Eine Landpartie

Romain Antony | 14.09.2024

"Une partie de campagne" (1936 gedreht /1948 aufgeführt) von Jean Renoir + "En Dag am Fräien" (2012) von Govinda Van Maele, zwei Filme die aufeinander bezogen werden können, Ein Filmvergleich! In der Cinemathek in Luxemburg liefen Ende August 2024 in einer Doppelveranstaltung der luxemburgische Kurzfilm "En Dag am Fräien" (Lëtzebuerger Filmprais 2012) von Govinda Van Maele und im Anschluss der 40minütige Film "Eine Landpartie" von Jean Renoir. Eingeführt wurde die Projektion vom luxemburgischen Regisseur Van Maele. Zuerst zum Film von Van Maele: In einem Mehrbettraum, vielleicht einer Suchtklinik, einer Haftanstalt, einer Obdachlosenunterkunft, macht sich ein Erwachsener ,Christophe (Christopher Kintzinger), für einen Ausgang fertig. En Dag am Fräien bedeutet sowohl ein Tag im Grünen, in der Natur, als auch ein Tag in Freiheit. Am Hauptbahnhof stehen Junkies zusammen u.a. Carole (Caroline Luzzu), die hin und her überlegt, ob sie sich einen Schuss setzen soll, ein Bekannter, der sagt, er sei davon ab. Auf die Nachfrage, ob seit heute morgen, präzisiert er mit, seit gestern. Mit Augenzwinkern wird der Versuch, der Abhängigkeit zu entkommen unterlaufen. Christophe taucht auf, Carol will ihm entgehen, wird von ihm eingeholt. Es entwickelt sich ein Gespräch. Die beiden waren mal ein Paar, Carole hat Schluss gemacht, nachdem sie von ihm als Nutte beschimpft und beleidigt worden war. Christophe bereut, entschuldigt sich, beteuert seine Zuneigung, will einen Neuanfang, bietet einen Ausflug ins Grüne zu seiner Familie an, als Wiedergutmachung, als Beweis für seine neue Redlichkeit. Nach einer Zugfahrt müssen die beiden, misslaunig, noch eine lange Strecke laufen, bis sie an einem See ankommen. Carole wird in der Familien- und Bekanntenrunde vorgestellt. Christophes Vater, der neben einem Bekannten im Gras liegt, hebt Caroles Rock am Saum hoch und lugt ihr zwischen die Beine. So übergriffig ist der Elternteil, der für Christophes Erziehung zuständig war. Die Sicherheitskette eines Fischerkahns wird aufgebrochen und im Kahn wird auf dem See gerudert. In einem anderen Boot hebt der Vater ebenfalls seiner Freunden den Rock hoch. Carole und Christophe setzen sich nach der Bootstour in die Natur ab. Sie rasten im GRünen und küssen sich. Für die Rückfahrt werden sie in einem Auto mitgenommen. Wir sehen danach Carole in Bahnhofsnähe an der Ecke zur Avenue stehen. Sie wird von einem Mann, der sie für eine Prostituierte hält, angesprochen. Sie sagt, sie würde auf jemanden warten. Govinda Van Maele bei der Einführung zu den Kurzfilmen, Cinématèque Luxembourg 8/2024 Govinda Van Maele - seinen Spielfilm "Gutland" mit Vicky Krieps und Frederick Lau (2018), habe ich im Blog besprochen - erzählt über seinen halb fiktionalen, halb dokumentarischen Kurzfilm, der den luxemburgischen "Filmprais 2012" gewonnen hat, dass die Ähnlichkeiten mit Jean Renoirs Film nicht beabsichtigt gewesen seien. Manchmal wirkten sich im kreativen Schaffen Beeinflussungen aus, ohne dass diese bewusst wahrgenommen oder intendiert seien. Nur zufällig hätten sich, geisterhaft, intuitiv, Parallelen ergeben. Die Dialoge, das Drehbuch und die Einstellungen wurden kurzfristig festgelegt, des öfteren umgearbeitet, verändert. Aus einer zuerst anders angedachten Geschichte entwickelte sich eine Liebesgeschichte, nachdem der Hauptdarsteller seine Freundin mit in die Crew eingebracht hatte. Beim