Evangelikale Christengemeinden sind bislang eher aus den USA bekannt. Doch inzwischen fassen sie auch in Deutschland Fuß. In dem Spielfilm „Gotteskinder“ (ab 30. Januar im Kino) taucht die Regisseurin Frauke Lodders in eine Familie ein, die in einer Freikirche verwurzelt ist. Aus der Sicht ihrer beiden Kinder skizziert sie deren Leben als Mischung aus Menschenfreundlichkeit und patriarchalem Autoritarismus.
Wie ist die Idee entstanden, einen Film über evangelische Freikirchen in Deutschland zu machen? Bei diesem Thema denkt man eigentlich eher an die USA oder Brasilien.
Frauke Lodders: Ich hatte eine Dokumentation über eine Familie in einer Freikirche in den USA gesehen. Ich war überzeugt, dass das in Deutschland nicht funktionieren würde. Doch dann wurde ich zufällig von zwei Studentinnen angesprochen, die in meiner Stadt missionierten. Da dachte ich: Das gibt es hier also auch. Über eine Drehbuchförderung bekam ich die Gelegenheit, ein Jahr lang zu dem Thema zu recherchieren.
Wie sind Sie das Thema angegangen?
Lodders: Zunächst sehr niedrigschwellig, über Veranstaltungen, die relativ öffentlich waren. Als ich davon erfuhr, dass in Karlsruhe für eine „Holy Spirit Night“ missioniert wird, bin ich einfach mal hingefahren. Das hat sofort geklappt. Schon am Bahnhof wurde ich angesprochen. In der „Holy Spirit Night“ habe ich mit den Menschen gefeiert und bin da ein bisschen reingerutscht. Ich habe mir dann einige Gemeinden angeguckt und an Veranstaltungen teilgenommen. Irgendwann habe ich dann aber gemerkt, dass das nicht reicht, da es auch ja auch die Ebene der Konversionstherapien gibt. Durch die man sich also von einer homosexuellen Orientierung „heilen“ lassen kann. Daher habe ich mir eine fiktive Geschichte zugelegt und mich an Gemeinden gewandt, die Konversionstherapien anbieten. Ich habe mich dann „therapieren“ lassen.
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Sind diese Konversionstherapien, die der Film zeigt, eigentlich legal?
Lodders: Seit ein paar Jahren ist es für Menschen unter 18 Jahren nicht mehr legal. Auch nicht für Menschen, die nicht in der Lage sind, eine freie Willensentscheidung zu treffen. Wenn man in solchen Gemeinden aufwächst, stellt sich aber die Frage, inwieweit es eine freie Willensentscheidung ist, sich einer Konversionstherapie zu unterziehen. Für Jugendliche unter 18 Jahren ist es offiziell nicht erlaubt. Ich weiß nicht, wie das in den Freikirchen gehandhabt wird. Ich kann mir aber sehr gut vorstellen, dass es innerhalb solcher Seelsorgewochen zumindest angesprochen wird. Mir wurde eine solche Behandlung auf jeden Fall angeboten.
Sie beschreiben in „Gotteskinder“ die Doppeldeutigkeit dieser Gemeinschaften: den freundlichen Umgang und die nette Atmosphäre, die jedoch erschreckend schnell in autoritäre Gewalt umschlagen kann.
Lodders: Ja, das ist auch das Faszinierende an diesen Gemeinden. Es gibt durchaus positive Aspekte wie ein starkes Gemeinschaftsgefühl, und man wird schnell aufgenommen. Viele Menschen merken sofort, wenn es einem nicht gut geht. Sie sind dann für einen da, fangen einen auf, hören wirklich zu, setzen sich hin und zeigen ein ehrliches Interesse. Das passiert sonst ja nicht mehr so häufig in unserer Zeit. Aber dafür zahlt man einen Preis. Man muss sich an die Regeln halten, die diese Gemeinde vorgibt. Das bedeutet: das Patriarchat zu akzeptieren, sich ihm unterzuordnen, Homosexualität abzulehnen und andere Dinge. In vielen Gemeinden ist auch Gewalt gegen Kinder eine akzeptierte Erziehungsmethode.
