Das Programm für die 75. Ausgabe der Berlinale vom 13. bis 23. Februar ist öffentlich. Eine Revolution in der Filmauswahl blieb allerdings aus, als die Intendantin Tricia Tuttle und ihre Mitstreiter Jacqueline Lyanga und Michael Stütz die Filme des Wettbewerbs verkündeten. Neben internationalen Größen wie Richard Linklater, Michel Franco und Lucile Hadzihalilovic und vielen eher unbekannten Regisseur:innen sind auch zwei deutsche Filme in der Auswahl gelandet. Diese fällt vor allem durch die Bandbreite der Genres auf.
Als große Umkremplerin war die US-Amerikanerin Tricia Tuttle begrüßt worden, als Ende 2023 bekannt wurde, dass die frühere künstlerische Leiterin des London Film Festivals mit der 75. Ausgabe die Berlinale als neue Intendantin übernehmen soll. Nach den Querelen um das für die deutsche Kulturpolitik unrühmliche Ende der kurzen Ära von Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek schienen die Medien durchweg erleichtert bis euphorisch, dass mit Tuttle eine Führungskraft gefunden wurde, in der sich ausgesprochene Affinität für Publikumsfilme mit Leidenschaft für die Filmgeschichte vereinte. Ihre in mehreren Interviews bekräftigte Absicht, dass die Filme der Berlinale international stärker wahrgenommen werden sollten, wurde vielfach als Ankündigung verstanden, dass die Auswahl der Berliner Filmfestspiele zukünftig breitenwirksamer, populärer, in einem Wort: „größer“ sein sollte.
Die von deutschen Politikern und Journalisten immer wieder verlangte Kampfansage an Cannes und Venedig, die Chatrian und Rissenbeek stets vermieden hatten und die ihr Vorgänger Dieter Kosslick mit dem schwammigen Mantra der Berlinale als „politischem Festival“ zu umgehen pflegte, schien mit Tricia Tuttle eine neue Fürsprecherin gewonnen zu habe. Dass sie in denselben Interviews auch auf eine längerfristige Phase bei einer Neuausrichtung des Festivals hinwies und einer radikalen Änderung des Programms eine Absage erteilte, geriet darüber in den Hintergrund.
Ein Start von null an
Die Bekanntgabe des 75. Berlinale-Programms am 21. Januar glich allerdings keinesfalls einer Revolution der Filmauswahl, sondern zeugt davon, dass Tricia Tuttle und ihr neues Team einen Start von null auf zu bewältigen hatten. Die Auswahl des Wettbewerbs lässt sich als interessant bis unkalkulierbar bezeichnen, könnte aber vor allem durch Überraschungen punkten. International renommierte Filmemacher, bei deren neuen Werken Stimmung und Ästhetik recht klar sein dürften, finden sich 2025 einmal mehr nur wenige. Als bekanntester US-Regisseur ist Richard Linklater mit „Blue Moon“, einem filmbiografischen Drama über eine Krise des Musical-Texters Lorenz Hart (gespielt von Ethan Hawke), dabei. Und der rumänische „Goldener Bär“-Gewinner Radu Jude ist mit „Kontinental ’25“ über eine Gerichtsvollzieherin in Transsilvanien erneut in Berlin vertreten. Der inzwischen als Dauergast im Wettbewerb verankerte Hong Sang-soo steuert mit „What Does That Nature Say to You“ eine weitere Dialogkomödie über Familienbeziehungen, Kunst, Essen und Trinken bei, Michel Franco erzählt – wohl in gewohnter Schonungslosigkeit – in „Dreams“ von einem mexikanischen Balletttänzer, der hofft, dass seine US-amerikanische Geliebte seine Träume unterstützt. Die Französin Lucile Hadzihalilovic stellt mit „La Tour de Glace“, unter anderem besetzt mit Marion Cotillard, ein weiteres ihrer verrätselten Filmkunstwerke vor.
Überraschend rar gesät sind in diesem Jahr Arbeiten deutscher Filmemacher. Mit „Was Marielle weiß“ von Frédéric Hambalek über ein Mädchen, das mit einem Mal in der Lage ist, die Gedanken und Taten seiner Eltern zu sehen und zu hören, sowie „Yunan“ von Ameer Fakher Eldin über einen syrischen Autor in einer existenziellen Krise sind es zudem Arbeiten noch relativ junger, unbekannterer Regisseure. Womit sie sich in der Auswahl aber in guter Gesellschaft befinden, die viele noch recht frische Stimmen des Kinos bereithält, sei es die Französin Léonor Serraille mit „Ari“, der Norweger Dag Johan Haugerud mit dem dritten Teil seiner Beziehungsdurchleuchtungen („Drømmer“), die Ukrainerin Kateryna Gornostai mit dem Schüler-und-Krieg-Dokumentarfilm „Striochka chasu (Timestamp)“ oder die Österreicherin Johanna Moder, deren „Mother’s Baby“ von einer sich zuspitzenden postnatalen Depression handelt.
