Unter dem Sand (2000)

Drama | Frankreich 2000 | 95 Minuten

Regie: François Ozon

Während eine etwa 50-jährige Frau am Strand einschläft, geht ihr Mann schwimmen und kommt nie wieder. Sein Verschwinden bleibt ungeklärt, es gibt keine Leiche. Die Frau kann sich nicht damit abfinden, dass er tot sein soll. Sie sieht ihn immer wieder vor sich, spricht mit ihm und hat große Mühe, sich auf ein Leben ohne ihn einzustellen. Spannende, subtil inszenierte Studie über das Unfassbare, die enge Bindung von Paaren, das Trauern und das Weiterleben nach Schicksalsschlägen, aufgezeigt am Porträt einer Frau. Der Film lebt ganz von seiner grandiosen Hauptdarstellerin, aber auch von der Präzision und Intimität, mit der er sie fast dokumentarisch begleitet. (Start von Ozons "Trilogie über die Trauer"; vgl. auch "Die Zeit die bleibt" und "Rückkehr ans Meer") - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
SOUS LE SABLE
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2000
Produktionsfirma
Fidélité Production
Regie
François Ozon
Buch
François Ozon · Emmanuèle Bernheim · Marina de Van · Marcia Romano
Kamera
Jeanne Lapoirie · Antoine Héberlé
Musik
Philippe Rombi
Schnitt
Laurence Bawedin
Darsteller
Charlotte Rampling (Marie) · Bruno Cremer (Jean) · Jacques Nolot (Vincent) · Alexandra Stewart (Amanda) · Pierre Vernier (Gérard)
Länge
95 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Drama

Heimkino

Verleih DVD
Alamode
Verleih Blu-ray
Alamode
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Diskussion
Vom ersten Augenblick an spürt man die enge Verbundenheit zwischen Marie und Julien, die seit 25 Jahren verheiratet sind. Selbst bei so banalen Dingen wie dem Kofferpacken für den Urlaub gehen sie liebevoll miteinander um. Ein intellektuelles Pariser Ehepaar der unaufdringlichen Sorte, harmonisch und glücklich, direkt beneidenswert – so stellt Regisseur François Ozon die Beiden vor. Als sie am Urlaubsort in Südfrankreich ankommen, zieht es sie gleich an den Strand. Der Mann, etwa 60, geht schwimmen, seine vielleicht zehn Jahre jüngere Frau nickt beim Lesen ein. Als sie aufwacht, ist ihr Mann verschwunden. Sie macht sich Sorgen. Als er verschwunden bleibt, wendet sie sich an die Polizei. Die kann zwar keine Leiche finden, glaubt jedoch wie die Nachbarn am Urlaubsort, dass Julien nicht mehr lebt. Marie, die aus England stammende Literaturdozentin, kann und will sich nicht damit abfinden, dass ihr Mann nicht wiederkommen wird – nur widerwillig reist sie nach Paris zurück. Immer wieder sieht sie ihren Mann vor sich, er spricht mit ihr, sie antwortet ihm. Sie weiß, dass er nicht real ist, aber sie kann nicht anders, als ihn immer wieder vor Augen zu haben. Das sagt sie auch ihren Freunden, die sie besuchen, und dem anderen Mann, mit dem sie eine Affäre anfängt. Aber fast alles, was sie macht, geschieht wie in Trance. Allein das fehlende Geld – wenn der Ehemann verschollen bleibt, dauert es in Frankreich zehn Jahre, bis man über sein Vermögen verfügen kann – zwingt sie wieder zu arbeiten und sich dem Leben zu stellen. Doch innerlich braucht sie sehr lange, um sich auf die neue Situation und ihr neues Leben einzustellen. Als sie es endlich geschafft hat, findet die Polizei am Urlaubsort eine Leiche. Ob es ihr Mann ist, bleibt im Dunkeln. Auch wenn Ozon seinen Film über weite Strecken so aufbaut, als wäre es ein Kriminalfall, den es zu lösen gilt, ist ihm etwas anderes viel wichtiger: das, was „unter dem Sand“ liegt, das, was man nicht sieht – und was Marie nicht ausspricht. Das Schlimme für sie ist weniger die Ungewissheit, ob ihr Mann noch lebt oder nicht, ob er sich umbringen wollte, ermordet wurde, ob es einfach nur einen Unfall gegeben hat oder ob er sie verlassen wollte. Das Schlimme für sie ist, dass mit ihm ohne Vorwarnung der wichtigste Teil ihres Lebens verschwunden ist – und sie lernen muss, sich mit dem Unfassbaren abzufinden, zu trauern und sich auf ein neues Leben einzustellen. Routinierte Handgriffe werden plötzlich fraglich, wenn sie in Gedanken immer noch den Frühstückstisch für ihn mit deckt. Fragen nach dem Tagesablauf erscheinen absurd, wenn sie einen Unsichtbaren fragt, was sie tut soll. Zwar zeigt sich Marie durchaus ihrer neuen Realität gewachsenen, wenn sie mit Freunden redet oder der harschen Schwiegermutter oder mit ihrem neuen Geliebten im Bett liegt – aber die Momente sind kurz, weil sie immer wieder auf „ihn“ zu sprechen kommt. Ozon zeigt die Zerrissenheit, die der Verlust des geliebten Menschen mit sich bringt als Leidensweg einer Frau in ihren besten Jahren. Charlotte Rampling spielt die ungewöhnlich schöne, verletzte Frau mit einer faszinierenden Mischung aus Entrücktheit, Natürlichkeit und strenger Kühle. Während Juliette Binoche als Witwe Mitte 20 in Kieslowskis „Drei Farben: Blau“ (fd 30 507) nach dem Tod ihres Mannes eher melancholisch wird und sich bewusst ablenkt, isoliert sich Charlotte Rampling als ratlose, zutiefst verletzte Frau in einer Art Kokon und lässt niemanden wirklich an sich herankommen – bis sich am Ende andeutet, dass sie mit sich und ihrem Leben wieder im Reinen ist. Der Film geht auf ein Kindheitserlebnis Ozons zurück: Er sah bei seinen Ferien am Meer, dass genau dies einem holländischen Ehepaar passierte, und fragte sich, wie die Ehefrau wohl reagieren könnte. „Unter dem Sand“ lebt ganz von seiner grandiosen Hauptdarstellerin, aber auch von der Präzision und Intimität, mit der Ozon sie fast wie ein Dokumentarfilmer begleitet, dabei jedoch Stimmungen weniger über Worte als über Blicke, Gesten und die Musik („Portishead“, Chopins Préludes, Mahlers 2. Sinfonie) mitteilt. Dass Ozon präzise beobachten kann, war schon in seinem bemerkenswerten halblangen Film „Regarde la mer“ (in: „François Ozons Kurzfilme“, fd 34 603) zu sehen, wo er eine Frau um die 30 und ihre kleine Tochter beim Urlaub am Meer beobachtet und die Beziehung der Mutter zu einer anderen jungen Frau, die für diese tödlich endet. Auch in „Tropfen auf heiße Steine“ (fd 34 602) nach Fassbinders Theaterstück ging es darum, was der Geliebte für den anderen Menschen bedeutet, ebenso in „Les amants criminels“ (1998). Ausgehend von eigenen Erfahrungen, verdichtet Ozon auch hier Fakten und Fiktives zu ebenso nachdenklichen wie voller innerer Spannung steckenden Beschreibungen von Menschen in ungewöhnlichen Liebesbeziehungen. Mit „Unter dem Sand“ hat er darüber hinaus eine der schönsten Rollen für eine Frau über 50 geschrieben.
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