Die Berlinale neigt sich allmählich dem Ende zu, doch im Wettbewerb sind echte Favoriten für den „Goldenen Bären“ noch rar. Filme wie „The Blue Trail“ von Gabriel Mascaro haben immerhin einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Und auch in den Nebensektionen gibt es schöne Entdeckungen, etwa „The Thing With Feathers“ mit Benedict Cumberbatch.
Tereza (Denise Weinberg) hat noch drei Jahre, glaubt sie. Die Brasilianerin ist 77 Jahre alt; mit 80 muss sie wie alle Altersgenossen in die „Kolonie“. Von der brasilianischen Regierung wird diese Internierung als sozialer Fortschritt verkauft, mit dem sichergestellt wird, dass die alten Herrschaften gut versorgt sind, ohne die „Produktivität“ jüngerer Familienmitglieder durch Betreuungsarbeit zu mindern. Aber so schönfärberisch diese Praxis auch verkauft wird, so wenig Lust hat Tereza auf das dubiose Senioren-Nirwana. Noch geht es ihr gut. Sie kann für sich selbst sorgen und braucht weder Windeln noch eine Gehhilfe und erst recht keine Unterstützung bei der Körperhygiene. Doch dann erfährt sie, dass die Regierung das Alter für die Abschiebung gerade um fünf Jahre gesenkt hat. Tereza ist plötzlich überfällig. Und wird sie zum flüchtenden Outlaw, als sie sich vor dem Transport in die Kolonie drückt und einen lang gehegten Traum zu erfüllen versucht: einmal in ein Flugzeug zu steigen und fortzufliegen.
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Auf der Flucht vorm neoliberalen Nützlichkeitsprimat
Es ist eine perfide kleine Dystopie, die Gabriel Mascaro in „The Blue Trail“ entfaltet, ein Szenario, in dem der Bolsonaro-Neoliberalismus, der Brasilien zwischen 2018 und 2022 geprägt hat, eine konsequente Weiterführung erlebt. Widerstand regt offensichtlich kaum. Die maroden Mauern zierten ein paar Protest-Graffitis; auf dem Markt hört Tereza Tratsch über einen Enkel, der bestraft wurde, weil er seinen Großvater vor der Polizei versteckte. Aber im Großen und Ganzen hält die Gesellschaft still; Polizei und Spitzel sorgen für den nötigen Druck, und die jüngere Generation scheint wie Terezas Tochter schlicht zu überarbeitet, um sich mit den Alten solidarisch zu erklären.
Mascaro schickt die Protagonistin auf eine Reise, bei der sie am Amazonas entlang viele Begegnungen macht. Das ursprüngliche Ziel, der Traum vom Fliegen, spielt dabei bald nur noch am Rande eine Rolle. Im Zentrum steht das Erleben der Landschaften, Orte und Menschen, was der Film und die Kamera von Guillermo Garza sinnlich und mit viel Lokalkolorit einfangen. Unterwegs hört Tereza von einem Mann, der sie mit seinem Boot mitnimmt, von einer besonderen Schnecke, deren blaues Sekret in die Zukunft enthüllt, wenn man es sich in die Augen tröpfelt. Für Tereza ist das zunächst nicht weiter interessant; an eine Zukunft glaubt sie so nicht mehr. Doch als sie die Chance bekommt, das blaue Wunder an sich selbst auszuprobieren, ändert sich das.
Man kann Mascaros Film den Vorwurf machen, sich etwas zu willig zusammen mit seiner großartigen Hauptfigur Denise Weinberg - einer Kandidatin für den Darstellerinnen-Preis – auf und am Amazonas entlang treiben zu lassen und darüber seine gesellschaftskritische Schärfe einzubüßen. Doch eine stärkere Elendsmalerei, um die Bösartigkeit des neoliberalen Produktivitätsdiktats drastischer zu exponieren, hätte „The Blue Trail“ kaum zu einem originelleren Film gemacht. Die intensive Beschwörung des In-der-Welt-Seins hinterlässt einen deutlich nachhaltigeren Eindruck.
Viele Wettbewerbsbeiträge mit einem „Aber“
„The Blue Trail“ gehört zu den bislang überzeugendsten Beiträgen eines Wettbewerbs, der zwar schöne Filme zu bieten hat, dem es aber an wirklichen Highlights fehlt. Neben der wirklichkeitsnahen Dystopie von Gabriel Mascaro zählt „„Living the Land“ des chinesischen Regisseurs Huo Meng zu den überzeugenderen Arbeiten. Ein Familiendrama, das in den Alltag einer bäuerlichen Großfamilie in den frühen 1990er-Jahren eintaucht und fast ethnografisch Arbeit, Lebensrhythmus und Riten nachzeichnet, während gleichzeitig ein Beziehungsnetz entworfen wird, das den Druck politischer und ökonomischer Verhältnisse auf den familiären Kosmos deutlich macht.
