© 2025 Warner Bros (Robert Pattinson in "Mickey 17")

Emotionale Schlitterpartien

Auffällig viele Filme kreisen in den ersten Berlinale-Tagen um fundamentale Verunsicherungen, nicht zuletzt in zwischenmenschlichen Beziehungen. Notizen zu „Mickey 17“, „Dreams“, „Ari“, „Hot Milk“, „Little Trouble Girls“ und „Growing Down“

Aktualisiert am
16.02.2025 - 10:56:56
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Mit dem Science-Fiction-Film „Mickey 17“ von Bong Joon-ho hat die Berlinale endlich wieder einen Star-besetzten Crowdpleaser im Programm. Zudem gab es im verschneiten Berlin manche emotionale Schlitterpartie zu bestehen: Von Michael Francos „Dreams“ bis zu Beiträgen der neuen „Perspektiven“-Sektion kreisten auffällig viele Filme um fundamentale Verunsicherungen, nicht zuletzt in zwischenmenschlichen Beziehungen.


Manchmal könnte es praktisch sein, eine selbstbewusstere Version seiner selbst an der Seite zu haben. Etwa wenn man in einer dystopischen Zukunft lebt und Teil einer Mission ist, mit der ein größenwahnsinniger Führer die Kolonisierung eines fremden Planeten vorantreiben will. Dort soll seine (Horror-)Vision einer besseren, reineren Gesellschaft Wirklichkeit werden. So ergeht es „Mickey 17“ in dem Science-Fiction-Film von Bong Joon-ho, in dem Robert Pattinson den vom Schicksal gebeutelten sanftmütiger Simplicissimus spielt.

Der Protagonist befindet sich auf der Flucht vor einem Kredithai an Bord der Expedition eines bei Wahlen gescheiterten, in seiner Egomanie und seiner finanziellen Potenz aber ungebrochenen Populisten, den Mark Ruffalo genüsslich als eine Art Kaspertheater-Version von Benito Mussolini verkörpert. Mickey dient dort als „Expendable“, als Entbehrlicher, dessen Aufgabe darin besteht, seine Haut bei medizinischen Experimenten und besonders gefährlichen Aktionen zu riskieren. Dabei stirbt er ein ums andere Mal, wird aber mittels eines futuristischen Humanprint-Verfahrens immer wieder ins Leben zurückbefördert. Sein Körper wird aus organischem Müll repliziert und mit den gespeicherten Bewusstseinsdaten zu einer neuen Mickey-Version verbunden. Die dann im Dienst der höheren Sache erneut sterben muss, wenn es etwa ein Heilmittel gegen ein Virus zu finden gilt oder wenn ausgetestet wird, wie lange ein menschlicher Körper der kosmischen Strahlung widerstehen kann.


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Durch eine unerwartete Wendung aber überlebt Mickey Nr. 17, der für tot gehalten wird, und trifft alsbald auf sein neu geprintetes Double Nr. 18, das charakterlich um einiges unduldsamer und aggressiver ist als die vorherigen Mickeys. Was Nr. 17 zunächst jede Menge Ärger einhandelt, sich dann aber doch als hilfreich entpuppt.

Mickey Nr. und Mickey Nr. 18 (Warner Bros.)
Mickey Nr. und Mickey Nr. 18 (© Warner Bros.)

Mit „Mickey 17“ zelebrierte die 75. Berlinale am ersten Wochenende die Art Star-besetzter Crowdpleaser-Kino, die hier seit Jahren zu kurz kommt. Bong Joon-ho adaptiert mit diesem satirischen, mit Body-Horror-Motiven spielenden Science-Fiction-Märchen einen Roman von Edward Ashton. Der Film wirkt aber durchaus so, als hätte der südkoreanische Regisseur den Stoff seiner bisherigen Filme einfach eingeschmolzen und aus den Elementen einen neuen Filmkörper synthetisiert. Die dystopische Schneelandschaft, die die Weltraumreisenden auf dem Zielplaneten vorfinden, die krass ungerechte Hierarchie des gesellschaftlichen Mikrokosmos und die kuriosen Lebewesen, denen Mickey & Co. begegnen, lassen allesamt Motive aus „Snowpiercer“, „Okja“ und „Parasite“ anklingen. Spaß macht „Mickey 17“ trotz solcher Redundanzen aber allemal, schon weil die Spitzen in Zeiten von Trump, Musk & Co. ins Schwarze treffen.


