Robert Anton Wilson hat mit seinem dreibändigen Fantasy-Roman „Illuminatus!“ einen faszinierenden Kosmos aus Verschwörung und Gegenverschwörung entworfen, der bei aller Detailversessenheit und scheinbar endgültiger Weltendeutung doch stets eine ironische Distanz zum Gegenstand bewahrt. Sein an Jules Vernes Kapitän Nemo erinnernder Held namens Hagbard Celine kreuzt in einem Unterseeboot quer durch die Ozeane dieses Planeten, ständig und überall im Kampf gegen die allgegenwärtigen Illuminaten, die sich anschicken, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Freilich verkörpern in diesem System die Illuminaten (die es tatsächlich gegeben hat) nur die zeitgenössische Form einer bereits seit Jahrtausenden wirkenden Kraft des Bösen, dessen Evangelium im legendären „Necronomicon“ bereits seine Formulierung gefunden hatte. Es handelt sich also um eine Traditionslinie der „schwarzen Magie“, die angeblich aus vorsintflutlichen Epochen stammt und seither im Untergrund der Zivilisation ihr Unwesen treibt. Zahllose Persönlichkeiten und Ereignisse von Geschichte und Moderne lassen sich damit in Zusammenhang bringen, spiegeln sich in den Werken von H. P. Lovecraft, Ambrose Bierce, Allistar Crowley, H. R. Giger, Kenneth Anger usw. Die Zahl 23 spielte in diesem homogenen esoterischen Gebilde stets eine wesentliche Rolle.Im Gegensatz zur Kunstfigur Hagbard Celine, die in Wilsons Roman als Inkarnation einer dem Bösen entgegenwirkenden „weißen Magie“ fungiert, hat es Karl Koch, den jungen Helden aus Schmids Film, tatsächlich gegeben. Dutzende Male hatte das hochbegabte Computer-Talent den Roman „Illuminatus!“ gelesen und ihn zur Folie seiner Weltsicht gemacht. „Wehe dem, wer Zeichen sieht“, konstatierte schon Samuel Beckett („Watt“), denn wer einmal beginnt, in sämtlichen Details des Alltags Hinweise für die eigene schicksalhafte Verstrickung zu suchen, der wird diese auch bestätigt finden, und diese wird damit in subjektiver Hinsicht dann auch zur Wahrheit. Karl Koch sucht und findet, allenthalben stößt er auf die vermeintlich magische Zahl 23 und deren Quersumme 5: Olof Palme wurde im Februar 1986 um 23.23 Uhr erschossen, die CIA sitzt im Pentagon – einem Gebäude mit fünfeckigem Grundriß, der Anfangsbuchstabe des Illuminaten-Gründers Weißhaupt ist der 23. Buchstabe des Alphabets. (Kein Zufall deshalb, daß sich der weltgrößte Filmverleih für den vorliegenden Spielfilm engagiert: setzt sich doch der Firmenname „Buena Vista International“ aus genau 23 Buchstaben zusammen – vermutlich also eine Illuminaten-Firma...) Anfangs belustigt ob der sich spielerisch ergebenden Komplexität, nimmt Karl Koch das Illuminatus-Prinzip mehr und mehr als Welterklärungsmodell an, in das sich jede Erscheinung problemlos einbetten läßt. Der junge Mann erklärt sich zum Statthalter Hagbard Celines, sein Computer avanciert zum Werkzeug im Kampf des Guten gegen das Böse. In Zeiten, in denen der Besitz von Informationen immer wichtiger wird, könnte der Rechner als Vehikel dazu dienen, lebenswichtige Daten zugunsten benachteiligter Regionen, sprich des Ostblocks und der Dritten Welt, umzuschichten. Für den Sproß eines rechtsnationalen Redakteurs, der seine Sozialisation im Mief der Architekturwüste Hannover erfahren und in Brokdorf bereits erste Konfrontationen mit staatlicher Willkür erlebt hat, sind die Sympathien eindeutig verteilt. Er bietet deshalb eine leichte Beute für den windigen Programmierer Lupo, der ihm einflüstert, endlich tatsächlich etwas zu bewirken: Karl und sein bester Freund David sollen in die Rechenzentralen wichtiger Konzerne und Institutionen „einhacken“ und die Datensätze anschließend an den KGB weitergeben. Für Lupo und Kontaktmann Pepe stellt die elektronische Spionage ein lukratives Geschäft dar, für Karl und David hingegen bedeutet sie Verstrickung in zahlreiche Abhängigkeiten. Die immer enger werdende Spirale aus Informationsbeschaffung, Entlohnung und Drogenkonsum lassen