Die meisten Wettbewerbsbeiträge gehen hingegen mit einem „Aber“ einher: Sie haben ihre Meriten, aber auch deutliche Schwächen. So auch der höchst amüsante deutsche Film „Was Marielle weiß“ von Frédéric Hambalek. Das ist eine Tragikomödie um ein gutsituiertes Ehepaar, dessen gediegenes Leben plötzlich ins Schlingern kommt, als seine Tochter die übersinnliche Fähigkeit entwickelt, jederzeit sehen und hören zu können, was Vater und Mutter tun. Und damit all die kleinen Lügen auffliegen zu lassen droht, die das Familiengetriebe am Laufen halten. Ein pointiertes Drehbuch und die tollen Darsteller Julia Jentsch und Felix Kramer sorgen für clevere Unterhaltung, doch visuell fehlt es der Inszenierung an Ausdruckskraft.
Auch „If I Had Legs, I’d Kick You“ von Mary Bronstein erzählt zwar mit viel Energie von weiblicher Überforderung und den Zumutungen der Mutterschaft, doch die Handlungsfäden, zu denen auch ein surreales (Wurm-)Loch an einer Zimmerdecke gehört, bleiben schließlich in der Luft hängen. Und das Gangster-Melodram „Girls on Wire“ von Vivian Qu über eine junge Frau, die vor Gangstern flieht und bei ihrer coolen Cousine Hilfe sucht, einer Stuntfrau in Chinas größtem Studiokomplex, hat zwar ein tolles Sujet, das viel Freiraum für cinephile Verwicklungen liefert. Doch unnötige Rückblenden, die die tränenreiche die Vorgeschichte der Cousinen aufrollen, bremsen das Geschehen immer wieder aus, sodass kein richtiger dramaturgischer Drive entsteht.
Es bleiben ja noch ein paar Berlinale-Tage, in denen noch einige vielversprechende Filme warten, welche sich der Internationalen Jury um Todd Haynes als würdige „Bären“-Preisträger anbieten könnten.
Wenn der Krähenmann einzieht
Für das ermäßigte Gefühl im Wettbewerb wurde man bei der Berlinale durch Lichtblicke in anderen Sektionen entschädigt. Etwa „The Thing With Feathers“ von Dylan Southern, der einmal mehr ein Beispiel dafür ist, dass in diesem Jahr vor allem Regiedebütanten für die schönsten Überraschungen sorgen. Der auf einem Roman von Max Porter fußende Film greift auf Mittel des Fantasy- und Horrorkinos zurück, um die Qualen eines Trauerprozesses eindrucksvoll sichtbar zu machen. Benedict Cumberbatch spielt einen Familienvater, der nach dem plötzlichen Tod seiner Frau krampfhaft versucht, seinen beiden kleinen Söhnen einen Rückhalt zu geben.
Doch anstatt dass mit der Zeit alles leichter wird, scheint der seelische Ballast ihn nur immer mehr niederzudrücken. Da helfen auch alle Versuche von Freunden und Familie nichts. Der Platz in dem gemütlich-chaotischen Reihenhaus und in der Eltern-Kind-Konstellation, den früher seine Frau einnahm, hat eine klaffende Lücke hinterlassen, die nun von einer monströsen Wesenheit besetzt zu werden scheint: einem mannsgroßen, federbedeckten Krähenmann, der direkt den Zeichnungen zu entspringen scheint, die der Vater bei den Entwürfen für ein Kinderbuch aufs Papier bringt.
Mit scharfkantigem Schnabel und spitzen Klauenhänden hat sich dieses Geschöpf wie ein dunkler Schatten in Zimmern und Fluren eingenistet und führt dem trauernden Vater mit tiefer, zynischer Stimme seine Hilflosigkeit gegenüber der Unumstößlichkeit des Verlusts vor Augen. Dennoch wird das nicht auf eine Weise inszeniert, die auf die Schocks des Horrorkinos abzielt. Die Inszenierung lässt vielmehr schnell deutlich werden, dass man es hier nicht mit einer anderweltlichen Bedrohung zu tun hat, sondern mit der eindrucksvollen Verkörperung eines vollkommen irdischen Gefühls - der Trauer.
Dementsprechend entfaltet sich der Film nicht als Suspense-Szenario, in dem ein Vater seine Kinder vor einer unheimlichen Bedrohung schützen muss und dabei über sich und seine Traumata hinauswächst, sondern als höchst ambivalente emotionale Tour de force. Zur Abscheu, Angst und Wut, die der Vater gegenüber dem Krähenmann empfindet, kommt allmählich die Erkenntnis, dass der Gefiederte kein ungebetener Gast ist, den man einfach so vertreiben kann, sondern dass man irgendwie mit ihm zusammenleben muss.
„The Thing with Feathers“ ist ein Debütfilm, der sich von der zwischen Heimeligkeit und klaustrophobischen Beklemmung changierenden Raumpoetik bis zum durchdachten Creature Design als suggestives, aber auch höchst einfühlsames Werk entpuppt. Ähnlich wie in „The Blue Trail“ tut sich auch hier am Ende so etwas wie eine Zukunftsperspektive auf.