Allgemeine Verunsicherung

Einen so selbstsicheren Doppelgänger, wie Mickey ihn an die Seite bekommt, würden sich wohl auch andere Figuren wünschen, denen man in den Filmen begegnet. Viele Geschichten kreisen um fundamentale Unsicherheiten, nicht zuletzt in zwischenmenschlichen Beziehungen. Um psychische Schlitterpartien, passend zu den winterlichen Schlitterpartien, die man in diesem Jahr im verschneiten Berlin auf dem Weg ins Kino bestehen muss. In „Ari“ von Lénor Serraille stellt ein fragiler Mittzwanziger fest, dass er seinem Job als Grundschullehrer nicht gewachsen ist. Er kündigt, wird von seinem frustrierten Vater vor die Tür gesetzt und erhofft sich auf der Suche nach Rückhalt oder Neuorientierung Hilfe bei seinen Bekannten. Serraille setzt das mit einem sympathisch eigenwilligen Gespür fürs Tragikomische um.

In „Hot Milk“ von Rebecca Lenkiewicz ist es eine junge Frau, die durch eine holprige Phase existenzieller Verunsicherung geht und sich dabei an ihrer Mutter abarbeitet. Die leidet an psychosomatischen Erkrankungen und missbraucht ihre Tochter als Pflegerin. Diese hat aber auch eine neue Bekanntschaft, die so verlockend-verheißungsvoll wie verstörend unzuverlässig und unberechenbar ist. Der Film ist dank seiner Darstellerinnen Emma Mackey, Fiona Shaw und Vicky Krieps durchaus sehenswert, dramaturgisch allerdings überfordert, da er die Entwicklung der jugendlichen Protagonistin mit der Ausleuchtung der beiden älteren Frauen nicht stimmig zusammenbringt.

Emma Mackey, Vicky Krieps in "Hot Milk" (Nikos Nikolopoulos/Mubi)
Emma Mackey, Vicky Krieps in "Hot Milk" (© Nikos Nikolopoulos/Mubi)

Eine krasse Amour fou

Mit besonderer Wucht schlittert die Liebe eines jungen mexikanischen Tänzers und einer etwas älteren US-Amerikanerin in Michel Francos abgründigem Amour-fou-Drama „Dreams“ dem Abgrund entgegen; Grund dafür ist das krasse soziale Gefälle zwischen beiden.

Zu Beginn schlägt sich der angehende Ballerino Fernando (Isaac Hernández) unter Lebensgefahr illegal über die Grenze bis nach San Francisco durch, um bei seiner Geliebten Jennifer (Jessica Chastain) zu sein. Die elegante High-Society-Lady leitet zusammen mit ihrem Bruder die Stiftung ihres schwerreichen Vaters, die auch in Mexiko Kultur- und Tanzprojekte fördert. Darüber hat sie Fernando kennen und lieben gelernt. Doch es widerstrebt ihr, ihm einen Platz in ihrem Leben in den USA einzuräumen und in ihre elitären Kreise einzuführen. Sei es, weil sie sich für ihre nicht standesgemäße Leidenschaft schämt und fürchtet, damit auf Ablehnung zu stoßen; sie es aus Furcht, dass es ihrem Geliebten nicht nur um sie, sondern auch um ein Sprungbrett für seine ersehnte US-Karriere geht. Der wiederum spürt ihre Vorbehalte, ist verletzt und versucht sich zu entziehen. Doch er kommt nicht von ihr los.

Michel Franco erzählt das mit Hilfe seiner exzellenten Schauspieler als tragischen Pas de deux und arbeitet mit ausdrucksstarken Inszenierungsideen. Mehr unheilverheißend als erotisch aufgeladen ist etwa eine Sexszene in einem Treppenhaus, voller Kanten und Ecken, in der die steile Architektur fast schon ironisch das Dilemma des Paares spiegelt. Das Machtgefälle zwischen den beiden ist einfach zu stark für zarte Gefühle.


