© 1963 StudioCanal (Brigitte Bardot in "Die Verachtung")

SKS-Essayreihe "Kuchenfilm": Die Kunst, Vergnügen zu bereiten

Der Abschluss der Essayreihe um den Begriff des „Kuchenfilms“ kehrt noch einmal an ihren Ausgangspunkt zurück und denkt über das Vergnügen im Kino nach

Aktualisiert am
19.02.2025 - 10:46:26
Diskussion

Der Abschluss der Essayreihe um den Begriff des „Kuchenfilms“ kehrt noch einmal an ihren Ausgangspunkt zurück. Ausgehend von der Gedankenverknüpfung des „Kuchenfilms“ mit einem füllenden, aber schalen Genuss denkt der letzte Essay über das Vermögen des Kinos nach, stets aufs Neue Vergnügen zu bereiten. Dabei bleibt es ein affektiver Zustand, der sich von den Sehnsüchten der Zuschauer nährt und ein Gegengift zur Traurigkeit außerhalb des Kinoraums bietet.


Vor einem Jahr habe ich angefangen, über den Begriff des Kuchenfilms zu schreiben. Ich saß im ICE von Berlin zur Ostsee, um die Weihnachtstage bei meinen Großeltern zu verbringen. Die Entstehung der Wortneubildung lässt sich folgendermaßen rekonstruieren: 1962 erwähnt François Truffaut in seinem Gespräch mit Alfred Hitchcock dessen Slogan: „Manche Filme sind ein Stück Leben, meine Filme sind ein Stück Kuchen.“ An der 1966 neugegründeten Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb) wird der Begriff gegen den Strich gebürstet. So verfasst Helke Sander inmitten der Grabenkämpfe der Studentenbewegung ein „Flugblatt gegen die Kuchenfilmer“. Auf meine Nachfrage hin verrät sie, dass ihr Kommilitone Bernd Fiedler – er stammte angeblich aus einer berühmten Konditorenfamilie –, einer der mythischen 18 Relegierten, die 1968 aufgrund ihres Aktivismus von der Schule flogen, Bastler des Konzepts sei. Die Definition der linken Filmstudierenden lautet: Ein Kuchenfilm ist ein Film, der zwar gut schmeckt, aber schlecht für die Zähne ist.

In meinem ersten Text "Chaplins Hütchen" schlug ich vor, mit der begrifflichen Flaschenpost aus Westberlin jene Filme zu beschreiben, welche, ungeachtet ihrer handwerklichen Wertigkeit, die Traurigkeit verstetigen, weil sie entweder eine konformistische Lebensform umhüllen oder aber ihr Zeichenhaftigkeit durch einen Überhang an Warenhaftigkeit vereinnahmt wird. In den darauffolgenden Texten habe ich versucht, den Kuchenfilm über die ästhetischen wie auch produktionellen Eigenschaften der Unfertigkeit, der Aufmerksamkeit für Dingwelt und Geste sowie des zeichenhaften Verbrechens zu bestimmen.

Flugblatt gegen die Kuchenfilmer: Helke Sander (Claudia Richarz Film)
"Flugblatt gegen die Kuchenfilmer": Helke Sander (© Claudia Richarz Film)

Ein Jahr später blicke ich auf die stillen Windräder Mecklenburg-Vorpommerns, die pyramidenartig an eine verlorene Zivilisation zu erinnern scheinen. Die Welt ist schlimmer geworden seit dem letzten Winter. Angesichts der politischen Katastrophen, die wie Narbenspuren sich in das vergangene Jahr 2024 eingeschrieben haben, kommt es mir sonderbar vor, über das Kino zu schreiben.

Doch dann erinnere ich mich an einen Satz von Gille Deleuze aus dessen Spinoza-Vorlesung an der Universität Vincennes im Jahr 1981: „Spinoza will etwas sehr Einfaches sagen, und zwar, dass die Traurigkeit niemanden intelligent macht. Deshalb liegt den Herrschenden daran, dass die Subjekte traurig sind.“ Für Menschen wie Deleuze, dem nach einer Tuberkulose-Infektion nur noch ein Lungenflügel geblieben war, und der trotzdem den Brillenschleifer Spinoza nie verraten hat, möchte ich diesen letzten Kuchenfilm-Text der Traurigkeit beziehungsweise ihrem Gegengift, dem Vergnügen, widmen.


