© Hans Scherhaufer (Lars Henrik Gass beim Ökumenischen Empfang 2025 in Berlin)

Berlinale 2025: Gegen die Politisierung der Kultur

Beim Ökumenischen Empfang der Kirchen auf der Berlinale plädierte Lars Henrik Gass in einer Rede gegen die zunehmende Politisierung von Kulturveranstaltungen

Aktualisiert am
28.02.2025 - 17:13:08
Diskussion

Augenblicklich wird der (Kultur-)Kampf um den Nahen Osten scheinbar gerade wieder auf der Berlinale entschieden. Über Filme zu sprechen, gerät darüber fast zur Nebensache. Gegen diesen Missbrauch eines Festivals für politische Agitation erhob der Gastredner Lars Henrik Gass beim Ökumenischen Empfang der Kirchen das Wort. Nachfolgend dokumentieren wir seine Rede.


Ob und wie demokratische Öffentlichkeit überleben kann, wird sich an der Entwicklung insbesondere von Kultur und Wissenschaft entscheiden, am Grad bürgerlicher Vergesellschaftung. Kino war vielleicht der wirkungsvollste Apparat dieses Prozesses, eines universalistischen Verständnisses von Welt, weil es eine gesamtgesellschaftliche Teilhabe ermöglichte und der individuellen Kontemplation eine machtvolle kollektive Wahrnehmungsform gegenüberstellte. Das hatte das Kino der Kunst voraus.

Das Aufkommen universalistischer Instanzen wie etwa Filmfestivals vor dem Hintergrund der Erfahrungen von Faschismus und Nationalsozialismus und zwei Weltkriegen war kulturhistorisch gesehen daher vollkommen neu. Filmfestivals sollten die Wirkung des Kinos auf die Gesellschaft verstärken und im Sinne eines kulturellen Verständigungsanspruchs gleichsam universal manifestieren, einen „Weg zum Nachbarn“, wie das Kurzfilmfestival in Oberhausen als Motto erhob. Festivals appellieren an mündige Bürger, an öffentliche Aushandlungsprozesse – an ein universalistisches Verständnis von Welt. Dass Verkehrsformen demokratischer Öffentlichkeit überhaupt entstehen und wirken konnten, hat vor allem auch mit technischen Medien zu tun.

Der Glaube an die segensreiche Wirkung von Kultur und Filmfestivals ist mir allerdings gründlich abhandengekommen angesichts der Reaktionen auf das Massaker vom 7. Oktober 2023 in Israel. Die aggressiven, regressiven und repressiven Kampagnen des politischen Aktivismus, die sich zuletzt regelmäßig in martialischen Drohkulissen wie Offenen Briefen, Boykotten und Störaktionen bis hin zu Morddrohungen zeigten, ließen auch zivilgesellschaftliche Instanzen nicht unbeeindruckt. Die bürgerliche Mitte, die uns ja angeblich vor Extremismus schützt, kapitulierte nach dem 7. Oktober nahezu vollständig. Akademien und Verbände verurteilten weder Antisemitismus, den man offenbar als ein spezifisches Phänomen der politischen Rechten ansieht, noch stellten sie sich vor diejenigen, die angegriffen und bedrängt waren. Je lauter der Antisemitismus, desto leiser die Reaktionen.

Die Funktionsweisen der Kampagnen lassen sich auch am einzelnen Fall aufzeigen, exemplarisch an der Kampagne gegen mich und das Filmfestival in Oberhausen: Im November 2023 wurden mit zwei Offenen Briefen im Internet, beide anonym gesteuert, rund 2.700 Unterschriften gesammelt, die kaum versteckt meinen Rücktritt, meine Entlassung und die Distanzierung vom Festival forderten. Anlass war ein Reposting auf der Facebook-Seite des Festivals vom 20. Oktober, das zu einer Solidaritätskundgebung mit Israel in Berlin am 22. Oktober aufrief und antisemitische Aktionen am 7. Oktober in Berlin-Neukölln verurteilte. Unverfänglich, sollte man meinen. Zusammen mit anderen Kulturinstitutionen weltweit, etwa der Volksbühne in Berlin, landete das Festival jedoch auf einer Art Schwarzen Liste, die im Internet kursiert und das Festival als „pro-zionistisch“ bezeichnet. Eine Erklärung unsererseits Mitte November konnte die Kampagne nicht mehr aus der Welt schaffen. In der Logik der Schauprozesse ist das Urteil immer schon gesprochen. Es kam zu Anfeindungen und Boykotten.