Dreh war deren Beziehung schon wieder vorbei. Dennoch ist aus dem Film eine Liebesgeschichte geworden. Im Film "Eine Landpartie" von Jean Renoir, nach der gleichnamigen Erzählung von Guy de Maupassant, erschienen 1881, fährt eine Ausflüglergruppe, bestehend aus dem Besitzer eines Haushaltswarengeschäftes, Monsieur Cyprien Dufour, seiner Frau Pétronille, seiner Tochter Henriette, seiner etwas dementen Mutter und seinem, als zukünftigem Schwiegersohn vorgesehenen Angestellten, mit einer von einem Maulesel gezogenen Kutsche ins Grüne. Man steigt bei einem Landgasthaus ab. Jean Renoir in der Rolle des Landgasthausbesitzers preist seine Speisen und die Natur. Die Damen vergnügen sich, auf das Essen wartend, mit Schaukeln. Die Herren schwärmen vom Fischen und alle freuen sich über die Natur, die frische Landluft, die schönen Bäume, das duftende Gras. Sie werden aus dem Lokal von zwei jungen Männern, Henri und seinem Kumpel, beobachtet, die sich im Begehren um die junge Tochter überbieten, wer sie denn verführen wird. In ihren Absichten haben sie sich die Damen bereits aufgeteilt. Sehr höflich, charmant und galant nähern sie sich der Gruppe, indem sie einen im Gras liegen gebliebenen Damenhut zurückbringen. Sie überschütten die Damen mit zuckersüßen Komplimenten, heben mit schwelgenden Worten die Vorzüge der Natur und des Landlebens hervor. Sie kommen den Wünschen der beiden Herren nach, besorgen ihnen Angeln und zwei Dosen mit Fischködern und schicken sie zu guten Angelplätzen, wo sich viele Fische fangen ließen, weil dort die Abfälle des Gasthauses ins Wasser gekippt werden. Während die ältliche Mutter Dufour ein Nickerchen macht, werden die Damen, Pétronille und ihre Tochter Henriette zu einer schön geredeten Kahnpartie überredet. Henriette steigt zu Henri ins Boot, der Kumpel muss sich mit der Mutter Pétronille abgeben. Man steigt an einer Uferstelle aus, macht Halt im Unterholz. Wir sehen wie Henri und Henriette sich zu einer Lichtung begeben. Henri fasst Henriette um die Taille, sie lassen sich im Gras nieder. Ein Kussversuch von Henri wehrt Henriette mit Händen und Kopfwegdrehen ab. Henri bleibt beharrlich, insistiert. Henriette gibt ihren Widerstand auf und umarmt Henri. Aufeinander liegend küssen sich die beiden leidenschaftlich. Es regnet auf den Fluss, die Wellen kräuseln sich im Wind. Ein eingeblendeter Zwischentext informiert, dass zehn Jahre vergangen seien und der Angestellte von Cyprien Dufour inzwischen Henriette geheiratet habe. Henri streift durchs Unterholz der Lichtung zu, trifft dort überraschend die auch dort lagernden Eheleute. Henriette geht ihm entgegen. Henri gesteht ihr, dass er häufig hierher komme, weil es der Ort der glücklichsten Erinnerung seines Lebens sei, Henriette sagt, dass sie jeden Abend an ihn und ihre Begegnung denke. Henriette und ihr Mann setzen sich ins Boot und rudern zurück, während Henri mit sehnsüchtigem Blick am Ort ihrer Liebe verweilt. Filmende. En Dag am Fräien / Une partie de campagne: Parallelen in den beiden Kurzfilmen - Überzeugungsversuche, eine Beziehung wieder zu beleben, Verführung, Flirt, Begehren - anfängliche Abwehrhaltungen der beiden Frauen gegen Annäherungsversuche - Euphemistische Haltung zur Natur, Natur als Erholung vom stressigen Alltag, vom Gewusel der Großstadt, Natur als konfliktfreier Ort, in dem die Probleme verschwinden und Glück für einen Moment möglich ist - Vergnügen am Wasser, Bootsfahrt - Höhepunkt des Films