Traurige Straßen

Schon 1974 beklagt Pier Paolo Pasolini die Traurigkeit in den Straßen Italiens. Der Nachkriegswohlstand habe die Menschen gleichgemacht, allen Klassen dieselbe Lebensform aufgepfropft: „Eins der Hauptmerkmale dieser Gleichförmigkeit in den Lebensäußerungen ist – neben der Verknöcherung des Sprachverhaltens – die Traurigkeit: was sich fröhlich gibt, ist stets übertrieben, zur Schau getragen, aggressiv, verletzend. Die physische Traurigkeit, die ich meine, ist etwas tiefgreifend Neurotisches. Sie ist Ausdruck einer gesellschaftlichen Frustration.“ 50 Jahre später trauern die Straßen, ihre U-Bahn-Stationen und Häuserfassaden noch immer einer vielleicht nie dagewesenen Zeit hinterher. Jean-Marie Straub schreibt: „Leben bedeutet, eine Form zu verteidigen. Wenn man das nicht mehr kann, dann lebt man nicht mehr.“ Für das Filmemachen bedeute dies: „Es muss eine Struktur erreicht werden, eine Form, sonst ist nichts da, kein Gedanke. Die Leinwand ist leer, der Film existiert nicht.“

Diese Struktur müsste dem Vergnügen einen Zufluchtsort bieten, sie müsste jene Lebensformen konservieren, die den Menschen abhandengekommen sind, weshalb die Gefahr besteht, sich immer wieder aufs Neue mit ihnen zu infizieren. „Das Kino ist ein Territorium“, sagt Leos Carax, „Es existiert außerhalb der Filme. Es ist ein Ort, an dem ich lebe. Es ist eine Art, die Dinge zu sehen, das Leben zu erfahren.“ Man möchte hinzufügen, dass die Form des Kinos ein Territorium ist, auf welchem dem Vergnügen Asyl gewährt wird, bis es zurückkehren darf in die Straßen, die einst um seiner Beschwörung willen in die Landschaft gefurcht wurden. In den Straßen wird selten getanzt, im Kino häufiger; man sieht sich hier außerdem nie gezwungen „Wie bitte?“ zu fragen, hat immer das passende Wechselgeld parat und muss nicht nach Parklücken suchen.

Das Kino ist der Ort, an dem ich lebe: Leos Carax (imago/Yonhap News)
"Das Kino ist der Ort, an dem ich lebe": Leos Carax (© imago/Yonhap News)

Das Vergnügen ist selbstsüchtig. Sein Verlangen ist immer auch das Verlangen nach dem Verlangen an sich. Doch gerade in seiner Selbstsucht stellt es, ohne dass dies beabsichtigt wäre, alles in Frage. Es betreibt keinen Eskapismus, es erhebt vielmehr Einspruch. „Das Rot angestrichene in den Schulheften“, schreibt Hartmut Bitomsky, „stellt nicht die Verbesserung der Fehler dar und schreibt doch ihre Richtigstellung vor: von dieser Röte ist das Rot von Technicolor.“ Und Pasolini fragt im gleichen Tonfall: „Das, was wirklich zählt – ist das etwa nicht das Glück? Wozu macht man denn die Revolution, wenn nicht, um glücklich zu sein?“


Sehen mit dem Bauch

Es gibt auch diese Anekdote von Jean-Luc Godard aus der Zeit, als er mit dem Filmproduzenten Carlo Ponti „Die Verachtung“ (1963) drehte. Dieser habe zu ihm gesagt: „Mein armer Jean-Luc, Sie glauben, die Zuschauer würden einen Film mit den Augen betrachten. Sie betrachten ihn mit dem Bauch.“ Im Kapitalismus ist das Kino Ware wie alles andere auch, Ware, die man mit den Augen isst. Merkwürdig eigentlich, die Hoffnung auf eine bessere Welt in eine Ware zu verwandeln. Von einer Leberwurst erhofft sich schließlich auch niemand ein besseres Leben oder sonst was. Das Wesen des Kinos erschöpft sich jedoch nicht in seiner Warenhaftigkeit. Ein Film ist immer auch Zeichensystem, eine Welt, die bevölkert wird von einer Lebensform. Bilder sind flüssig. Godard zufolge sind sie notwendigerweise frei. Gesetze werden mit Worten diktiert. Ein Bild verbiete nichts, aber es erlaube auch nichts, es sei ein anderer Zusammenhang, etwas Anderes. Zwar ist die Herstellung der Bilder bestimmt durch das Geld, doch der fertige Film quillt unweigerlich über seinen Produktionsrahmen hinaus.

