Noch im Jahr 1990 habe ich in einem Porträt des Regisseurs und Produzenten Steven Spielberg dessen Werk als eine Verzettelung zwischen Kindheitsträumen und mißlungenem Erwachsenwerden charakterisiert („Hollywoods Wunderkind – Magie und Einfalt des Steven Spielberg“, fd 9/1990). Seit „Schindlers Liste“
(fd 30 663) weiß man, daß es inzwischen auch einen anderen Steven Spielberg gibt. Der Mann, der weiterhin Saurierfilme fürs Millionenpublikum macht, versteht sich an der Wende zu seiner zweiten Lebenshälfte auch als eine Art filmischer Historiker und Humanist. Seine Filme haben das Geschichtenerzählen nicht aufgegeben, aber die Inhalte der Geschichten haben sich gewandelt – und mit ihnen die Blickrichtung und das innere Engagement. Konnte die New Yorker Kritikerin Pauline Kael bei Spielbergs „Das Reich der Sonne“
(fd 26 701) noch von einer „Kombination aus guter Handwerksarbeit und nahezu unglaublicher Geschmacklosigkeit“ reden, so rieben sich selbst die harschesten Kritiker von „Schindlers Liste“ und „Amistad“
(fd 33 014) vornehmlich an der Konsumierbarmachung des Grauenhaften und an der Dialektik von „Kunstwahrheit“ und „Faktenwahrheit“. Meist war von einer „persönlichen Rehabilitierung“ und von einem „Erwachen“ Spielbergs die Rede (Georg Seeßlen).Das Erwachen Steven Spielbergs setzt sich fort. Schon als 13jähriger hat ihn der Krieg beschäftigt („Escape to Nowhere“), und mit Krieg hatten seitdem – auf oft sehr naive Weise – fast alle seine Filme etwas zu tun, auch wenn es Kriege gegen Haie und Dinosaurier waren. Wie sehr ihn Kriege fasziniert haben, demonstrieren die mißglückte Komödie „1941“
(fd 22 415) und die abenteuerlichen „Indiana Jones“-Filme (fd 23 185/fd 24 708/fd 27 831) ebenso wie seine erste scheinrealistische Einlassung mit einem Stück historischen Krieges in „Das Reich der Sonne“. Doch präpariert für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema hat ihn offenbar erst seine „Trauerarbeit“ über den Holocaust. Wird Spielberg nach „Schindlers Liste“ in einer filmischen Rekapitulation des Kampfes der „Befreier“ gegen die „Mörder und Unterdrücker“ dem Krieg gegen das Deutschland Adolf Hitlers anders begegnen können als einem „heiligen Krieg“? Muß nicht in seiner Vorstellung der Pazifismus etwa eines Erich Maria Remarque hinter dem Schreckensbild der Millionen getöteter Juden zurücktreten? Fragen, die sich unweigerlich vor dem Besuch von „Der Soldat James Ryan“ stellen. „Nur die Toten haben den Krieg ganz erlebt“, hat Remarque sinngemäß geschrieben. „Die Überlebenden neigen dazu, ihn in fürchterlicher Überheblichkeit zu einem glücklich überstandenen Abenteuer zu erklären“ (Nachwort zur jüngsten deutschen Auflage von
„Arc de Triomphe“). Spielberg hat die „Abenteuerphase“ hinter sich. Aus „Der Soldat James Ryan“ sprechen nur noch die Toten.Die Story, der er sich annimmt, hat Allegoriecharakter. Die acht Mann, die unter der Führung von Captain Miller nach der Landung der alliierten Truppen in der Normandie einen Sonderbefehl auszuführen haben, sind nicht abgestellt, um gegen den Feind zu kämpfen, sondern um einen der ihren in den Wirren der Invasion aufzustöbern und unverletzt nach Hause zu bringen. Eine humane Tat inmitten sich austobender Inhumanität. Für Spielberg, wenn man will, auch eine Parallele zu Oskar Schindler. Grund des außergewöhnlichen Befehls: Im Oberkommando ist bekannt geworden, daß drei von vier Söhnen einer Farmerswitwe bereits im Kampf gefallen sind; den vierten will man retten. Was menschlich aussieht, wird durch die Perversion des Krieges aber sogleich ins Gegenteil verkehrt: Ist es ein Menschenleben wert, acht andere aufs Spiel zu setzen? Die Story von dem „wie eine Stecknadel in einem Haufen Stecknadeln“ (Dialog) gesuchten Private Ryan läßt sich für den Zuschauer unschwer auf den Krieg als solchen übertragen. Der Film sucht Antworten, aber im Angesicht des Todes verblaßt jede Antwort zum hilflosen Rechtfertigungsversuch. Noch bevor überhaupt der Name des Gesuchten erwähnt wird, eröffnet Spielberg seinen Film mit einer 20minütigen Sequenz, die alles in den Schatten stellt, was bisher im amerikanischen Kino versucht worden ist, um Krieg darzustellen. Später, wenn man das Grauen dieser Bilder ein wenig abgeschüttelt hat, drängt sich der Gedanke auf, daß all die technischen Raffinessen früherer Spielberg-Filme nicht umsonst waren: Ohne die dort erworbene Souveränität wäre Spielberg wohl kaum in der Lage gewesen, dieses Inferno auf eine Weise zu inszenieren, die