- | Deutschland 1996 | 72 Minuten

Regie: Karsten Laske

Ein erwachsener, innerlich aber Kind gebliebener junger Mann, der sich seine ganz eigene Gefühls-, Spiel- und Märchenwelt zurechtgesponnen hat, leidet in seiner abweichenden unschuldig-reinen Art zunehmend an den Defiziten seiner Umwelt, ihrer Lieb- und Orientierungslosigkeit, Fantasie- und Gefühlsarmut. Ein kleiner, mit bescheidenen Mitteln einfallsreich und sensibel gestalteter Film, der sich vor allem auch dank dem hervorragenden Hauptdarsteller zu einer traurig-heiteren Reflexion über die "Schule des Lebens" verdichtet. - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1996
Produktionsfirma
Ö-Film/BR
Regie
Karsten Laske
Buch
Karsten Laske
Kamera
Thomas Plenert
Musik
Bernd Jestram
Schnitt
Gudrun Steinbrück
Darsteller
Lars Rudolph (Edgar) · Heide Kipp (Mutter) · Helga Göring (Oma) · Anja Marlene Korpiun (Anne) · Albee Lesotho (Castro)
Länge
72 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12;f (Video ab 0)
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.

Heimkino

Verleih DVD
KJF-Edition
DVD kaufen

Diskussion
Edgar ist ein körperlich zwar erwachsener, innerlich aber Kind gebliebener junger Mann, der allein mit seiner Mutter lebt. Nur schwer begreift er die Alltäglichkeiten und "Gesetze" des Erwachsenendaseins, kann nicht richtig lesen, rechnen und schreiben und wäre unter "normalen" Bedingungen wohl ein leicht psychopathischer Pflegefall. Aber die Bedingungen dieses Films wurzeln bei allem äußeren Realismus eher in einer Art humanistischer Poesie, und so vermag er sich ganz auf die sehr eigene Gefühls-, Spiel- und Märchenwelt einzulassen, die sich Edgar zurechtgesponnen hat. Mit unerschütterlicher Gutgläubigkeit, permanentem Staunen und naiver Begeisterungsfähigkeit entdeckt Edgar die schönen Seiten in seinem ansonsten eher tristen Dasein. Seine Arbeit in einer Fleischerei hat er verloren, jetzt streunt er, von der arbeitenden Mutter vernachlässigt, durch die Stadt, besucht im Kino immer wieder eine Vorstellung von Wolfgang Staudtes Märchenfilm-Klassiker "Die Geschichte vom kleinen Muck", bewundert die "exotische" Schokoladenreklame, die man gegenüber seinem Zimmerfenster installiert hat. Zunächst auf der Straße, dann in einem Kaufhaus begegnet er dem "kleinen Muck" wahrhaftig: Im Kostüm eines Mohren aus dem Morgenland steckt zwar "nur" Anne, eine Physik-Studentin, die sich als lebende Reklame-Figur etwas Geld verdient, für Edgar aber ist es eine Traumbegegnung. Mit Anne entwickelt sich zudem eine Freundschaft, weil sie sich auf seine kindliche Verrücktheit einzulassen vermag - ähnlich, wie es sonst nur Edgars Oma tut, mit der er weitere Glücksstunden erlebt. Doch die Heiterkeit und Unbekümmertheit des großen Jungen finden ein immer deutlicher abzusehendes Ende. Die Oma stirbt, ein neue Arbeit in der Sortierung einer Müllverwertungsanlage konfrontiert Edgar mit ganz "normalen" erwachsenen Kollegen, deren Alkohol-Eskapaden und dumpfen Grausamkeiten. Allmählich zerbricht Edgars kindliches Daseinsidyll an der Wirklichkeit. Wehren aber kann er sich nicht, ihm bleibt nur der Rückzug in die schönen Erinnerungen seines Lebens.

Karsten Laske war zu Beginn der Dreharbeiten gerade mal 30 Jahre alt, und vielleicht verspürte er in diesem Alter selbst noch etwas von der Wehmut des Abschiednehmens von den unbeschwerten Phasen des Kindseins sowie den damit verbundenen Schutzräumen, die sich mancher Heranwachsende gerne so lange wie möglich bewahrt. Edgar ist eine dementsprechende Kunstfigur, wie man sie sich konstruiert, um die Dinge weiterzudenken und bis zu einer Erkenntnis durchzuspielen: Was würde geschehen, wenn man sich die schönen Seiten kindlichen Denkens und Erlebens bewahren wollte? Wie würden die Erwachsenen in ihrem Alltag auf solch einen naiven Tor wie Edgar reagieren, der den Müll nicht auftragsgemäß trennt, sondern ihn regelrecht entdeckt und über die Rätsel, die jedes weggeworfene Stück birgt, staunt, grübelt und fantasiert? Daß solche Gedankenspiele funktionieren und den Zuschauer anregen, ist der genauen Beobachtungsgabe dieses "kleinen", mit bescheidenen Mitteln realisierten Films, vor allem aber auch seinem außergewöhnlichen Hauptdarsteller zu verdanken: Lars Rudolph gelingt eine faszinierende, ebenso spielerisch-amüsante wie verstörend-anregende Gratwanderung, wobei sein beharrlich gespieltes Anderssein immer wieder philosophische Denkanstöße gibt. So spiegelt "sein" Edgar auf eine von jeder Norm abweichende unschuldig-reine Weise stets auch die Defizite seiner Umwelt, deren Lieb-und Orientierungslosigkeit, Fantasie- und Gefühlsarmut. Nicht nur durch den Bezug auf den "kleinen Muck" gelingt dem Film so eine traurig-heitere Reflexion über die manchmal recht seltsame, nachdenklich machende "Schule des Lebens".
Kommentar verfassen

Kommentieren