Beim Attentat auf einen Bus überleben nur der Fahrer sowie ein Geschwisterpaar. Paradoxerweise macht sie ihr Überleben in noch höherem Maße zu Opfern als diejenigen, die getötet wurden: Die Stigmatisierung durch die Tat lässt sie zu Außenseitern werden. Nach zwei Jahren des Umherirrens kehrt der Fahrer zurück, zieht bei den allein lebenden Kindern ein. Die Annäherung wird durch eine Mordserie überschattet. Ein formal wie thematisch herausragender Film über Verantwortung, die unmerkliche Verschiebung von Wahrnehmungsmustern sowie die Chance des Zurückfindens. In kompositorisch faszinierenden Bildtableaus entfaltet sich ein Opus, das Foucaultsche Theorien und westlich geprägte Kinematografie mit fernöstlicher Mystik und Ästhetik verbindet und dabei Wege zum Überleben, zur Hoffnung und zur Aussöhnung mit der Erinnerung aufzeigt. (Großer Preis der Ökumenischen Jury in Cannes 2000)
- Sehenswert ab 16.
Eureka (2000)
- | Japan 2000 | 217 Minuten
Regie: Shinji Aoyama
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Filmdaten
- Originaltitel
- EUREKA
- Produktionsland
- Japan
- Produktionsjahr
- 2000
- Produktionsfirma
- Suncent CinemaWorks/Les Films de l'Observatoire
- Regie
- Shinji Aoyama
- Buch
- Shinji Aoyama
- Kamera
- Masaki Tamra
- Musik
- Isao Yamada · Shinji Aoyama
- Schnitt
- Shinji Aoyama
- Darsteller
- Kôji Yakusho (Makoto Sawai) · Sayuri Yakusho (Yumiko) · Yohichiroh Saitoh (Akihiko) · Yatuka Matsushige (Matsuoka) · Sansai Shiomi (Yoshiyuki Sawai)
- Länge
- 217 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
Diskussion
Sei es, weil die traditionellen japanischen Rollbilder eine Jahrhunderte währende Schule der horizontalen Bildkomposition gestiftet haben, sei es auch nur, weil sich die Schönheit des Fudschijama, des Heiligen Bergs Nippons, erst im Panorama-Blick in voller Gänze erfassen lässt – fest steht, dass das Scope-Format besonders adäquat zur Kultur Japans zu passen scheint. Wie dem auch sei: Nach Akira Kurosawa gilt es, mit Shinji Aoyama einen weiteren japanischen Meister des breitesten aller Leinwandformate zu feiern. „Eureka“ erweist sich aber nicht nur in bildkompositorischer Sicht als ausufernd: Mit fast vier Stunden Laufzeit stellt er daneben ein erzählerisch-dramaturgisches Superlativ erster Güte dar. Verblüffend ist der Film nicht zuletzt auch wegen seiner souveränen Raum-Zeit-Verschränkungen. All diese Komponenten haben unmittelbar miteinander zu tun. Erst ihr Zusammenwirken macht die Qualität dieses Ausnahmefilms aus.
In der Nähe einer abgelegenen Kleinstadt auf Kyushu, der drittgrößten Insel Japans, ereignet sich eine Katastrophe. Sämtliche Insassen eines Busses werden durch einen offenbar psychopathischen Amokläufer erschossen. Nur ein Geschwisterpaar, Mädchen und Junge, das auf dem Weg zur Schule war, und der Busfahrer überleben das Massaker. Für die Überlebenden setzt sich die Tragödie nach der Trennung fort. Die Stigmatisierung durch die irrationale Tat lässt sie zu Außenseitern werden – weder sie selbst, noch ihre unmittelbare Umgebung vermögen, mit der Zäsur umzugehen. Der Busfahrer Makoto verlässt sein Anwesen und kehrt erst nach zwei Jahren des ziellosen Umherirrens verwahrlost in seine Heimat zurück. Kozue, das zehnjährige Mädchen, und Naoki, ihr etwa zwei Jahre älterer Bruder, werden von ihrer Mutter verlassen. Kurz nach der Trennung stirbt ihr Vater. Als Vollwaisen verweigern sie jede Kommunikation mit der Außenwelt: Sie verschanzen sich in ihrem abseits gelegenen Haus, gehen nicht mehr zur Schule und sprechen kein einziges Wort mehr. Parallel zu Makotos Heimkehr wird die Gegend durch eine Serie von Frauenmorden erschüttert. Sofort fällt er Verdacht auf ihn. Nachdem ihm die eigenen Verwandten das Vertrauen entzogen haben, kommt er bei seinen beiden Leidensgefährten unter. Gemeinsam mit dem zur Betreuung der Kinder von deren Familie nach Kyushu beorderten Cousin Akihiko, einem 22-jährigen Tokioter Studenten, macht sich das ungleiche Quartett auf eine Reise über die Insel, das Meer ist ihr Ziel. Der Tod scheint indes auch weiterhin ihr Reisebegleiter zu bleiben.
