Die poetische Dokumentation über die kunstvollen Graffiti auf den New Yorker Hochbahnen im Jahr 1979 zeigt die verschiedenen Formen dieser heute verschwundenen Form der illegalen Spontankunst mit tristen Alltagsbotschaften aus dem schwarzen Ghetto, aber auch Parallelen zu den legalen, oft aggressiveren Werbetafeln am Wegesrand. Ein meisterhaft fotografiertes stimmungsvolles Zeitzeugnis, das sich jeden Kommentars enthält, aber durch die anachronistische Jazzmusik und den malerisch-musikalischen Rhythmus die Spraykunst auch nostalgisch verklärt. (O.m.d.U.)
- Sehenswert.
Stations of the Elevated
- | USA 1979 | 46 Minuten
Regie: Manfred Kirchheimer
Kommentieren
Filmdaten
- Originaltitel
- STATIONS OF THE ELEVATED
- Produktionsland
- USA
- Produktionsjahr
- 1979
- Produktionsfirma
- streetwise films
- Regie
- Manfred Kirchheimer
- Buch
- Manfred Kirchheimer
- Kamera
- Manfred Kirchheimer
- Musik
- Charles Mingus
Diskussion
Langsam zieht der Titelschriftzug durchs Bild, wie ein Zug, der anfährt - und gibt den Blick frei auf eine Ansammlung länglicher Dächer aus der Vogelperspektive. Sie wirken wie schlafende Schlangen, abstrakt und grünbeige, sorgsam gegliedert wie ein konstruktivistisches Gemälde. Dann bewegt sich doch etwas. Aber erst, wenn das typische metallische Quietschen ertönt, weiß man, dass man es wirklich mit Zügen zu tun hat. Zaghaft setzt ein Schlagzeug ein, eine Lok pfeift, ein Basslauf kommt dazu, die Musik wird dichter, und endlich sieht man eine der Hochbahnen von der Seite mit bunten Graffitis übersät quer durchs Bild fahren, dann eine Zweite, eine Dritte, alle von rechts nach links, in einem ganz ungewöhnlichen Rhythmus. So beginnt „Stations of the Elevated“. Wer sich auf diese ruhige, atmosphärische Dokumentation mit ihren vorbeiziehenden Zugbildern, spärlichen Geräuschen und der schwebenden Musik von Charles Mingus einlässt, der ist schon nach wenigen Minuten gefangen von dieser eigentümlichen Welt. Die Franzosen sagen „Cinépoème“ zu so einem Film, der ganz von seiner Stimmung lebt, ohne Kommentare auskommt, stellenweise wie ein Experimentalfilm wirkt, wie Malerei in Bewegung oder auch wie bebilderte Musik.Nostalgische Gefühle kommen auf: Als Manfred Kirchheimer 1979 die Graffiti-Kultur der New Yorker Hochbahnen mit seiner Kamera festhielt, war sie schon im Verschwinden begriffen, weil der New Yorker Bürgermeister den Sprayern den Kampf angesagt hatte und die Bahnen so schnell säubern und imprägnieren ließ, dass die sie keine Chance mehr hatten. Auch die Jazz-Musik war 1979 ein Anachronismus, denn zur Kultur der schwarzen Sprayer gehörten Rap und Breakdance, nicht die so schön einlullende Jazzmusik, ohne die der Film eine ganz andere Stimmung hätte. Kirchheimer hat auch bewusst die schönsten Züge gefilmt, mit Graffiti, die wirklich Kunstwerke sind wegen ihrer kantig ineinander verschlungenen Buchstaben, die man oft erst auf den zweiten Blick entziffern kann: „Pusher“ „Slave“, „Crime“, „Hate“, „Earth is Hell“ ist da zu lesen, Anklagen an eine unmenschlich gewordene Welt. Hoffnung spendende Worte wie „Heaven is Life“ finden sich nur selten, meint doch der mehrdeutige Filmtitel nicht nur „Bahnhöfe der Hochbahn“, sondern erinnert auch die Stationen eines Kreuzweges. Aber eine Jesus-Figur taucht nicht auf, stattdessen fahren Charlie Brown und Micky Maus auf dem Zug. Die gemalten Comic-Helden finden ihre Pendants in den ebenfalls comichaften, aber viel bedrohlicher wirkenden Cowboys auf den riesigen Werbetafeln an den Bahnhöfen, auf Werbetafeln und Hauswänden entlang der Strecke. Irgendwann fahren die Züge schneller, und in der entgegen gesetzten Richtung werden die Malereien aggressiver: Man sieht in die Mündung eines Revolvers, auf weiße Totenköpfe, auf gewaltige stählerne Brückenkonstruktionen, zwischen denen die Züge durchfahren, auf triste Hochhaussiedlungen aus rotem Backstein, vor denen schwarze Kids spielen, auf einen ausrangierten Panzer mitten auf der Wiese. Das sind die Momente, in denen man spürt, dass es Kirchheimer jenseits aller Ästhetik auch darum ging, das Leben im schwarzen Ghetto zu zeigen, das solche Graffiti entstehen ließ.Mit „Stations of the Elevated“ hat der 1931 in Saarbrücken geborene jüdische Dokumentarfilmer, der schon 1936 mit seinem Eltern auf der Flucht vor den Nazis in Amerika landete, seinen zweifellos besten Film gedreht. Das kommentarlose Gegenüberstellen der illegalen Graffiti-Kunstwerke mit den gesellschaftlich anerkannten auf den Werbetafeln, die nachdenklich machenden Graffiti-Texte, die langsame Fahrt der Züge aus der überladenen Stadt hinaus in die ländlichen Vororte, die selbst wie Graffiti-Figuren wirkenden meist nur als Schatten wartenden Menschen auf den Bahnsteigen - all diese meisterhaft fotografierten Szenen wirken heute, 20 Jahre später, da diese Subkultur in die moderne Kunstwelt integriert und verfremdet ist - noch eindringlicher als zu ihrer Entstehungszeit. Dass dieses Zeitzeugnis, das in Deutschland in den 80er-Jahren nur auf Festivals zu sehen war, jetzt doch noch ins Kinos kommt, ist ein kleines Wunder, auch wegen der seiner Dauer von nur 46 Minuten. Im Beiprogramm gibt es darum noch einen zweiten Films Kirchheimers, den 15-minütigen Kurzfilm „Claw“ („Klaue“, 1968), eine ebenfalls wortlose Studie: Ein riesiger Abrissbagger verrichtet sein Werk wie ein böses Monster und bringt im Dienst der Stadtsanierung ein Haus zum Einsturz - fast so lyrisch und anklagend wie der Zugfilm. So kann man spät, aber vielleicht nicht zu spät, nach dem traditionell gemachten Kirchheimer-Dokumentarfilm „We Were So Beloved“ (1985) über vor den Nazis geflohene Juden, die sich in den USA ansiedelten, auch einen sehr poetischen Dokumentarfilmer und sein schmales Werk kennen lernen; denn der Dozent der New Yorker School of Visual Arts, der seit Mitte der 80er-Jahre regelmäßig beim Saarbrücker Max-Ophüls-Festival die Filme seiner Studenten zeigt, hat seit 1965 nur etwas mehr als eine Hand voll Filme finanzieren und drehen können.
Kommentar verfassen