Für Andrej Tarkowski war Film die Kunst der versiegelten Zeit, für Thomas Heise eröffneten seine Werke einen immer wieder neu zu befragenden Raum, in dem sich die filmisch fixierte Historie als Material offenbart. Das Symposium „Doing Time“ im Filmhaus Köln beleuchtete die verschiedenen Dimensionen der Zeit, wie sie im dokumentarischen Filmschaffen greifbar werden.
Am liebsten hätte Thomas Heise seinen Film „Heimat ist ein Raum aus Zeit“ (2019) für die englische Fassung komplett von Tilda Swinton einsprechen lassen, so schwer tat er sich mit der Untertitelung. Das ist durchaus verständlich, da sich allein aus Schrift und Dauer ein eigener kinematografischer Raum bauen lässt, wie der Film eindrücklich zeigt. Das dreieinhalbstündige Werk besteht aus langen Einstellungen, in denen viele Dokumente abgefilmt werden, etwa solche aus der NS-Zeit, in denen die Namen deportierter Menschen vermerkt sind, während Heise im Off dazu eine Menge spricht. Untertitel stören da nur. Dass es mit Tilda Swinton am Ende doch nicht klappte, hatte wohl auch mit finanziellen Dingen zu tun, wie Heises Editor Chris Wright im Rahmen des Symposiums „Doing Time“ verriet, das Anfang 2025 im Filmhaus Köln dem komplexen Verhältnis von Dokumentarfilm und Zeit nachging. Der Titel des Gesprächs mit Wright und dem Editor René Frölke, der ebenfalls für Heise gearbeitet hat, lautete: „Man kann sich die Geschichte länglich denken, sie ist aber ein Haufen.“
Die Zeit als Material
Nicht nur „Heimat
ist ein Raum aus Zeit“ bietet sich an, um über das Verhältnis von
Dokumentarfilm und Zeit nachzudenken; Heises gesamtes Werk widmet sich der
Dokumentation von Zeitgeschichte. Und die ist, wie es in seinem Film „Material“
(2009) einmal treffend heißt, eben ein „Haufen“. Aufnahmen in Echtzeit, Raffungen und Streckungen, der Schnitt, Slow
Cinema oder Langzeitdokumentationen: „Die Modulation von Zeit im Dokumentarfilm
ist ein Mittel zur Erforschung der Realität“, brachte es Michelle Koch auf den
Punkt, die das Symposium kuratierte und seit Anfang 2025 die neue Leiterin der Dokumentarfilminitiative
(dfi) ist.
Die Besonderheit dokumentarischer Formen ist die permanente Verhandlung von filmischer Zeit und realer Zeit. Wie sich diese Verhandlung ästhetisch ausgestaltet, hängt von der Produktion und dem Umgang mit dem Material ab. Vielen Dokumentarfilmen gehen lange Recherchephasen in Archiven und andernorts voraus; sie tragen als Speichermedium aber auch zur Archivierung bei. Was simpel klingt, wird interessant, wenn man darauf schaut, was dokumentarisches Filmmaterial einzufangen vermag und wie dabei dramaturgisch vorgegangen wird.
Die Medienwissenschaftlerin Natascha Frankenberg wird in ihrem Buch „Queere Zeitlichkeiten in dokumentarischen Filmen“ (2021) dafür unter anderem bei der Theoretikerin Ann Cvetkovich fündig. Diese spricht dem Dokumentarfilm eine besondere Rolle zu, ist er doch auf besondere Weise in der Lage, emotionale und affektive Aspekte von Erinnerungen festzuhalten. Cvetkovich interessiert sich dabei besonders für solche Filme, die queere Erfahrungen dokumentieren. Für Filme, die subjektive mit kollektiver Erinnerung verbinden, um die Vorstellung von Geschichte als einer linearen Angelegenheit in Frage zu stellen und zugleich queere Geschichte sichtbar machen.
„queer“, nicht „straight“
Dass „Queerness“ nicht nur in Bezug auf Identität oder Begehren gedacht werden kann, sondern auch als aktivistische und künstlerische Strategie, deren Qualität und Widerständigkeit gerade darin besteht, sich nicht festlegen zu lassen, macht Frankenberg für ihr Nachdenken über dokumentarische Zeitlichkeiten produktiv. Ein Film muss nicht dezidiert von queerem Leben handeln, um „queer“ zu sein; auch formal kann er sich queerer Strategien bedienen, etwa um Kritik an normativen Vorstellungen von Zeit zu üben und diese zu unterlaufen.
