In auffallend vielen Filme der Berlinale nehmen Kinder die Rolle von Boten aus einer anderen Welt ein. Sie verfügen über Fähigkeiten, die den Erwachsenen verlorengegangen sind. In ihrem Verhalten, Denken und Sehnen machen sie deutlich, dass es mehr als die prosaische Wirklichkeit geben muss. Im Spiel mit dem Übersinnlichen erzählen diese Filme von der stillen Sehnsucht nach Transzendenz, die sich mit den Katastrophen der Gegenwart nicht abfinden will.
Kein Ausweg, nirgends. Das Schicksal erlaubt keine Flucht. Linda, die Mutter eines schwer erkrankten Kindes, möchte ihrem Beruf als Therapeutin nachgehen. Sie will ein normales Leben führen, doch dafür ist es zu spät. In seiner Unausweichlichkeit erinnert der Film „If I Had Legs I'd KickYou“ von Mary Bronstein an die katastrophale Dynamik aus Schuld, Angst und Ohnmacht in den Romanen von Franz Kafka. Für Linda scheint es keine Rettung zu geben: Die Krankheit der Tochter verschlimmert sich rapide, im Schlafzimmer birst die Decke, Wassermassen verwüsten die Wohnung. Ihr Mann ist seit Wochen abwesend, die Beziehung zu ihrem Supervisor gerät aus den Fugen, eine ihrer Klientinnen dreht durch.
Das alles wäre Grund genug für einen Amoklauf. Doch Linda schlägt nicht um sich. Stattdessen hat sie beängstigende Visionen und Träume von sphärischen Welten. Alles hängt mit ihrer Tochter und dem Loch in deren Bauch zusammen.
Boten aus einer anderen Welt
Das Übersinnliche bildete ein markantes Leitmotiv der 75. Berlinale. Vor allem Kinder erscheinen darin als Boten aus einer anderen Welt, sei es in der geradezu apokalyptischen Überlastung einer Mutter wie Linda oder in den telepathischen Fähigkeiten eines jungen Mädchens in „Was Marielle weiß“ von Frédéric Hambalek.
Am eindrucksvollsten führt dies „El mensaje“ von Ivan Fund vor Augen. Das in Schwarz-Weiß gedrehte Road Movie erzählt von Anika, einem Mädchen, das mit Tieren kommunizieren kann. Man sieht sie mit einem Igel in den Händen, neben einem Pferd oder im stillen Austausch mit einer Angorakatze. Ihre Großeltern, mit denen sie durch Argentinien reist, begreifen Anikas telepathische Fähigkeiten als Geschäftsmodell.
So entsteht eine kleine, aber glückliche Verbindung dreier Menschen. Man ahnt, dass Traumata hinter ihnen liegen. Doch wenn man Zeuge wird, wie Anika den Tieren zuhört, die man selbst nicht hören kann, öffnet sich ein Spalt in der Realität. Im unbekümmerten Lachen des Mädchens deutet sich an, dass es wohl etwas geben muss, was größer ist als diese Welt. Einmal wird Anika vor dem Werbeschild eines Friedhofs für Haustiere fotografiert. Mit dem Finger zeigt sie auf den Namen der Einrichtung: El Cielo, der Himmel.
Transzendentes Potenzial
Immer wieder sind es die Kinder, die mit ihren besonderen Fähigkeiten den Blick auf die Mängel der Verhältnisse lenken; zugleich weisen sie die Richtung auf eine andere Seite der Wirklichkeit. Sie besitzen im Unterschied zu Erwachsenen einen Kompass, dem sie folgen können. Ihre besonderen Kräfte sind dabei nicht Science-Fiction oder Fantasy; das Undenkbare ist vielmehr Teil einer allgemeinen, für alle verbindlichen Wirklichkeit. Die Kinder passen nicht ganz in das, was wir zu ihrer Realität gemacht haben. In einer Welt, die das Religiöse ausgeschlossen hat, fragen diese Filme: Was bleibt?
Ohne das transzendente Potenzial der Kinder bliebe die Welt so, wie sie ist, gefangen in ihrer Tristesse, Kälte und Not. „Ihr seid die Zukunft“, ruft ein Soldat den Kindern in dem ukrainischen Dokumentarfilm „Timestamp“ von Kateryna Gornostai zu. „Wir leben für euch.“ Mehr als zwei Stunden lang führt dieser Film durch ukrainische Schulen in Zeiten des Krieges. Mit großer Sorgfalt und Genauigkeit nähert sich Gornostai den Kindern und ihren Lehrerinnen; Lehrer gibt es nur sehr wenige.
Man erlebt mit, wie eine Generation von Kindern versucht, im Grauen der Gegenwart nach vorne zu blicken. Es gibt fast normalen Unterricht in Fremdsprachen, Naturwissenschaften, Kunst. Doch der Krieg drängt immer stärker in den Alltag: Schießübungen, Militärsport, Bombenalarm, Unterricht im Schutzraum. In einem der ergreifendsten Momente zeigt die Lehrerin an einer Schule im Osten des Landes ihren Schülern Bilder von Plüschtieren, die mit Sprengstoff versehen sind. „Danger, danger“, skandieren die Kinder. Lernen heißt hier nicht nur Leben, Lernen heißt auch Überleben.
Folgt den Kindern!
In „Timestamp“ ist die Katastrophe gegenwärtig, objektiv,
real. Sie erfasst das Leben jedes Kindes. Die Religion versucht, so etwas wie
Trost zu spenden. Am Sarg der bei einem russischen Angriff ermordeten Schuldirektorin
werden die Worte des Priesters zur bitteren Anklage gegen die Aggressoren. Das
ist Religion, das ist auch Politik; übersinnlich ist daran nichts.
Kateryna Gornostai zeigt, was die Lehrerinnen leisten, die im Schrecken des Kriegs dafür arbeiten, dass ihre Schülerinnen und Schüler eine Zukunft haben. In jeder Szene wird klar, dass die ukrainischen Kinder für die Hoffnung stehen, ohne die dieses Land längst untergegangen wäre. Wenn es etwas gibt, was diese Berlinale zusammenhält, dann ist es die Aufforderung, den Kindern zu folgen. Sie wissen, was wir alle brauchen.