Coming Apart

- | USA 1969 | 111 Minuten

Regie: Milton Moses Ginsberg

Ein mehr als 30 Jahre nach seiner Entstehung wiederentdecktes filmisches Dokument, das die Versuche eines New Yorker Psychotherapeuten beschreibt, inmitten einer in Auflösung befindlichen Umwelt die eigene Existenz mittels einer versteckten Kamera zu fixieren. Entstanden im Schlüsseljahr 1969, als sich die Popkultur endgültig ihres utopischen Potenzials beraubt sah, erzählt der Film stellvertretend von der Orientierungslosigkeit einer ganzen Gesellschaft. Psychoanalyse dient als Religionsersatz, doch niemand therapiert den Therapeuten. Seinerzeit wurde der Film wegen seiner fast unangenehm wirkenden, analytischen Kälte mit Ignoranz gestraft, heute besticht er durch seine zeitgeistliche Kompaktheit und die weit darüber hinaus weisende, visionäre Kraft. Ein kulturhistorisches Bindeglied zwischen Jean-Luc Godard und Andy Warhol bzw. Jack Smith. (O.m.d.U.) - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
COMING APART
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
1969
Produktionsfirma
Kalaidoscope
Regie
Milton Moses Ginsberg
Buch
Milton Moses Ginsberg
Kamera
Jack Jaeger
Musik
Jefferson Airplane
Schnitt
Lawrence Tetenbaum
Darsteller
Rip Torn (Joe Glassman) · Sally Kirkland (Jo Ann) · Viveca Lindfors (Monica) · Lois Markle (Elaine) · Lynn Swann (Anita)
Länge
111 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
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Diskussion
„Coming Apart“ war der erste und letzte Film von Milton Moses Ginsberg. Nach seiner Fertigstellung im Schlüsseljahr 1969 lief er nur wenige Male im Kino und verschwand dann aus der Öffentlichkeit. Erst 1998 erfolgte durch eine Retrospektive im Museum of Modern Art eine überfällige Wiederentdeckung, seitdem tourt der Film erfolgreich auf internationalen Festivals. 32 Jahre nach seiner Premiere erreicht der Film nun auch Europa – schön, dass es solche Zeitschleifen gibt. Von einer Gerechtigkeit der Geschichte kann dennoch keine Rede sein. Sieht man heute eine solitäre Arbeit wie die vorliegende, dann befällt einen höchstens Verbitterung ob der vielen ins Leere gelaufenen, innovativen Energien. Denn die Sprache der Kinematografie war schon einmal viel weiter, als der aktuelle Kanon nahe legt. In ähnlich starkem Maße wie Robert Downey sen. oder Alejandro Jodorowsky muss Milton Moses Ginsberg in die Reihe von Pionieren eingestuft werden, deren Verdienste zwischen die Raster des Zeitgeistes gefallen und die als Künstler weitgehend vergessen, deren Leistungen freilich von der Unterhaltungsindustrie gnadenlos absorbiert worden sind. „30 Jahre alt, aber seiner Zeit noch immer 20 Jahre voraus“ – die von Filmverleihern benutzten Werbezeilen sind stets mit höchster Sorgfalt zu genießen; im vorliegenden Fall treffen sie 100-prozentig zu. Ein New Yorker Appartement mit Couch, Spiegelwand und sich darin reflektierender, im Unschärfenbereich verschwimmender Stadtwüste: Wohn- und Praxisraum eines Dr. Glassman, der zwischenzeitlich auch Dr. Glazer heißt und vielleicht gar kein Psychoanalytiker ist. Benutzt er nur die Wohnung eines verreisten Freundes für seine voyeuristischen Spiele? Ist er wirklich verheiratet, wie einige Telefonate nahe legen? Wo hält er sich eigentlich auf, als eine hysterische Freundin die Spiegelwand zertrümmert, den Ort des Geschehens in handliche Einzelteile zerlegt und wie eine leibhaftige Schwester von Valerie Solanas mit dem Revolver herumfuchtelt? Antworten werden keine gegeben. Knapp zwei Stunden lang erlebt man das Kommen und Gehen der ausschließlich weiblichen, größtenteils jüdischen Klientel des mysteriösen Dr. Glassman-Glazer. Die neurotische Heulsuse, die schmerzfixierte Nymphomanin, eine hibbelige Kindfrau mit Kinderwagen, eine minderjährige Wahlkampf-Helferin, eine sich als Grande Dame gebende, mütterlich-dominante Ex-Geliebte, schließlich die angebliche Ehefrau – sie alle frequentieren den Raum. Es wird gekifft, getrunken, geredet, geweint, geschrieen, getanzt und kopuliert. Einmal versammelt sich eine obskure Partygesellschaft, darunter ein