„Eureka“ muss als ein filmisches Phänomen eingestuft werden. Mag die Dauer des Films zunächst abschrecken, so erweist sich die Erzählstrategie als überaus ökonomisch. Es gibt kein überflüssiges Bild, keine Geschwätzigkeit oder Lückenfüllerei – aber auch keinen Augenblick Langeweile. Grob betrachtet, gliedert sich die psychologische Odyssee in drei Blöcke. Im ersten, kürzesten Teil handelt es sich um einen Thriller, um die Eskalation einer aus dem Nichts in den Alltag der drei Hauptfiguren hereinbrechenden, nicht benennbaren Gewalt. Es geht nicht um den Täter und dessen eventuelle Motivation, es geht nur um die Auswirkungen auf die Überlebenden. Paradoxerweise macht ihre Rettung sie in höherem Maße zu Opfern als diejenigen, die ermordet worden sind. Das konsequente „Auf-Lücke-Erzählen“ und die mustergültige Bild-Ton-Montage erinnern dabei an den auch inhaltlich verwandten Film „Das süße Jenseits“ von Atom Egoyan (fd 33 033), entwickelt aber eine völlig eigenständige Qualität. Im Mittelteil dient der Kriminalplot als Hintergrund für die langsame Annäherung von Makoto an Kozue und Naoki. Eine ganz vorsichtige Normalisierung scheint möglich, die Bedrohung bleibt indes latent. Im letzten Teil endlich entschließt sich der ehemalige Busfahrer zu noch aktiverem Handeln: Er zwingt das traumatisierte Geschwisterpaar, die gewohnte Umgebung zumindest zeitweilig hinter sich zu lassen, und beschwört damit eine Lösung des Konflikts herauf. Hier wird der Film äußerlich zum Road Movie, benutzt aber dieses Genre nur – wie in den anderen Segmenten auch schon – als äußere Hülle für die Sichtbarmachung innerer Metamorphosen. Wenn sich zum Schluss Kozue aus der eigenen Erstarrung befreit, auf das offene Meer zugeht und zu sprechen beginnt, entfaltet sich die kathartische Energie dieser langen filmischen Reise mit voller Wucht. Dass dabei das Schwarz-Weiß in Farbe umkippt, nimmt man als vielleicht etwas zu symbolische Zugabe auf diese Erlösung gern in Kauf.
Es stimmt ja nicht, dass das Unheil in eine unschuldige Idylle einschlägt. Von den ersten Bildern an verbreitet sich die Stimmung einer anonymen, in jedem Detail lauernden Bedrohung. Wenn die beiden Kinder den Unglücksbus betreten, ist zunächst nicht einmal klar, dass es sich um Geschwister handelt. Ihr Umgang untereinander erscheint verkrampft, bereits von einem Trauma belastet. Die Mutter am Zaun, die das Geschehen wenig später zum Anlass nimmt, um das Weite zu suchen, winkt zum Abschied so mechanisch wie die Feuerwehrmänner in David Lynchs „Blue Velvet“ (fd 26 040). Und Kozue winkt ebenso automatisiert zurück. Das Walten des Mörders fungiert bei Schwester und Bruder, wie bei dem Busfahrer auch, als Katalysator immanenter Verletzungen. Nach der Tat treten alle Drei in eine Zwischenwelt ein, in ein transzendentes Limbo-Universum, das nur noch wenige Kontaktpunkte zur „wirklichen Wirklichkeit“ aufweist. „Eureka“ als einen Film der Resozialisierung, der psychologischen Rehabilitierung nach einem Schockerlebnis zu beschreiben, würde ihn hinter sein eigentliches Maß zurückstutzen; ein Film über Verantwortung aber ist „Eureka“ sehr wohl, und zwar einer der konsequentesten, die in letzter Zeit zu sehen waren. Makoto als der in der vorliegenden Konstellation am meisten zur Reflexion Fähige stellt die eigenen Integrationsversuche ausschließlich in die Funktion seiner Beziehung zu den Kindern. Er hat eine Frau verlassen und schlägt die Avancen einer anderen aus, kehrt zurück in seine mit Häme und Vorurteilen durchsetzten Heimat; nur wegen dieser ihm eigentlich unbekannten Kinder. Einem systematischen Plan folgt er dabei keineswegs, spürt jedoch, der vielleicht einzig wahrnehmbare Punkt für die Geschwister zu sein. Durch die Wahnsinnstat hat sich das Koordinatensystem der Realität für die Überlebenden verschoben, hat sie zu „Asozialen“ gemacht, die keinen Wert mehr auf gesellschaftliche Kompatibilität legen, die damit aber auch auf sämtliche damit verbundenen Glücksmomente verzichten müssen. Die Mission Makotos besteht in der Rückführung Kozues in eine Wahrnehmung, die ihr ganz konkret und individuell Zugang zu einer höheren Lebensqualität ermöglicht. Er nimmt die Aufgabe eines Lotsen für diese „Alice in Horrorland“ auf sich, für den – wie für den selbst zum Mörder werdenden Jungen – die Rettung schon zu spät ist. Dabei sagt der Film noch nicht, dass die eine Realität weniger wirklich sei als die andere. Für die Kinder und den ehemaligen Busfahrer nämlich ist der Zustand der Traumatisierung ein überaus wirklicher.
Regisseur Shinji Aoyama stellt die Ebenen nebeneinander, baut dabei keine Hierarchie auf. „Eureka“ verkörpert nicht mehr und nicht weniger als ein seltenes Beispiel der Verschmelzung Foucaultscher Theorien und westlich geprägter Kinematografie mit fernöstlicher Mystik und Ästhetik. Ein Glücksfall für die mit Innovationen chronisch unterversorgte Filmlandschaft.
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