Viele Autor:innen der Queer
Theory haben sich damit beschäftigt, wie solche nicht-normativen Zeitlichkeiten
aussehen können. In „Cruising Utopia –The Then and There of Queer Futurity“ schrieb José Esteban Muñoz über queere Zeitlichkeit vor dem Hintergrund der
AIDS-Krise. Queerness bedeutet für ihn mitunter auch die Erfahrung von Welt als
einer unzulänglichen. Queere Zeit ist für ihn nicht linear, nicht „straight“, sondern
eine, die Brüche und Wiederholungen miteinschließt. Ein Trauma wie die
AIDS-Krise will Muñoz nicht
nur als schmerzhaft begreifen, sondern auch als Möglichkeit, eine bessere,
utopische Zukunft zu entwickeln. Für Muñoz sind dafür insbesondere künstlerische Arbeiten und ästhetische
Erfahrungen relevant, betont Natascha Frankenberg.
Einer, dessen Arbeit sich durchaus als Arbeit an der Utopie begreifen lässt, ist Thomas Heise. Besonders deutlich wird das in seinem Film „Material“, der das von ihm gesammelte Filmmaterial rund um den politischen Umbruch der Jahre 1988 und 1989 miteinander verbindet und sich damit einem historischen Moment widmet, in dem vieles aufblitzte. Heise entschied sich bei „Material“ wie so oft für ein dramaturgisches Vorgehen, bei dem sich die Bilder selbst erzählen. Es gibt keine Kontextualisierung, keine historische Einordnung, „no service“ (Birgit Kohler). Heise habe Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart in „erstaunliche Konstellationen“ gebracht und aufscheinen lassen, was hätte anders sein können. Heise, so Chris Wright, sei es immer darum gegangen, Geschichte „von den Fakten zu befreien“, hin zu einer „kreatürlichen Erfahrung von Geschichte, ihrer Motive und Gesten“. Die unsentimentale Sprache der Filme dürfe nicht darüber hinwegtäuschen, dass Heise die Historie am eigenen Körper erfahrbar machen wollte.
Brüche, Risse, Wiederholungen
Für sein Verständnis von Geschichte und Zeit war der Dramatiker Heiner Müller eine wichtige Größe. Müllers Idee von Geschichte weist durchaus queere Momente auf. Für den vom marxistisch-dialektischem Denken geprägten Intellektuellen war die Historie ein Prozess voller Widersprüche, Brüche und Wiederholungen. Kunst stellte für ihn ein Mittel dar, um diese Prozesse aufzuzeigen und zu reflektieren und eine anti-hegemoniale Geschichtsschreibung zu entwickeln, die normative Vorstellungen von Zeit und Identität durchkreuzt. Zu Müllers Anspruch, marginalisierten Stimmen Gehör zu verschaffen, passen Ansätze queerer Erinnerungsarbeit ebenso wie sein Glaube, von den Toten lernen zu können.
Heises Denken und seine künstlerische Praxis waren stark von Müllers Geschichtsbegriff geprägt; auch persönlich waren die beiden miteinander bekannt. Müller selbst taucht in einigen Filmen von Heise auf. Etwa in „Material“, der Proben zu dem Theaterstück „Germania Tod in Berlin“ mit der Kamera begleitet.
Auch Heises Umgang mit dem Filmmaterial lässt einen Einfluss von Müller erahnen. Dessen Credo, dass der Text mehr weiß als der Autor, hallt in Heises Glauben an die Autonomie der Bilder nach, die sich selbst erzählt. „Heimat ist ein Raum aus Zeit“ ist Heises letzter Film; er verstarb im Mai 2024. Heise folgt darin den Spuren seiner Familie über einen Zeitraum von knapp hundert Jahren, aus der Perspektive des „letzten Hinterbliebenen“ (Heise). Lange Zeit trug der Film den Arbeitstitel „Verschwinden“.
Beim Gespräch über die Filme und die Kunst von Thomas Heise, aber auch im gesamten Verlauf des Symposiums „Doing Time“ fiel immer wieder der Begriff Melancholie. Das hat wohl auch damit zu tun, dass Film als zeitbasiertes Medium immer auch mit seiner eigenen Vergänglichkeit konfrontiert ist. Und mit der ernüchternden Vanitas, die sich über die Förderlandschaft des Dokumentarfilms legt. Auch die Trauer über den Tod des Filmemachers spielte eine Rolle. Das alles passierte Anfang 2025, am Beginn eines Jahres voller beängstigender politischer Ereignisse, die so sehr nach ein bisschen Utopie rufen und dokumentiert werden wollen.