Clown, der unter seinem Kostüm Frauenkleider trägt, sich später aber als männlicher Transvestit erweist. Episode steht neben Episode, Auftritt reiht sich an Auftritt. Das scheinbar zusammenhangslose Nummernprogramm wird allerdings durch eine Reihe von Konstanten strukturiert. Neben der Person Glassmans und dem Appartement selbst sind dies die Musik von Jefferson Airplane und eine alles „gnadenlos“ aufzeichnende Kamera. Denn der Blick auf die Leinwand – so wird von Beginn an klargestellt – ist gleichzeitig der eines versteckt im Raum installierten Objektivs. Der Zuschauer sieht nur das, was durch die Maschine fixiert wurde, nicht mehr und nicht weniger. Keine zusätzlichen Schnitte, keine kommentierende Musik, keine Schwenks oder Fahrten. „Coming Apart“ als avantgardistische Vorwegnahme des heute virulenten, beim medialen Endverbraucher angekommenen Voyeurismus- und Exhibitionismuswahns zu klassifizieren, greift zu kurz. Schließlich gibt der Film nie eine tatsächliche Authentizität vor. Zum Zeitpunkt der Dreharbeiten – also lange vor dem Einzug der Videotechnik in den Amateurbereich – waren unentdeckte Filmaufzeichnungen im geschlossenen Raum so gut wie unmöglich. Das vorliegende Licht hätte kaum ausgereicht, und da es vollständig geblimpte, handliche Kameras nicht gab, wäre ein verräterisches Motorengeräusch für die Anwesenden wohl unüberhörbar gewesen. Wegen der begrenzten Aufnahmekapazität wäre der sinistre Gastgeber zudem mehr mit dem Wechseln des Filmmaterials im Dunkelsack als mit seinem zweifelhaften Tun vor der Kamera beschäftigt gewesen. Es kann also von einer bewussten Stilisierung ausgegangen werden, die den Zuschauern damals noch bewusster gewesen sein muss als den heutigen. Das Dreieck aus Kamera, Objekt und Zuschauer spielt in der vorliegenden Versuchsanordnung zwar eine wichtige Rolle, aber nicht die primäre. In der Wahl des deckungsgleichen Eins-zu-Eins-Erzählens – wie es später in modifizierter Form auch in „Blair Witch Project“ (33 983) oder „Die Idioten“ (fd 33 631) praktiziert wurde – muss ein Versuch zur Überwindung der herkömmlichen Plot-Dramaturgie gesehen werden. Diese Verweigerungshaltung gegenüber dem braven Geschichten-Erzählen mit seinem ewigen Anfang, Mitte und Ende sowie den entsprechenden Hebungen und Senkungen entspricht der im Film eingefangenen allgemeinen Entropie. Wie schon der Titel verrät, geht es eher um Demontage als um Synthese. Wenn es denn unbedingt Zuordnungen sein müssen, so stellt Milton Moses Ginsbergs Film wohl nichts Geringeres als ein kulturgeschichtliches Missing Link zwischen dem epischen Dekonstruktivismus des frühen Jean-Luc Godard und den minimalistischen Performances Andy Warhols (die wiederum von Jack Smith kommen) dar. Das Entstehungsjahr steht wie kein anderes für die Hybris der Popkultur, die sich nach den Anschlägen auf die Kennedys, Martin Luther King oder auch Andy Warhol, nach den Morden der Manson-Family und der Eskalation auf dem Altamont Rock Festival endgültig ihres Utopie-Potenzials beraubt sah. Psychoanalyse diente in diesem Stadium als Religionsersatz, aber auch als Akkumulator für alle anderen sozialen Defizite und Projektionen. Politik erreicht die „Helden“ von „Coming Apart“ nur noch als Einsprengsel im ewigen Small Talk („Haben Sie die Autobiografie von Malcolm X gelesen?“) oder als pittoreske Bereicherung des Life Styles, wie in Form der drolligen Wahlkampfhelferinnen. Der in seinem Glaskasten gefangene Arzt mit dem metaphorisch überdeutlichen Namen Glassman benötigt eine Kamera, um sich der eigenen Existenz zu vergewissern. Da niemand den Therapeuten therapiert, setzt er auf die Erlösung durch eine Maschine. Vergeblich – er hat sich bereits vollständig aufgelöst, bevor ihn die Rache der psychotischen Ex-Geliebten erreichen kann. Wenn man so will, nahm der fiktive Dr. Glassman damit das Schicksal seines Schöpfers und des Films vorweg, für die Zeitgenossen muss er die Vorhaltung der Spiegelwelt und deren Zerstörung gewesen sein. Die Abstrafung für diesen Regelverstoß formulierte sich in Ignoranz.

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