Chris Marker schrieb 1953, dass das Kino mehr Talent hat als die Cineasten. Im Hintergrund einer Einstellung rascheln die Blätter im Wind. Zufällig zieht eine Wolke vorbei. Die Gangart einer Figur verrät etwas, das nicht festgezurrt wurde durch die Wörter des Drehbuchs und die Zahlen der Kalkulation. Mit Bitomsky gesprochen: „Die Dienste, die die Bilder der Story, dem Sujet, den Ideen, dem Produzenten und dem Finanzier erweisen müssen, statten sie obenhin ab, wie ein hochmütiger, aber stummer Diener, der in seiner Lässigkeit vieles falsch macht. In dieser peinlichen Situation sitzt die Herrschaft mit einem Mal nur als Dekoration an der Tafel, die überfließt, und muß es geschehen lassen.“

Wenn die Produktionsbedingungen eines Actionfilms diktieren, drei gleichzeitig gedrehte Einstellungen einer teuren Explosion drei Mal hintereinander zu schneiden, so rächen sich die Bilder an ihrem Schöpfer, indem sie, gleich einem Flaschengeist, zwar stets dessen Wunsch erfüllen, doch nicht ohne ihm einen Streich zu spielen. Hitchcock hat ihrem Ungehorsam in „Der unsichtbare Dritte“ (1959) ein Denkmal errichtet. Als Eva Marie Saint Cary Grant zum Schein erschießt, sitzt im Hintergrund ein schwarzhaariger Junge, der, bereits einige Sekunden bevor die Schüsse fallen, sich die Finger in die Ohren steckt. Wie die Bilder gehorcht der Junge dem Produktionsapparat ebenso, wie er ihn zugleich sabotiert.


Das Medium der Bewegung

Alles Leben ist Bewegung. Aus dem Griechischen übersetzt zeichnet der Kinematograph die Bewegung auf (kinesis + graphein). Und weil das Kino das Medium der Bewegung ist, artikuliert es das Leben selbst, seine Zustandsänderungen und sich nach Wärme sehnenden Körper. Deswegen scheint Hitchcock die Verfolgungsjagd der endgültige Ausdruck der filmischen Erzählweise. Und deswegen vermutet der Stummfilmregisseur Robert J. Flaherty, dass das Kino so beliebt sei, weil das Publikum niemals müde werde, ein Pferd über die Prärie galoppieren zu sehen. Im Kino ergötzt das Leben sich an sich selbst. „Wenn man einen Film macht, muss man den Leuten Lust aufs Leben machen“, so Straub. Dies sei die Aufgabe: „der Genuss, das Vergnügen an der Luft, am Wasser, am Wind, der Sonne, dem Licht, der Erde; der Genuss, das alles vor denen zu verteidigen, die es zerstören wollen.“ Im Schulterschluss mit Pasolini macht er die Gesellschaft des Fortschritts, des Konsums, des Marktes und der Konkurrenz verantwortlich für die Zerstörung all dessen, für was Danièle Huillet und er mit ihren Filmen eintreten. Der Markt verkaufe eine Lebensform, die auf Flüchtigem basiere, auf dem Moment nämlich, in dem man konsumiert.

Trinken und singen: Otar Iosselinai (imago/Sergienko)
Trinken und singen: Otar Iosselinai (© imago/Sergienko)

Das Vergnügen am Wind, an einem Augenaufschlag, einer Geste, einem Ding wie Buster Keatons Porkpie-Hut, der, als dieser hochschreckt, sich einmal in der Luft überschlägt, um dann wieder auf dessen Kopf zu landen – dies alles sind schlichte Zutaten eines schlichten Rezepts für Essen, wie es den liebenswürdigen Außenseitern in den Filmen von Otar Iosselianis schmeckt. Sie sitzen beisammen in ihren Großstadtwohnungen oder im Freien, manchmal zwischen Explosionen und vorbeirollenden Panzern. Oft trinken, manchmal singen sie. Die Randständigen erfreuen sich an ihrer Gemeinschaft und ihrer Fähigkeit zur Sinneswahrnehmung: der Röte eines Rots, dem Klang eines Tons, der Qualität eines Geschmacks. Kurzum vergnügen sie sich an der grundlegenden Rezeptivität ihrer Körper für die sie affizierende Welt. Dabei sind sie denen ein Spiegelbild, die in der Dunkelheit des Kinosaals zusammenkamen und nun durch die gläserne Leinwand zu ihnen hinüberblicken.


Abspann

Wo verlaufen die Grenzen des Territoriums, das das Kino ist? Und in welchem Verhältnis steht der Kuchenfilm zu diesem geruchslosen Areal (Hofmannsthal: „die Region, wo das Individuum aufhört, Individuum zu sein“), das unser Vergnügen konserviert und sich von unseren Sehnsüchten nährt? Als Jean-Marie Straub 1954 die Filmfestspiele in Venedig besucht, notiert er, dass der Champagner das Kino nicht ertränken wird. Etwas misstrauischer gestimmt schreibt Gilles Deleuze, dass der Film als Kunstwerk in einer unmittelbaren Beziehung zu einem permanenten Komplott stehe, einer internationalen Konspiration, die ihn aus seinem Innern heraus bestimme, die sein intimster und unentbehrlichster Feind sei: „Diese Konspiration ist die des Geldes; was die industrielle Kunst auszeichnet, ist keineswegs die mechanische Reproduktion, sondern die innerlich gewordene Beziehung zum Geld.“ Das Territorium, das das Kino ist, ergrünt dank der Kapitalströme, die es durchfließen.