Definieren sich die evangelikalen Gemeinden über bestimmte politische Positionen?
Lodders: Evangelikale Christen sind in vielen politischen Strömungen aktiv, jedoch sehr häufig in eher konservativen, rechtsgerichteten Parteien, also sehr häufig in der CDU oder leider auch in der AfD.
„Gotteskinder“ zeigt starke Frauen, die sympathisch engagiert große Teile der Gemeindearbeit tragen, dabei aber immer das alte Patriarchat unterstützen.
Lodders: Ja, das ist sehr spannend. Ich habe viele sehr selbstbewusste Frauen in den Gemeinden kennengelernt, die sich ab einem gewissen Punkt aber immer unterordnen. Sie sagen: „Ja, ich berate meinen Mann, ich unterstütze ihn, aber er trifft am Ende die Entscheidung. Und wenn das nicht das ist, was ich ihm empfohlen habe, respektiere ich das und diskutiere nicht darüber.“ Das steht im Widerspruch zu allem, wofür ich stehe und wie ich lebe. Ich wollte jedoch zeigen, wie viel Macht diese Frauen haben, aber auch, dass sie bereit sind, sie abzugeben. Es gibt klare Regeln. Innerhalb dieses Rahmens bewegt man sich. Regeln können Sicherheit bieten. Wenn ich immer weiß, was richtig und falsch ist, und ich das Gefühl habe, mich freiwillig dafür entschieden zu haben, diese Regeln zu akzeptieren, dann fühlt es sich vielleicht gar nicht mehr so wie eine Einschränkung an. Das ist zumindest mein Erklärungsansatz.
Wie groß ist eigentlich der Einfluss evangelikaler Sekten in Deutschland?
Lodders: Bei uns treten sie noch nicht so an die Öffentlichkeit. Aber wenn man genau hinschaut, sind sie auch jetzt schon im alltäglichen Leben an vielen Stellen präsent. Ich sehe Plakate von evangelikalen Vereinigungen und ich habe mitbekommen, das evangelikale Bands in Schulen auftreten. Ich bin mir nicht sicher, ob die Schulen wissen, was da propagiert wird. Die denken, dass da jemand kommt, der Stimmung für die Kinder macht. Das eben ist das Gefährliche: Es schleicht sich so langsam ein und wird zur Normalität, auch weil man zunächst vielleicht nur die positiven Aspekte sieht. Wenn ich Kinder hätte und mein Kind mir erzählen würde, dass es jetzt zu einer christlichen Jugendgruppe geht, würde ich sagen: „Gerne, wenn dir das Spaß macht.“ Ich würde zunächst ja annehmen, dass mein Kind da sicher ist. Wenn ich aber darüber nachdenke, was da propagiert wird – dass Homosexualität Sünde ist, Frauen am besten gar nicht arbeiten gehen, sondern sich um die Familie kümmern sollen und so weiter, dann bekomme ich wirklich eine Gänsehaut.
Der Film zeigt, wie jugendlich diese reaktionäreren Botschaften vermitteln werden. Wie modern sind die Evangelikalen?
Lodders: Extrem modern. Sie machen eigentlich alles richtig, was die „herkömmliche“ Kirche vielleicht falsch macht, um neue Mitglieder zu gewinnen. Sie haben moderne Musik, die extrem hochwertig produziert ist; es gibt Partys, Bücher, Filme. Die gesamte Popkultur wird bedient. Sie sind in den Sozialen Medien extrem stark, die Webseiten sehen sehr gut aus, wie von hochwertigen Marken gestaltet, nicht irgendwie selbstgebastelt. Der Auftritt ist immer hochprofessionell, groß und modern, mit der Botschaft: „Lasst uns zusammen Spaß haben, lasst uns zusammen was bewegen!“ Die Formulierungen sind immer positiv, und das ist sehr ansprechend. Muss ich leider sagen – sehr ansprechend.