Anfängerglück bei den „Perspektiven“

Auch in der neu ins Leben gerufenen Berlinale-Sektion „Perspektiven“ finden sich sehenswerte emotionale Dramen. Die Reihe präsentiert internationale Debütfilme, die zeigen, „wie ungeheuer talentiert und vielfältig die nächste Generation von Spielfilmregisseur:innen ist“. Ein Anspruch, der sich nach den ersten Eindrücken aus dieser Sektion durchaus bestätigen lässt.

So glänzt der slowenische Film „Little Trouble Girls“ von Urška Djukić durch eine sinnlich-suggestive Bildsprache, die mitunter an den Peter-Weir-Klassiker „Picknick am Valentinstag“ erinnert. Auch in „Little Trouble Girls“ geht es um pubertäre Gefühlsverwirrungen und die Gruppendynamik unter jungen Mädchen. Eine schüchtern-introvertierte, streng erzogene 16-Jährige fängt in einem Chor neu an. Schnell entwickelt sich eine zwischen Freundschaft und erwachender sexueller Neugier changierende Beziehung zu einer selbstbewussten Mitsängerin. Während eines intensiven Probewochenendes gerät die Protagonistin aber in einen aufregend-verstörenden Strudel aus neuen Erfahrungen und Wünschen, der ihr Selbstbild und ihre Freundschaften extrem herausfordert.

Der Film spielt in einem zutiefst katholischen Milieu; das Bild von Maria spielt an mehreren Stellen eine bedeutsame Rolle. Dabei geht es aber keineswegs nur um ein schlichtes Gegeneinander von repressiver Kirchenmoral und sexuellem Erwachen, sondern eher ums einfühlsame Erkunden emotionaler Möglichkeiten, bei denen das Spirituelle und das Sinnliche durchaus zusammenfließen.

Jessica Chastain in "Dreams" (Teorema)
Jessica Chastain in "Dreams" (© Teorema)

Mit einem besonderen Stilwillen überzeugt auch „Growing Down“ des ungarischen Filmemachers Bálint Dániel Sós. Auch dies ist eine Geschichte quälender Unsicherheit, die über der Beziehung eines Vaters zum jüngeren seiner beiden Söhne schwebt. Der verwitwete Vater versucht, sich und seine Jungs mit seiner neuen Freundin und deren Tochter zu einer Patchwork-Familie zusammenzuführen. Doch bei einer Geburtstagsfeier ereignet sich ein schreckliches Unglück, als die Tochter der neuen Lebenspartnerin bei einem Sturz in einen trockengelegten Swimmingpool schwer verletzt wird. Der Vater glaubt, dass sein 12-jähriger Sohn das Mädchen absichtlich gestoßen habe. Er setzt alles daran, um ihn vor den Konsequenzen zu schützen, was sich indes für den Jungen als wenig hilfreich entpuppt.

Sós‘ hat diese Geschichte um Eltern-Kind-Liebe und Schuld in Schwarz-Weiß gefilmt. Sie begeistert nicht zuletzt durch einen bemerkenswert einfallsreichen Umgang mit den Handlungsorten und der Inszenierung des filmischen Raums. So vermittelt an einer zentralen Stelle die steile Auffahrt mit einem Sessellift bedrängend plastisch die Gefühle des Vaters, der den Boden unter den Füßen und die Kontrolle verliert.

Man darf gespannt sein, welchen der jungen Filmemacher:innen, die in diesem Jahr in der neuen Sektion reüssieren, in den nächsten Jahren den Sprung in den Wettbewerb gelingt. Das Anfängerglück ist Tricia Tuttle jedenfalls in diesem Bereich ihrer ersten Berlinale hold. Auch wenn es ansonsten in den ersten Festivaltagen, vom enttäuschenden Eröffnungsfilm bis zum BDS-Fauxpas von Tilda Swinton, etwas holperte.


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