Am Rande der Zeit - Männerwelten im Kaukasus

Dokumentarfilm | Deutschland 2001 | 90 (TV-Fassung: 60) Minuten

Regie: Stefan Tolz

Dokumentarfilm über das Leben im nördlichen Kaukasus, das in vier unterschiedlichen Gegenden und anhand zahlreicher, fast nur männlicher Bewohner beobachtet wird. Der Film schwelgt in ausdrucksstarken, kontemplativen Bildern, die einer melancholischen Deutung der Gegenwart unreflektiert Vorschub leisten. Trotz einer gewissen Überästhetisierung eine spannende Welterkundung, deren skurril-lakonischer Humor an die Filme Aki Kaurismäkis erinnert. (O.m.d.U.; Titel der stark gekürzten TV-Fassung: "Kaukasische Welten") - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2001
Produktionsfirma
Applaus Film/MDR/SWR/WDR/arte
Regie
Stefan Tolz
Buch
Stefan Tolz
Kamera
Thomas Riedelsheimer · Holger Schüppel · Dieter Stürmer · Nugsar Nozadze
Musik
Sean Hara · Temur Babluani · Gija Kantscheli
Schnitt
Cordula Krämer · Thomas Riedelsheimer
Länge
90 (TV-Fassung: 60) Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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IMDb

Diskussion
Über dem Schwarzen Meer geht allmählich die Sonne unter. Mit dem Rücken zur Kamera am steinigen Strand sitzt ein älteres Ehepaar, der Mann mit Hut und Blindenstock, die füllige Frau im Blumenkleid. „Ich liebe dich“, sagt der kaukasische Herr, und nach einer Pause fügt er hinzu: „Und ich bin froh, dass du in deinem Alter noch fünfmal kommst.“ Lachend klopft ihm seine Frau auf die Schulter: „Du bist unmöglich!“ Dann flüstert sie ihm ins Ohr: „Die sitzen doch da hinten und nehmen auf.“ „Sollen sie doch aufnehmen“, entgegnet der Alte trocken. Seine Frau lacht und wiederholt: „Du bist unmöglich.“ Das ist die Schlussszene dieses episodischen Dokumentarfilms, eine Art Epilog zum zuvor Gesehenen. Mit dem kauzigen alte Pärchen beschließt Stefan Tolz einen vier Schauplätze umspannenden stimmungsvollen Bilderbogen über den Kaukasus, der so malerisch fotografiert und filmisch so perfekt in Szene gesetzt wurde, dass kaum anzunehmen ist, dass sich Kamera und Filmcrew bei den Dreharbeiten, wie von der Endsequenz suggeriert, mit der Rolle der stillen Beobachter begnügten. In unaufhörlicher Fotokalenderästhetik präsentiert der Film eine schwelgerische Kette ausdrucksstarker, vorgeblich charakteristischer Motive, durch die die dargestellten kaukasischen Lebenswelten eher der Wirklichkeit entrückt und in einen klischee- und märchenhaften Zuckerguss fremder Exotik eingetaucht werden. Mit effektvollen Impressionen eröffnet Tolz einen symbolhaften Subkontext, der den Blick auf die sozialen Realitäten freilich verstellt. Bereits die Auswahl der Schauplätze wurde offensichtlich vom Bemühen um ein Höchstmaß an Fremdheit und Sinnbildlichkeit geleitet. Im schneebedeckten Dorf Uschguli in den Höhen Swanetiens im Zentralkaukasus harren nur noch wenige Familien aus. Vor allem die jüngeren Generationen zieht es aus der Abgeschiedenheit hinab ins Tal. In Batluch im Nordkaukasus Dagestans bestimmt nach dem Ende der Sowjetunion wieder der Islam das Leben. Der Waisenjunge Islam wird dort in einer Koran-Schule zum Muezzin ausgebildet. Der „Ölfelsen“ ist die größte Ölförderstation im Kaspischen Meer, doch die Technik ist veraltet, und die Fördermengen nehmen ab. Auch die „Villa Freundschaft“, ein ehemaliges Erholungszentrum für blinde Pensionäre, hat mit dem Ende der Sowjetunion weitgehend ausgedient. Die Gäste von früher kommen heute nur noch selten. An allen vier Schauplätzen lässt Tolz den Kaukasus und seine (meist männlichen) Bewohner „am Rande der Zeit“ oder besser zwischen den Zeiten erscheinen. Die Ära der Sowjetunion ist Vergangenheit, Macht und Glanz des großen Staates sind verblichen. Für viele sind damit auch Ordnung, Sicherheit und Beständigkeit verloren gegangen. Eine Zukunft ist außer als Sehnsucht nach einem besseren Leben, einer besseren Welt nicht in Sicht, und so erscheint die Gegenwart geprägt von einer großen melancholischen Leere und Trägheit. Um den Stillstand der Zeit sichtbar zu machen, verwendet Tolz nahezu ausschließlich Aufnahmen von sonnigen, windstillen Tagen; Gemüts- und Wetterlage kommen so stimmungsvoll zur Deckung. Schnelle, hastige Bewegungen gibt es kaum, das kaukasische Leben scheint sich in fast schläfriger Gemächlichkeit zu vollziehen. Zwischen ausdrucksschweren Episoden aus dem Alltag kehrt der Film immer wieder zur schweigsamen Motivschau zurück. Ein Erzähler oder Interviewer meldet sich nicht, die Sprache wird fast ausschließlich den kaukasischen Männern überlassen, von denen der Film berichtet. Die meisten von ihnen wirken nachdenklich, eher sanft, manchmal ein wenig schrullig. Bisweilen erfolgt die Übersetzung der Dialoge statt durch Untertitel auch durch deutsche Sprecher, was ein wenig zur Dynamisierung der ansonsten sehr statisch wirkenden Erzählweise beiträgt. Eine Geschichte erzählt „Am Rande der Zeit“ trotz der Präsentation der Vielzahl der auf Publikumswirksamkeit kalkulierten Geschichten und Anekdoten nicht; Bewegung entsteht nur im Uneigentlichen, in der Öffnung des Films von Verzweiflung und Melancholie hin zu Hoffnung. Realistisch im Sinne von realitätsnah wirkt dies nicht; zu viel Charakteristisches, Typisches, Vielsagendes überlagert den simplen Alltag, zu sehr bestimmen fotografische Ästhetik und filmische Einprägsamkeit die Auswahl der Motive. Jenseits von Narration und Authentizität entwickelt sich der Film zu einer oftmals etwas gezwungen wirkenden, gewollt poetischen Reportage, die gespickt ist mit wunderschönen Landschaftsaufnahmen, einer beeindruckenden atmosphärischen Dichte und einer gehörigen Portion liebevollen Alltagshumors. Insgesamt aber leidet er an seinem übermäßigen Kunsteifer. Der Versuch, die Zeit auch in der Montage durch ein ruhiges Schnitttempo und lange Dialogpausen zum Stillstand zu bringen, lässt den Ablauf zäh und streckenweise langatmig werden. Dennoch ist Tolz ansatzweise ein außergewöhnlicher Dokumentarfilm gelungen: eine Art Weltspiegelreportage in Kinoformat, ohne Sprecher, dafür aber sanft durchwoben vom skurril-lakonischen Humor eines Aki Kaurismäki.
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