Was für ein Leben hat wohl die Frau, die sich gerade im Café an der Ecke einen Espresso bestellt? Wie mag das Haus jenes Mannes aussehen, der soeben eilig die Straße entlang hastet, um ein Taxi abzufangen? Was macht der alte Herr, der gerade den Buchladen verlässt, den heutigen Tag über, bis er schließlich die Tür seiner kleinen Wohnung am Rande der Stadt aufschließt?
Bill ist Schriftsteller, jedenfalls bezeichnet er sich so, wenn jemand nach seinem Beruf fragt. Doch er hat weder Erfolg mit dem, was er tut, noch ist er in der letzten Zeit überhaupt sonderlich produktiv gewesen. Wenn schon mit der Profession kein Geld hereinkommt, ist es zumindest beruhigend zu wissen, dass sich mit ihr das schlechte Gefühl eindämmen lässt, das jeden „normalen“ Menschen beschleicht, wenn er das tun würde, was Bill tut. Er redet sich ein, dass er den wildfremden Menschen nur wegen der Recherche für ein neues Buch folgt. Überhaupt habe er sich strikte Regeln auferlegt, um nicht etwa als potenzieller „Frauenbelästiger“ oder gar als Spanner zu gelten. So folgt er derselben Person nie zweimal und dringt niemals in die Wohnungen der Observierten ein, und Frauen folgt er grundsätzlich nicht; obwohl es ihn am ehesten reizt, diese Regel einmal außer Kraft zu setzen. Bill geht davon aus, dass er im (Ver-)Folgen von Menschen eine gewisse Perfektion erreicht hätte; umso intensiver ist für ihn die Mischung aus Schock und peinlichem Berührtsein, als sich ein Mann unvermittelt an seinen Tisch setzt und ihn zur Rede stellt. Dass sich aus dieser zutiefst blamablen Situation die Erfüllung seiner geheimsten Wünsche entwickeln würde, hätte sich Bill nicht erträumen lassen. Aber Cobb scheint eine Art Seelenverwandter zu sein. Oberflächlich gesehen könnte man ihn als Einbrecher bezeichnen, doch er öffnet keine fremden Türen, um sich schnöde zu bereichern, dringt vielmehr in Wohnungen eines diffusen Kicks wegen ein. Interessiert ist er an Kleinigkeiten wie etwa CD-Sammlungen oder einer Flasche Wein aus dem Kühlschrank. Spannend ist für ihn das Verändern, das Eindringen in andere Privatsphären sowie die Vorstellung, dass den Geschädigten all dies bewusst ist. Bill freundet sich mit Cobb an und darf ihn schon bald auf etlichen „Raubzügen“ begleiten. Bislang war er davon ausgegangen, dass er sich niein ein Objekt seiner Observationen verlieben würde, dass er es ansprechen und mit ihm ein Verhältnis anfangen würde. Doch mit „der Blonden“ tritt genau dieser Glücksfall ein.
Nichts ist so wie es scheint. Nach „Insomnia – Schlaflos“
(fd 35 617) und „Memento“
(fd 35 173) gehört dieser Allgemeinplatz zum inszenatorischen Konzept von Christopher Nolan. Umso stärker manifestiert sich dieser Eindruck mit dem Blick auf „Following“. Nolans Debütfilm aus dem Jahr 1999 wirkt wie eine Rohskizze für all die mit Falltüren und Sackgassen gespickten Irrwege, durch die der Regisseur in seinen späteren Filmen leitet. Über weite Strecken vermittelt Nolan den Eindruck, dass es seine Hauptfigur Bill ist, die die Fäden in der Hand hält und seine Umwelt kontrolliert, und man begibt sich mit ihm auf eine faszinierende Entdeckungsreise. Das Abenteuer führt indes nicht, wie in Genrefilmen üblich, an exotische Orte, an denen Helden ihre Prüfungen bestehen; Spannung und Faszination entstehen hier aus dem Alltäglichen, aus den Geheimnissen der unmittelbaren Nachbarschaft. Irgendwie kann man nachvollziehen, was Bill daran reizt, Menschen derart zu erkunden, auch wenn man sich nicht zugestehen möchte, solch Tabubrüche selbst zu begehen.
Doch dann kommt der Moment, an dem aus dem Spieler der Spielball wird. Bill wird Opfer einer Intrige und entpuppt sich als jemand, der sein Tun zu keiner Zeit unter Kontrolle hatte. Hier nun beginnen die Schwierigkeiten: In Thrillern mit politischen Intrigen oder dunklen Machenschaften im Drogen-Milieu mag man es gewöhnt sein, aufwändig hinter das Licht geführt zu werden; im überschaubaren Mikrokosmos von „Following“ stellt sich indes die Frage nach der Verhältnismäßigkeit. Die ganze Lug- und Trugaktion, mit der Bill zum Werkzeug einer Erpressergeschichte gemacht wird, erscheint ein wenig überdimensioniert. Erst wenn man dazu bereit ist, den Wechsel des Films vom rätselhaften Drama zum klassischen Thriller mitzumachen, verfolgt man auch das letzte Drittel des Films mit großer Faszination. Hilfreich sind dabei vor allem die überzeugend agierenden Schauspieler und der brillant gestaltete „Look“ des Films. Mag sein, dass die atmosphärischen Schwarzweiß-Bilder und die mitunter raue Kameraführung auch durch das bescheidene Budget des Films bedingt sind. Nicht zuletzt die brillante Schnittführung, die die atemberaubenden Zeitsprünge in „Memento“ vorwegnimmt, verdichtet allerdings den Eindruck, dass hier einem großen Talent mit bescheidenen Mitteln eine beachtliche Film-Noir-Variation gelungen ist.