ist der Moment von körperlicher Nähe - in beiden Filmen bleibt ausgeblendet, ob es zu einem sexuellen Zusammensein kommt - Übergriffigkeiten (Rocksaum anheben, körperliches Bedrängen über Abwehrhaltungen hinweg) - Sehnsucht nach Liebe und Zuneigung wird vom Alltag wieder eingeholt Der halbdokumentarische Film von Van Maele spielt in einem sozial belasteten Milieu von Sucht und Prostitution, währen die Protagonisten aus Renoirs Film aus dem Kleinbürgertum kommen. Sie werden als herzensgut und naiv charakterisiert. Vater Dufour und sein Angestellter erinnern an Oliver Hardy und Stan Laurel. Von Renoir gewollt oder vom Beprechenden hinein gesehen? Im Kurzfilm von Van Maele weiß man nicht so recht, ob die Schauspieler Laien sind oder sie Laien schauspielern. Mit wenigen, markanten Einstellungen wird ein Drogenmilieu skizziert, in dem sich unbeherrschte Wut, Enttäuschungs- und Frustäußerungen in verbalen Beleidigungen entladen. Ein verletzendes Wort steht im Raum, seine Schallwellen erreichen das Ohr und seine Bedeutung, die Situation und Absicht, mit der es herausgeschleudert worden ist, schlagen Wunden, verletzen, treffen. Die zerrissenen Vertrauensteile lassen sich nur mühsam wieder zusammensetzen. Der verbale Äther ist voll von unbedachten Worten, Beleidigungen, Abwertungen, für die man sich genötigt und befugt hält sie zu verwenden. Caroles Ablehnung nach Christophes verletzender Beleidigung, sie als Hure beschimpft zu haben, macht ihn vorsichtig, seine Wiederannäherungsversuche sind hartnäckig, aber zaghaft, er will nicht erneut einen Fehler machen und den Kontakt gefährden. Bei Renoir würde nach heutigen Wertmaßstäben Henris Bedrängen, Anfassen, sein Kussversuch gegen die offensichtliche Abwehr von Henriette als sexueller Übergriff gesehen werden. Der Eindruck einer bevorstehenden Vergewaltigung schwebt über der Szene. Der Verhaltenswechsel von Henriette, ihr Einverständnis, ihre aktiv erfolgende Umarmung kommt überraschend. War es Renoirs Absicht mit der Ambivalenz, bedrängt werden, abwehren und sich hingeben, zu spielen? Oder hat er den damaligen Zeitgeist wiedergegeben, nach dem Männer hartnäckig werben, bohren, aktiv werden müssen und sich über Widerstände hinwegsetzen, um die moralische Züchtigkeit und Zurückhaltung von Frauen zu überwinden? Das gezeigte Vorgehen von Henri steht in flagrantem Widerspruch zur heutigen sexuellen Selbstbestimmung der Frau, in der ein gestisches oder geäußertes Nein zu akzeptieren ist. Die Möglichkeiten von Frauen Mitte des 19. Jahrhunderts, ihre Lustgefühle frei und offen zu kommunizieren waren nicht gegeben. Welche Position vermittelt Renoir im Film? Van Maele gibt den Protagonisten die Chance, durch ihre Exkursion ins Grüne, die Verwerfung zu klären, eine zarte Annäherung wird angedeutet, wie sie sich weiter entwickelt bleibt offen. Während der Rückfahrt im Auto sehen wir Christophe gedankenverloren aus dem Wagenfenster in die vorbeirauschende Natur blicken. Bei Renoir regnet es, die Regentropfen prasseln auf das Wasser. Bei Van Maele scheint Carole wieder auf Freier zu warten, doch als ein Mann sie anspricht, klärt sie auf, dass sie auf jemanden warte. Ob dieser jemand kommen wird bleibt offen. Wir Zusehenden glauben ihr, dass sie weiß, wer bald kommen wird. Bei Van Maele gibt es Hoffnung, bei Renoir bleibt ein bitteres, trauriges Gefühl verpfuschten Lebens. cf auch den Filmblog: www.filmekommentieren.wordpress.com --> klicken.lesen.folgen