Die Forderung nach Boykott musste gar nicht erst erhoben werden, denn alle wissen, was zu tun ist. Rund ein Viertel des Programms musste umgebaut werden, Sektionen entfielen. Mitarbeiter und Kollegen wurden von vielen Seiten unter Druck gesetzt. Das Festivalteam erstarrte in Angst. Bis heute haben sich weder die Träger und Förderer des Festivals noch der Deutsche Kulturrat, kein Festival und kein Verband öffentlich vor uns gestellt. Ich habe keinen Anruf, keine E-Mail von Kollegen erhalten. Festivals kündigten uns die Zusammenarbeit auf, lehnten Anzeigentausch ab und vieles anderes mehr. Auch sogenannte Kulturschaffende in Deutschland zeichneten gegen uns. Die AG Filmfestival, die ich selbst gegründet habe, hat sich bis heute nicht öffentlich zu den Vorgängen verhalten.

Insbesondere Verbände leiten das allgemeine Ressentiment gegen alles und jeden ungebremst durch; sie schützen Einzelne nicht vor Ressentiment, sondern machen sie regelrecht zum dessen Ziel; sie gründen ihre Gemeinschaft auf Ausgrenzung und der Angst vor Abweichung. Ein Beispiel: Martin Moszkowicz wurde Anfang 2024 der Carl-Laemmle-Produzentenpreis zugesprochen. Moszkowicz war lange Jahre Vorstandsvorsitzender der Constantin Film AG. Anfang Mai 2024 wurde er mit einem Offenen Brief konfrontiert, der im Namen von sechzehn Filmverbänden und -initiativen erging, darunter auch der Verband der deutschen Filmkritik, dem ich selbst angehöre. Moszkowicz wurde vorgeworfen, nicht für zureichende Arbeitsbedingungen auf Filmsets mit Til Schweiger gesorgt zu haben, dem man verbale und körperliche Übergriffe gegenüber dem Team vorwarf.

Je politisch wirkungsloser die Filmverbände agieren, desto lauter treten sie auf. Ihre Waffe war erneut der Offene Brief, der heute gegen alles und jeden verschickt wird, wenn einem etwas nicht passt, in unerschütterlichen Glauben, das Gute zu vertreten. Das sind nicht sehr feine Methoden im Dienst angeblich feinster Anliegen, weil Ressentiments bewirtschaftet und Juryentscheidungen delegitimiert werden. Der Offene Brief ist ein Volksgericht, das moralische Urteile fällt, die vor keinem anderen Gericht juristisch bestehen müssen. So werden aus rechtlichen Angelegenheiten und demokratischen Urteilsfindungen diffuse Angelegenheiten von Interessengruppen. Ein solcher Affront gegen Moszkowicz, der einen Großteil seiner Familie in Konzentrationslagern verlor, ist in der hiesigen Filmbranche wohl beispiellos: ein deutscher Fall Dreyfus. Moszkowicz, das sei nebenbei erwähnt, verlor viele Familienangehörige in Konzentrationslagern.

Im kulturellen Feld ist mittlerweile jede Regung Gegenstand von Erregung, eines „Moralspektakels“, wie der Philosoph Philipp Hübl in seinem gleichnamigen Buch feststellt. Mit der Politisierung des Kulturbetriebs, vor allem von stark internationalisierten Kulturveranstaltungen, wächst der Druck auf die Veranstalter. Gleichzeitig steht die Glaubwürdigkeit der Veranstaltungen selbst in Frage. Die Festivalleitung der Berlinale hatte im vergangen Jahr Vorkehrungen getroffen, um im Februar 2024 Team, Gäste und Publikum vor verbaler und nonverbaler Gewalt und israelbezogenem Antisemitismus zu schützen. Das ging bekanntlich schief. Wie zum Hohn hat die neue Leitung der Berlinale der Schauspielerin Tilda Swinton, die als anti-israelische Aktivistin einschlägig bekannt ist, nun mit dem Goldenen Ehrenbären des Festivals ausgezeichnet und eine weitere antiisraelische Einlassung auf offener Bühne geduldet. Das war ein klares politisches Zeichen.