Gleichzeitig droht die klebrige Flüssigkeit, die gezeitenartig aus den Flussbetten tritt, die Zeichengewebe, die seine Uferlandschaft säumen, fortzuschwemmen. Die Erfahrung, in der experimentellen Dunkelheit des Kinosaals zu sitzen und sich mit einer anderen Daseinsweise zu infizieren, mit jedem Film versuchsweise eine andere Lebensform überzustreifen, wie um zu überprüfen, ob sie denn gut sitze, steigert unser Vermögen, die Traurigkeit einzudämmen, weil es uns Gelegenheit gibt, herauszufinden, welche Art zu leben, zu lieben, zu arbeiten zu uns und unseren Perversionen passt. In „The Pervert’s Guide to Cinema“ (2006) verkündet Slavoj Zizek: „Das Kino gibt uns nicht, was wir ersehnen. Es lehrt uns Sehnsucht.“

Das Kino kann uns gar nichts geben, weil es ein affektiver Zustand ist, von dem wir ergriffen werden, eine Art Fieber, ausgelöst durch Schwingungen und elektromagnetische Wellen, die das menschliche Gehirn zu einer Erfahrung synthetisiert. Das affektive Territorium des Kinos, das sich in unserem Bewusstsein entfaltet, lehrt uns Sehnsucht, wenn es uns den Eindruck vermittelt, dass wir nicht in der besten aller möglichen Welten leben. Die Zuckerglasur des Kuchenfilms – die „fest zusammengebackene Ideologie, die ebenso den Bedürfnissen der Kunden sich anpasst, wie sie diese umgekehrt zunehmend modelt“, so Adorno – speist uns ab, anstatt uns zu sättigen – im doppelten Sinn des Wortes „sättigen“: uns satt zu machen, also unser Bedürfnis nach Vergnügen, das Bedürfnis des Lebens, sich an seiner selbst zu ergötzen, zu befriedigen; wie auch: uns zu durchtränken, in uns eine Sehnsucht anzureichern, die Einspruch erhebt gegen die Traurigkeit in den Straßen.

In einem Gedicht von Heiner Müller, welches passenderweise den Titel „BILDER“ trägt, heißt es: „Denn das Schöne bedeutet das mögliche Ende der Schrecken.“ Dem ist nichts weiter hinzuzufügen.

"The Pervert's Guide to Cinema": Slavoj Zizek (imago/Everett Collection)
"The Pervert's Guide to Cinema": Slavoj Zizek (© imago/Everett Collection)

Literaturhinweise

Mr.Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? Von François Truffaut. Wilhelm Heyne Verlag, München 1999.

Freibeuterschriften, Aufsätze und Polemiken. Von Pier Paolo Pasolini. dtv, München 1993.

Schriften. Von Danièle Huillet, Jean-Marie Straub. Vorwerk 8, Berlin 2020.

Die Röte des Rots von Technicolor. Kinorealität und Produktionswirklichkeit. Von Hartmut Bitomsky. Luchterhand, Neuwied und Darmstadt 1972.

Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos. Von Jean-Luc Godard. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1984.

Kinowahrheit. Von Hartmut Bitomsky. Vorwerk 8, Berlin 2003.

Bestandsaufnahme: Utopie Film. Herausgegeben von Alexander Kluge. Zweitausendeins, Frankfurt am Main 1983.

Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Von Siegfried Kracauer. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main 1985.

Das Bewegungs-Bild. Kino 1. Von Gilles Deleuze. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main 1997.

Gedichte. Von Heiner Müller. Alexander Verlag, Berlin 1992.


Zum Siegfried-Kracauer-Stipendium

Die Essayreihe „Kuchenfilm“ und das Blog „Disziplin & Kontrolle“ von Leo Geisler entstehen im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Stipendiums, das der Verband der deutschen Filmkritik zusammen mit MFG Filmförderung Baden-Württemberg, der Film- und Medienstiftung NRW und der Mitteldeutschen Medienförderung (MDM) jährlich vergibt.

Die einzelnen Beiträge des aktuellen Stipendiums, aber auch viele andere Texte, die im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Stipendiums in früheren Jahren entstanden sind, finden sich hier.


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