Der Protagonist Max bringt in „Gotteskinder“ die Harmonie in diesem religiösen Mikrokosmos ins Wanken. Was verkörpert er?
Lodders: Max hat erst mal sehr viel Schmerz in sich. Sein Vater ist gerade gestorben, er hat sein Zuhause verloren, weil seine Mutter ihn aus seiner Umgebung gerissen und in diese neue Umgebung gebracht hat. Max ist eigentlich voller Trauer und voller Wut über alles, was passiert. Für mich ist er eine sehr interessante Figur, denn er ist jemand, der von diesem Milieu typischerweise angesprochen werden würde. Viele Gemeinden suchen sich Menschen mit Problemen aus, die sie für sich gewinnen können und denen sie natürlich auch erst mal Hilfe bieten. Max ist jemand, der sehr gut ins „Beuteschema“ passt, sich dann aber komplett verweigert. Max ist ganz bei sich, auch wenn er oft rebelliert und wütend ist. Er weiß eigentlich sehr genau, was er möchte und was er nicht möchte. Das mag ich sehr an ihm.
Sind die Evangelikalen nur die Spitze des Eisbergs, also die Spitze eines großen konservativen Rollbacks, das zurzeit die ganze Gesellschaft ergreift?
Lodders: Ich glaube tatsächlich, dass sich das gerade aufbaut. Die Gesellschaft spaltet sich momentan immer mehr und geht in die Extreme. Die Evangelikalen bieten einen Gegenpol zu „Fridays for Future“, zu den Klima-Aktivist:innen, zu Menschen, die sehr weltoffen leben und einfach Spaß haben wollen. Die Evangelikalen sind in vielen Dingen das genaue Gegenteil.
Der Film hält sich in einer Wertung zurück und erzählt aus dem Inneren der Gemeinde heraus.
Lodders: Mir war von Anfang an klar, dass ich keine Karikatur
schaffen und auch keinen „pädagogisch wertvollen“ Film machen, sondern eine
Innenansicht bieten wollte. Es ging mir nicht darum, zu überspitzen; ich wollte
so nahe wie möglich an der Realität bleiben. Natürlich gibt es in einem
Spielfilm immer einen Teil Fiktion, aber den wollte ich in der Wirklichkeit
verankert wissen. Ich habe die Innensicht gewählt, weil es viel spannender ist,
in so eine Familie hineinzuschauen. Was fasziniert sie am Glauben? Was hält sie
zusammen? Was fasziniert die Jugendlichen an diesen Gemeinden? Der Blick von
außen wäre mir zu einfach und auch zu schnell verurteilend gewesen. Ich fand es
spannend, dass die Zuschauer:innen es aushalten müssen, mit Dingen konfrontiert
zu werden, die nicht ihre eigene Weltsicht widerspiegeln, die ihnen aber ganz
natürlich und realistisch vorgetragen und vorgelebt werden.
Sie vermeiden auch eine klare Benennung von Tätern und Opfern. Keines der Geschwister, weder Hannah noch Timo, will sich helfen lassen.
Lodders: Auch das muss man aushalten: Man kann nicht jedem Menschen helfen. Es gibt Menschen, die in diesen Glaubensstrukturen so gefestigt und – ich würde sagen – gefangen sind, dass man sie nicht herausholen kann. Das ist natürlich auch wieder eine Frage des freien Willens. Wenn jemand sich für dieses Weltbild entscheidet, ist das sehr tragisch, aber Teil der Wirklichkeit. Das ist vielleicht auch das Schwierige an so einem Film: Man muss das aushalten. Das fand ich während meiner Recherche durchaus schmerzhaft. Wenn ich auf Menschen getroffen bin, denen ich so gerne sagen wollte: „Es ist doch alles in Ordnung mit dir, es gibt doch überhaupt keinen Grund für deinen Selbsthass. Du bist ein wundervoller Mensch. Du musst dich nicht quälen!“ Aber das Mindset ist einfach anders; man dringt nicht durch. Das wollte ich zeigen, weil ich das selbst nur schwer aushalten konnte.