Zu einer Zeit, in der hohle spektakuläre Effekte à la Jerry Bruckheimer und minimalistisches Kino vom Schlage Lars von Triers die Bandbreite des Filmangebots definieren, erscheint Baz Luhrmanns „Moulin Rouge“ wie ein ästhetische und rezeptorische Herausforderung. Der bombastischen Äußerlichkeit des heutigen Hollywood-Angebots setzt er die leidenschaftliche Naivität elementarer Gefühle entgegen, dem puristischen Filmemachen das ausufernde Pathos des von ihm so genannten „theatralisierten Kinos“. Luhrmanns Story variiert Vorbilder, die von der klassischen Orpheus-Sage über Dumas’ „Kameliendame“ bis zu Puccinis „La Bohème“ reichen; seine Inszenierung zeigt sich ebenso beeinflusst von der barocken Opulenz einschlägiger Lido- und Las-Vegas-Revuen wie von egomanen Cineasten wie Ken Russell, Terry Gilliam und Tim Burton. So aggressiv Luhrmanns Filme (vor „Moulin Rouge“ waren es „Strictly Ballroom“, fd 29 869, und „William Shakespeares Romeo & Julia“, fd 32 429) in ihrer frenetischen Beschwörung einer Atmosphäre, eines Lebensgefühls und einer tragischen Dimension sein mögen, so hemmungslos sie sich Luhrmanns untrüglichem Gespür für Rhythmus und rhythmische Bildgestaltung hingeben, sind sie gleichzeitig doch auch in einem heute ungewöhnlichen Maß stilisiert. „Ich bediene mich einer filmischen Form, die erwartet, dass das Publikum mit wachen Sinnen an dem Erlebnis teilnimmt, statt in einen Traumzustand versetzt zu werden.“ Wenn Luhrmann ein Musical macht, dann ist das ebenso weit entfernt von den Traumfabrik-Erzeugnissen der großen MGM-Zeit wie sein „Romeo & Julia“-Film von einer gewöhnlichen Shakespeare-Inszenierung. Nicht einmal einen sentimentalen Abgesang auf das Song-und-Tanz-Genre, wie ihn Jacques Demy 1967 mit „Die Mädchen von Rochefort“
(fd 16 911) in Szene setzte, darf man hier erwarten. „Moulin Rouge“ bedient sich zwar bei Busby Berkeley, Vincente Minnelli und Bob Fosse, aber indem der Film zahllose Vorbilder zitiert und parodiert, benutzt er die Elemente des Genres für eine moderne und individuelle Phantasmagorie, die das traditionelle Musical ebenso kopiert wie demontiert.
In der Tat sollte man einen wachen Tag haben, wenn man sich Luhrmanns „Moulin Rouge“ ansieht. Schon die Eingangsszenen setzen den Zuschauer einem ungeheuerlichen Feuerwerk an Einfällen aus, dessen gleichermaßen adorative wie ironische Perspektiven höchste Aufmerksamkeit verlangen, will man nicht hier schon im Rausch der filmischen und musikalischen Kreationen ersticken. Wo sich Opernhaftigkeit und Musikvideo, naive Gefühlswelt und aufmüpfige Satire, glorifizierendes Star-Kino und die Vorboten des später noch ausgiebig bemühten indischen „Bollywood“-Films treffen, da ist Luhrmann in seinem Element. Es ist typisch für sein Talent, dass er im gleichen Atemzug einen rührenden jungen Orpheus vorstellen und eine Veralberung von „Meine Lieder – meine Träume“
(fd 13 785) anstimmen kann. Wäre Luhrmann nicht ein solcher Meister in der Verquickung von Gegensätzen, so hätte „Moulin Rouge“ gar nicht entstehen können. Die Handlung spielt im Paris des Jahres 1899, aber die optische und akustische Orgie des Fin de Siècle, die sich auf der Leinwand abspielt, vollzieht sich zu Texten und Musik von Madonna und Elton John, David Bowie und Paul McCartney. Christian, der unerfahrene junge Schriftsteller, verliebt sich in Satine, die begehrte Kurtisane aus dem „Moulin Rouge“, und folgt ihr wie ein Orpheus in die Unterwelt des Pariser Nachtlebens. Auch Satine ist – wie alle in diesem Film – eine Kunstfigur mit vielen Vorbildern: ein bisschen Marlene Dietrich, ein bisschen Rita Hayworth, Marilyn Monroe, Evita und Madonna. Wenn sie singt, schwebt ihre zerbrechliche Stimme in den Olymp des Vergnügungstempels – Zauberkraft des Stars hoch vier. Wenn sie dann ein wenig später wie Puccinis Mimi Blut in ihr Spitzentaschentuch hustet, verbreitet ihr unterdrücktes Leiden das Odium grandioser Theatertragödien. Fast wäre sie bereit, sich den Wünschen eines reichen Grafen zu fügen, um dem geliebten Christian das Leben zu retten. Als sie „Today’s the Day that Dreaming Ends“ anstimmt, hört man kein Orchester mehr, scheint die hektische Welt für einen Augenblick stillzustehen, wird der Song zum inneren Monolog. Solche und ähnliche Kunstgriffe sind es, die auch noch an Luhrmanns Sentimentalitäten Anteil nehmen lassen.
Natürlich weiß jeder Zuschauer, der nicht den Rest seines Lebens in einem kulturabgeschotteten Raum verbracht hat, von Anfang an, wie die Geschichte vom naiven Dichter und der kranken Kurtisane ausgehen wird. Und natürlich weiß auch Luhrmann, dass ein jeder im Parkett es weiß. Darum ist der Film eine orgiastische Paraphrase des Bekannten, ein fortwährendes Kokettieren mit Leitbildern und Erinnerungen, eine artistische Überhöhung des Gewohnten. Das Ausmaß an kreativer Energie, das Luhrmann und alle seine Mitarbeiter in „Moulin Rouge“ investiert haben, ist erstaunlich und bewundernswert. Es kann dennoch nicht ganz verhindern, dass auch der aufmerksamste Zuschauer angesichts der Überfülle von Ideen zu ermüden droht, vor allem, nachdem die großen Szenen des Films – Nicole Kidmans „Diamonds Are a Girls’s Best Friend“ und Jim Broadbents „Like a Virgin“ – vorbei sind. Luhrmann glaubt so sehr an die emotionale Überzeugungskraft der simplen Story, dass er sich – abermals nicht ohne ironische Tupfer – in ganzer Breite die große klassische Tragödie leistet. Dabei hat er allerdings übersehen, dass die glitzernde Opulenz und die optische Kunstfertigkeit seines Films den Personen wenig Raum zu individueller Entfaltung gelassen haben. Ans Herz wachsen Einfallsreichtum und Virtuosität der großen Show, kaum jedoch die Figuren, deren absehbares Schicksal zum Schluss auf einmal die Hauptrolle hergeben soll. So mutig es auch sein mag, dass Luhrmann seinen aufregend temperamentvollen Film mit einer stillen, besinnlichen Note ausklingen lässt – das Gefühl, ein wenig abgespannt und verlassen im Dunkel des endlosen Nachspanns zurückzubleiben, wird mancher wohl nicht unterdrücken können.