„Menschen am Sonntag“ erscheint hier in völlig neuem Licht - und dass, obwohl dieser Klassiker des deutschen Avantgardefilms nur um 230 Meter im Vergleich zur bislang gebräuchlichen Version länger geworden ist. Zunächst sticht die verbesserte Bildqualität der filmischen Irrungen und Wirrungen von vier Berliner Ausflüglern am Wannsee ins Auge. Vorbei ist es mit den vermeintlich expressionistischen Schatten in den jungen Gesichtern der Laiendarsteller; Eugen Schüfftans meisterliche Kamera ist manchmal neusachlich, öfter aber elegant-impressionistisch. Der Filmhistoriker Martin Koerber erzielte im Bologneser Labor eine erstaunliche Vereinheitlichung der verschiedenen Nitro-Fundstücke auf höchstem Niveau. Ausgehend von der stark gekürzten niederländischen Verleihfassung, gelang es mit Hilfe einer Kopie aus Lausanne, mehr als die Hälfte der Kürzungen gegenüber der verlorenen deutschen Premierenfassung rückgängig zu machen. Ein dezent-indiskreter Kameraschwenk in die Bäume zum Beispiel, der das Liebespaar Wolfgang und Brigitte für die Dauer eines kurzen Liebesaktes allein lässt, gibt jetzt wieder das Geheimnis preis, das er einst zum Schein verdecken wollte. Auch eine vom Zensor beanstandete Schaufensterpuppe ist wieder nackt zu sehen. Zahlreiche dokumentarische Wannsee-Impressionen lassen die inszenierten Passagen noch deutlicher als Kunstprodukte erscheinen, als man es bisher bemerkte.„Menschen am Sonntag“ ist eben nicht das glückliche Zufallsprodukt reiner Improvisation, als dass es die Filmgeschichte in Kenntnis späterer Entwicklungen wie des Neorealismus’ oder der „Nouvelle Vague“ sah. In sechs- bis achtwöchiger Drehzeit hatten die ehrgeizigen jungen Filmemacher, allen voran Robert Siodmak, Eugen Schüfftan und Billy Wilder, Zeit genug, Perfektion in Personen- und Kameraführung zu erzielen. Ihnen ging es um Konkurrenzfähigkeit gegenüber der etablierten Filmindustrie, die sie weit weniger abschaffen als dass sie sich ihr mit diesem Projekt empfehlen wollten. Die Rechnung ging auf: Schon einen Tag nach der Premiere erhielt Robert Siodmak einen Regievertrag bei der Ufa. Radikal erscheint heute vor allem die kunstvolle Konterkarierung üblicher psychologischer Charakterisierungen. Hier ist das Drehbuch auch heutigen Drehbuchlehrern überlegen, die Psychologie für das höchste Gut halten. Auch das tritt in der neuen Fassung, die mit weniger Zwischentiteln auskommt als die niederländische Version, deutlicher hervor.Wie aber nähert man sich nach dieser Vorgabe einer Rekonstruktion der Filmmusik? Ist nicht ein Soundtrack üblicherweise bemüht, die psychologische Seite der Figuren zu unterstützen? Die nahe liegende Antwort könnte subtile Unterhaltungsmusik lauten, so war seinerzeit Otto Stenzel, der Kapellmeister der Premiere, vorgegangen; die Komponistin Elena Kats-Chernin nähert sich indes den Idiomen der populären Musik der 20er-Jahre mit den Mitteln postmoderner E-Musik und schafft ein klangliches Simularum der Epoche, die in ihrer Partitur vor allem in den Klangfarben des Kammerensembles stets präsent ist: Klarinette, Fagott, Trompete, Posaune, Percussion, Klavier, Akkordeon, Streicherquartett und Kontrabass erinnern an die Salonorchester von damals. Hinzu kommt eine Sopranstimme, die das Ganze nicht nur im Notenbild „überhöht“: Der wortlose Gesang wirkt in diesem entemotionalisierten Kontext als Referenz an den Pionier minimalistischer Filmmusik, an Philip Glass. Wann immer postmoderne Konzertmusik populär sein will, ist sie gut beraten, sich bei den Formen der Minimal Music zu bedienen, und auf diesem Terrain bewegt sich Kats-Chernin souverän. Wenn man es also als Ideal ansieht, sich den Charakteristiken von Popmusik zu nähern, ohne selbst solche produzieren zu wollen, ist ihre Musik durchaus überzeugend. Wenn man es für geboten hält, auch in der berühmten Schallplatten-Szene keine „source music“ oder found-footage-Elemente zu verwenden, dann ist auch ein stilistischer Ausbruch in orientalische Klangwelten eine funktionierende Lösung, die den Klangkörper nicht überstrapaziert. Innerhalb ihrer Vorgaben ist eine vorzügliche unterhaltende „ernste Musik“ entstanden. Anderseits zementieren solche Versuche - die es schon bei Hindemith in den 20er-Jahren gab - eine Grenze zwischen U- und E-Musik, die niederzureißen längst geboten ist und die auch die Filmemacher möglicherweise selbst überwinden wollten. Auf der visuellen Ebene bleibt ein Pionierwerk bestehen: „Menschen am Sonntag“ führt Mainstream- und Independent-Ästhetiken ohne Attitüden und Schubladendenken zusammen und erstrahlt in dieser wunderbaren Rekonstruktion in neuem Licht - auch wenn der musikalische Ernst bisweilen als zu gewichtig erscheint.