Auffallend ist die Bandbreite der Genres im Wettbewerb 2025: Neben Beziehungs- und Gesellschaftsdramen legen die Filmankündigungen auch Abstecher in Thriller, Fantasy, Science-Fiction und Epos nahe. Auf ein bestimmtes Thema wollten sich Tricia Tuttle und ihre Programm-Mitverantwortlichen Jacqueline Lyanga und Michael Stütz aber nicht festnageln lassen. „Es gibt intime Dramen, die uns auffordern, unsere menschlichen Schwächen und Stärken zu verstehen; es gibt sanfte Komödien, aber auch die schärfsten, schwärzesten Satiren; es gibt Filme, die Filmgrößen huldigen, und solche, die die Leinwand der Kunstform voll ausschöpfen“, so Tuttle.
„Perspectives“ und „Berlinale Special“
Ebenfalls bekannt wurden bei dieser Gelegenheit die Filme der neugeschaffenen Sektion „Perspectives“. Unter den 14 ausgewählten Werken findet sich auch der erste Spielfilm der deutschen Regisseurin Constanze Klaue, „Mit der Faust in die Welt schlagen“, der von zwei Brüdern handelt, die in der ostdeutschen Provinz ohne Perspektiven aufwachsen. Auch der Österreicher Florian Plochatko wurde für diese Sektion berücksichtigt („How to Be Normal and the Oddness of the Other World“). Ansonsten stammen die Filme unter anderem von Regisseurinnen und Regisseuren aus Ägypten, Indien, Mexiko, Taiwan und den USA.
Umfassend fällt das „Berlinale Special“-Programm aus,
für das 21 Filme ausgewählt wurden. Zu den bereits vorab bekanntgegebenen neuen
Werken von Bong Joon-ho („Mickey 17“), Jan Ole Gerster („Islands“) und dem
Eröffnungsfilm „Das Licht“ von Tom Tykwer kamen weitere vielversprechende Titel
dazu. So haben der 92-jährige Edgar Reitz und sein knapp 50 Jahre jüngerer
Kollege Anatol Schuster beim Historienfilm „Leibniz - Chronik eines
verschollenen Bildes“ zusammengearbeitet. Die Schweizerin Petra Volpe stellt
ihr Krankenhaus-Drama „Heldin“ mit Leonie Benesch vor, und Burhan Qurbani „Kein Tier. So Wild.“, in dem er Shakespeares „Richard III.“ als Vorlage für die
Geschichte einer jungen arabischen Gangsterin im heutigen Berlin nimmt.
Zudem ist die bei den US-Filmpreisen hoch gehandelte Bob-Dylan-Biografie „Like a Complete Unknown“ mit Timothée Chalamet als Premiere vor dem deutschen Kinostart zu sehen. Timothée Chalamet und einige andere Darsteller des Films wie Edward Norton und Elle Fanning könnten auch für die ersehnte internationale Starpower auf dem roten Teppich in Berlin sorgen. Denn auch diese ist nicht größer als zu den Zeiten der Vorgänger von Tricia Tuttle; in Sachen Glamour ist nicht unbedingt mit einem raketengleichen Start in ihrem ersten Jahr zu rechnen.
Bekenntnis zum Kino als Kunst
Die Berlinale könnte aber durchaus Entdeckungen bereithalten, die noch niemand auf der Rechnung hat. Die Intendantin zeigte sich jedenfalls optimistisch für die Chancen der ausgewählten Arbeiten: „Wir hoffen wirklich, dass die Filme, die das Publikum in den Wochen des Festivals sehen wird, die Menschen dazu bringen werden, über die Lebendigkeit der Kunstform selbst zu sprechen.“ Das klingt nicht nach einem radikalen Bruch mit den Berlinale-Programmen der letzten Jahre, sondern nach etwas Besserem: einem Bekenntnis zum Kino als Kunst und der Aussicht auf vielfältige, unerwartete Begegnungen mit Filmen. Das ist im 75. Jubiläumsjahr des Berliner Festivals fast ein Versprechen zum Einstieg in die Tuttle-Ära.
Hinweise
Hier geht es zu den Programm des Berlinale-Wettbewerbs und der „Perspectives“-Sektion. Weitere Infos zum Programm finden sich hier.