeutung, vor allem der indirekten und unausgesprochenen. Mehr als eine seiner Figuren trägt langjährige seelische Leiden mit sich herum. Offen schildert der Film die Grausamkeiten unter den glänzenden Sitten der Aristokratie. Darin, dass er die Beziehungen zwischen der Oberklasse als Verhältnisse zeigt, in denen es letztlich nur ums Geld und um den Überlebenskampf, um sozialen Auf- und Abstieg, wäre Verklärung und Schönfärberei der Verhältnisse der Zwischenkriegszeit, unangemessene Nostalgie das Letzte, was man Altman vorwerfen kann. Nur verdammt er mit den Verhältnissen nicht auch die Menschen. Damit erinnert „Gosford Park“ an ein anderes großes Alterswerk: an John Hustons letzten Film „The Dead“
(fd 26 396) – auch dies ein illusionsloser Abgesang auf eine längst vergangene Epoche. Brillante Dialoge, Witz und scharfe Intelligenz, vor allem Humanität und Neugier: „Gosford Park“ ist perfektes Kino, das unterhält und etwas zu sagen hat, das glücklich macht.