das Publikum mit hineinreißt in eine Dokumentation des Massentodes, der nichts Artifizielles mehr anhaftet, sondern die sich ausnimmt wie ein bisher unentdeckt gebliebenes Stück Film eines Kriegsberichterstatters. Daß nur die Toten den Krieg ganz erlebt haben, steht damit gleichsam als Präambel über diesem Film und über der Wiederbelebung eines Genres, bevor noch der erste Dialogsatz gefallen ist.Handelt dieser Anfang vom namenlosen Massensterben, so konzentriert sich der Hauptteil auf das Sterben des Einzelnen. Captain Miller und seine Männer, obwohl gelegentlich von Zweifeln an ihrer Aufgabe heimgesucht, tun ihre Pflicht. Für Heldentaten bleibt kein Platz. Die Stationen ihrer Suche nach dem im Kampfgeschehen verschollenen Private Ryan sind Variationen des Sterbens, von denen keine das Zeug zum heroischen Tod besitzt. Spielberg spart auch die psychischen Folgen des Kriegs nicht aus, das Aufflammen von Haßgefühlen und die elementare Angst um das eigene Leben. Die Frage nach dem Sinn der Suchaktion und mit ihr die Frage nach dem Sinn des Krieges, zu Beginn noch von Bedeutung, stellt sich immer weniger; sie wird im Widersinn der Ereignisse ad absurdum geführt. Aber da Spielberg nicht nur einen Film über die Toten, sondern auch einen Film für die Lebenden machen wollte, hat er der Rekonstruktion des Kriegsgeschehens einen Rahmen gegeben, der sich mit Gefühlen und Reaktionen beschäftigt, die nach dem Schreckensbild des kollektiven Todes seltsam deplaziert wirken, obwohl auch sie in der Realität begründet sind. Schon 1972, während einer Werbereise für seinen Fernsehfilm „Duell“
(fd 18 419), hatte Spielberg die Grabstätten der Gefallenen in der Normandie besucht und einen alten Mann beobachtet, der mit seiner ganzen Familie gekommen und vor den endlosen Reihen von Kreuzen und Davidssternen auf die Knie gesunken war. Das Bild ist in seinem Kopf geblieben und wird nun im Film mit dem gealterten Private Ryan gleichgesetzt. Wirkt die Szene zu Beginn des Films noch relativ neutral, so erscheint sie in der Wiederaufnahme zum Schluß geradezu pathetisch, sentimental und mit einer die Leinwand füllenden amerikanischen Flagge auch unangebracht patriotisch. Nachdem er 150 Minuten lang demonstriert hat, daß der moderne Krieg für solchen Gefühle keinen Raum läßt, fällt Spielberg der unpopulären Konsequenz seines Films gleichermaßen in den Rücken und gestattet dem Kinopublikum doch noch jenen Augenblick der billigen Rührung, auf den es so lange verzichten mußte.„Der Soldat James Ryan“ wäre ohne den amerikanischen Kriegsfilm früherer Jahrzehnte nicht denkbar. Spielberg selbst beruft sich auf den starken Einfluß, den William Wellmans „Kesselschlacht“ (fd 6 871) und Allan Dwans „Todeskommando Iwo Jima“
(fd 19 119) auf ihn ausgeübt hätten. Vergleicht man „Der Soldat James Ryan“ mit thematisch ähnlichen Kriegsfilmen, etwa auch mit John Fords „Schnellboote vor Bataan“ (fd 4 974) oder dem von vier Regisseuren inszenierten Invasionsdrama „Der längste Tag“
(fd 11 524), so ist Spielbergs fast dokumentarisch anmutender Realismus eher den erschütternden Bildern des
„LIFE“-Fotografen Robert Capa verwandt als der Tradition des Kriegsfilms Marke Hollywood. Spielbergs Film ließe sich in einem Atemzug mit G.W. Pabsts „Westfront 1918“ (fd 8 051), Lewis Milestones „Im Westen nichts Neues“ (fd 1 684) und Kon Ichikawas „Nobi“
(fd 10 476) nennen, hätte er sich nicht mit einem in der Detailarbeit allzu schwachen Drehbuch begnügt, dessen Defizite die Regie zwar über weite Strecken optisch wettzumachen versucht, das aber einfach nicht die zeitliche Dimension beisteuern kann, die dieser Film eigentlich verdient. Dadurch zerflattert die Story gelegentlich in episodischer Zufälligkeit und die Hinterfragung des Krieges in Gedankenfragmente, deren historischer Kontext als ungenügend spürbar wird. Um so bemerkenswerter tritt Spielbergs Talent in Erscheinung, seine strikte Verweigerung, Krieg als Stätte menschlicher Bewährung zu sehen, allein durch die kalkulierte Organisation filmischer Mittel bis zum Punkt des totalen Desasters sichtbar und nachempfindbar zu machen. Daß die nach einer Blume ausgestreckte Hand des Gefreiten Bäumler (in Milestones „Im Westen nichts Neues“) dem Zuschauer letztlich mehr zu Herzen geht als alles Getöse und blutiges Chaos von Omaha Beach, hat nicht nur etwas mit Spielberg zu tun, sondern auch mit der zunehmenden Anonymität moderner Materialschlachten. (Vgl. auch Artikel zu „Der Soldat James Ryan“ in dieser Ausgabe, S.4)