Jagdszenen aus Niederbayern

wernstein@web.de | 04.05.2023

Der Autor Martin Sperr gehörte gemeinsam mit Franz Xaver Kroetz, Rainer Werner Fassbinder und Herbert Achternbusch zu den großen Erneuerern des kritischen Volksstücks, in deren Werken das experimentelle Überschreiten der Gattungsgrenzen, Improvisationen, Verfremdungstechniken in der Tradition Brechts, Elemente des absurden Dramas, aber auch immer wieder naturalistisch-veristische Tendenzen ihren Platz finden konnten. Diese Neigung zu Grenzüberschreitungen führte nahezu zwangsläufig in das Umfeld des Jungen Deutschen Films und zu einer Frischzellenkur für das reaktionäre Genre des deutschsprachigen Heimatfilms, wie man ihn aus der Nachkriegszeit kannte. Selten passten ein Regisseur wie Peter Fleischmann, der bereits zuvor in dem Dokumentarfilm „Herbst der Gammler“ (1967) den Alltagsfaschismus und das Spannungsverhältnis zwischen antibürgerlichen Außenseitern und dem sogenannten gesunden Volksempfinden des Münchner Establishments auslotete, und ein Schauspiel wie „Jagdszenen aus Niederbayern“ so gut zusammen. Der Homosexuelle Abram, von Sperr selbst verkörpert, wird von braven und durchschnittlichen Dorfleuten gejagt, nicht von ideologisch verblendeten Nazibestien. Aber selbst unter den Ausgegrenzten innerhalb der dörflichen Gemeinschaft gibt es keine Solidarität, so steht Abram auch nicht zur Dienstmagd Hannelore (Angela Winkler), mit der er ein Kind gezeugt hat, um sich selbst der Illusion hingeben zu dürfen, vielleicht auf diese Weise doch noch in seinem Heimatort akzeptiert zu werden und dazugehören zu können: Die Gejagten sind, falls sie eine Chance sehen, selbst in die Reihen der Jäger aufgenommen zu werden, genauso schlimm wie alle anderen. Fleischmanns und Sperrs Figurenensemble beeindruckt aufgrund der Mischung von Laiendarstellern und professionellen Schauspielern auf besonders nachhaltige Weise, vollführt eine wagemutige Gratwanderung zwischen Fiktion und Authentizität und hält der westdeutsche Nachkriegsgesellschaft treffsicher den Spiegel vor. Form und Inhalt dieses radikalen und mutigen Meisterwerks des Neuen Deutschen Films haben leider bis heute nicht viel von ihrer Brisanz eingebüßt.