in Karl schließlich die Ahnung aufkeimen, daß sein Wunsch nach dem „Dienst am Guten“ längst ins Gegenteil umgeschlagen ist und daß sich die Wertigkeit seiner Person vom selbstverantwortlichen Subjekt zum fremdbestimmten Objekt gewandelt hat. Er zieht die Notbremse. Für eine Rettung ist es jedoch zu spät. Am 23. Mai 1989 nimmt sich Karl Koch das Leben. Er ist nur 23 Jahre alt geworden.Hans-Christian Schmid hat mit „23“ einen der besten deutschen Filme entworfen, die in den letzten Jahren entstanden sind. Von den Eckdaten des Sujets eher weniger einladend, entwickelt der Stoff eine verblüffende inhaltliche und formale Komplexität. Grundlegende Tugend ist dabei das Maß, in dem der Regisseur Thema und Figuren ernst nimmt. Erst diese Ernsthaftigkeit verschafft ihm inszenatorischen Spielraum, der auch intelligenten Humor einschließt. Schmid setzt seine filmischen Mittel zielsicher ins Verhältnis zum inhaltlichen Anliegen, stellt die Konzeption des deutschen Erzählkinos damit vom Kopf auf die Füße. Hier ist ein Film nicht länger bloßes Mittel zum Zweck (des Verkaufens nämlich) – hier wird ein Stoff optimal aus sich selbst heraus entwickelt. Es braucht deshalb auch keine Stars in spleenigem Outfit oder marktschreierische Effekte. Das triste Hannover der 80er Jahre als Kulisse für einen Computer-Thriller? Dies klingt zunächst fast absurd. Aus der Provinzialität heraus schält sich jedoch sehr bald eine ebenso packende wie universelle Geschichte, die sogar weit über die handlungstragende Verschwörungstheorie hinausgeht. Die Tragödie des begabten Kindes, das sich gegenüber Elternhaus und sonstiger sozialer Prägung zu emanzipieren trachtet, aber gerade dadurch zum Spielball eigendynamischer Kräfte wird und schließlich am Zynismus von Geheimdiensten und Medien zerbricht, hat klassische Dimension. Daß es dabei z.B. um Computernetze geht, markiert nur die Spezifik des Themas; von seiner Essenz her hätte der Konflikt auch in Castrop-Rauxel oder Karl-Marx-Stadt angesiedelt sein können. „23“ verliert sich also nicht in technischen Details, weiß stets seine inhaltlichen Prioritäten zu setzen. Dies geht mit einer nie ins Kunstgewerbliche abdriftenden Genauigkeit der Ausstattung nebst fast versteckten Kleinigkeiten („Atomkraft – nein Danke!“-Bottoms, Musikauswahl) einher, die stets treffend den Zeitgeist erfassen und die Charaktere umreißen. Höchste Sorgfalt wurde auf die Besetzung verwendet. Debütant August Diehl absolviert die Passion des begabten Hackers Karl Koch mit all ihren Metamorphosen auf fast beängstigend dichte Weise: Vom unbeschwerten Jugendlichen über den ob der digitalen Möglichkeiten euphorisierten Aufsteiger bis hin zum in völliger Ausweglosigkeit Endenden nimmt man ihm sämtliche Wandlungen ab. In den Nebenrollen setzt sich diese Sorgfalt fort: Dank präziser Vorbereitung durch das Drehbuch reichen hier oft nur wenige Andeutungen, um differenzierte Beziehungssysteme auszumachen. So vermag es der in gewohnter Souveränität agierende Hanns Zischler in seinen wenigen Auftritten am Anfang des Films, eine höchst widersprüchliche Vater-Sohn-Konstellation zu umreißen, deren Plastizität über die gesamte Handlungslänge präsent bleibt. Oder Lilly Tschörtner als zeitweilige Freundin des scheiternden Helden: Mit ihrem Verschwinden aus der Erlebniswelt Karl Kochs wird seine Verarmung im zwischenmenschlichen Bereich ohne viel Aufhebens erzählt. Mehr und mehr kommt er sich selbst abhanden, Liebe und Sexualität spielen kaum mehr eine Rolle. Eine souveräne Ökonomie der Blicke erzählt hier mehr als dies umständlich eingefädelte Nebenlinien vermocht hätten.„23“ stellt sich als Glücksfall für die hiesige Kinolandschaft heraus und ist ein Beleg dafür, daß noch lange nicht alle Geschichten erzählt sind. Dieser Film ist zudem im Godardschen Sinne politisch: Es formulieren sich darin unerwartete Potenzen jenseits einer sich sonst in Belanglosigkeiten auflösenden nationalen Kinematografie.