Zum Problem für die demokratische Willensbildung wird Politisierung, wenn Minderheiten nicht nur ihr Recht auf Gehör ausüben, sondern die Mehrheit durch den Mob unter Druck setzen, Willen erpressen wollen. Der Mob ist, wie Hannah Arendt sagt, die „Karikatur“ des Volkes, sein Affekt. So können Kampagnen mit vergleichsweise minimalem Aufwand und unterstützt durch die digitale Verbreitung politische Meinungsbildung maximal beeinflussen. Eine Kampagne, die sich gegen die Berlinale richtete, weil man gewählte Mandatsträger der AfD zur Eröffnung eingeladen hatte, benötigte Anfang des Jahres 2024 nur rund 600 Unterschriften, um eine Kulturinstitution des Bundes zur Kapitulation zu bewegen. Ich halte das für einen Angriff auf die Demokratie, ohne Parteigänger der AfD zu sein.

Der Soziologe Harry Lehmann analysiert in seinem Buch "Ideologiemaschinen“ die Wirkungsweise des neuen Volkssturms: Diese Art des politischen Aktivismus reklamiert Widerspruchsfreiheit und lässt keinen Raum für eigenständiges Denken. Widerstand wird unter Strafe der Isolation gestellt. Das Schweigen oder genauer: Widerspruchsfreiheit und Konformität sind nicht eine Nebenwirkung der Kampagnen, sondern ihr eigentliches Ziel. Die Macht des politischen Aktivismus, der Ideologisierung von Kunst und Wissenschaft, ist die Regungslosigkeit der Zivilgesellschaft. Antisemitismus ist daher nicht nur ein Angriff auf Juden, sondern auf uns alle.

Kampagnen, eine intellektuelle Degeneration der politischen Linken, bedrohen funktionsfreie Systeme wie Kultur und Wissenschaft durch einen Übergriff von politischer Kommunikation, also durch ideologische Funktionalisierung. Bildung und Diskussion versagen gegenüber Ideologie. Das einzige Mittel, die vollkommene Ideologisierung von Kultur und Wissenschaft zu verhindern, ist eine „Ideologieunterbrechung“, wie Lehmann sagt: Abstinenz von Politisierung. „Ideologieunterbrecher“ gefährden nicht Meinungs- und Kunstfreiheit, sie sind ihre Voraussetzung. Politisch kann Kultur nur sein, wenn man sie nicht politisiert und ihre Funktionsfreiheit verteidigt. Nicht die politische Meinung steht unter Kunstfreiheit, sondern ihre Funktionslosigkeit. Das ist ein Unterschied.

Unter dem Zwang zur Vereindeutigung, unter Konformitätsdruck tritt der ehemals universalistische Anspruch von Filmfestivals hinter einem naiven Verständnis von Engagement zurück. Gesellschaftliche Spaltung geht heute von der Kultur aus, die sie einmal verhindern sollte. Ganz offenbar gehört es im Kulturbetrieb zum guten Ton, etwas gegen Israel zu haben, und das kann man nur so richtig mitteilen, wenn man dafür öffentliche Förderung erhält. Artikel 5 der Verfassung garantiert aber nicht ein Recht auf staatliche Förderung – darüber entscheiden Rahmenbedingungen der Förderer –, sondern die Freiheit der Kunstausübung. Die hervorgehobene Stellung der Kunstfreiheit in Artikel 5 der Verfassung ist nur dann begründ- und haltbar, wenn Kunstfreiheit nicht in den Dienst von Ideologisierung gestellt wird.

Einige fragen sich, wie wir aus der Misere wieder herauskommen können. Ich fürchte, wir haben das Ausmaß der Misere nicht einmal erkannt.


Hinweis

Der Text ist die Schriftfassung des Vortrags auf dem Ökumenischen Empfang anlässlich der Berlinale am 16. Februar 2025. Der Autor Lars Henrik Gass ist Gründungsdirektor des Hauses für Film und Medien in Stuttgart.


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