© BR/Provobis/Hendrik Heiden (Emma Preisendanz, Michael Roll in „Polizeiruf 110 - Jenseits des Rechts“)

Leders Journal: „Jenseits des Rechts“

Leders Journal (XXXVI): Mit Johanna Wokalek hat Dominik Graf für die „Polizeiruf 110“-Reihe eine neue Kommissarin gefunden, die seiner inszenatorischen Unberechenbarkeit in keiner Weise nachsteht

Veröffentlicht am
20. Januar 2025
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In der „Polizeiruf 110“-Reihe erzählt Dominik Graf mit „Jenseits des Rechts“ einen vertrackten Krimi, dessen klassischer Whodunit so konsequent zu Ende gebracht und zugleich so ad absurdum geführt wird, dass am Ende die Verhaftung dem Täter möglicherweise sogar das Leben rettet. Mit Johanna Wokalek hat Graf dabei eine neue Kommissarin gefunden, die seiner Eigenwilligkeit in keiner Weise nachsteht.


Während der Titel „Jenseits des Rechts“ im Splitscreen zu sehen sind, läuft in zwei der vier geteilten Flächen – oben links und unten rechts – die Handlung weiter, die nach dem Serienvorspann „Polizeiruf 110“ mit dem ersten Bild einsetzte und von einer ruhigen Musik von Florian van Volxem und Sven Rossenbach begleitet wird. Oben rechts und unten links folgen die Titel, die weiß auf schwarz geschrieben sind.

Eine junge Frau (Emma Preisendanz) ist beim älteren Therapeuten (Michael Roll) eingeschlafen. Er weckt sie, weil, wie er sagt, ihr Vater ihn nicht dafür bezahle, dass sie bei ihm schlafe, und setzt das Gespräch fort. „Wir waren bei Lucky“, erinnert er, und sie lächelt, als sie den Namen des jungen Mannes hört, mit dem sie seit kurzer Zeit zusammen ist. Sie sagt: „Die vier Wochen waren krass.“ Während sie im Bild rechts unten zu sehen ist, wird im Bild links oben die Eingangstür der Praxis gezeigt, in dem das Therapiegespräch stattfindet, sowie das Haus und die Straße, in dem es liegt.

Johanna Wokalek, Stephan Zinner, Emma Preisendanz in „Jenseits des Rechts“ (© BR/Provobis/Hendrik Heiden)
„Jenseits des Rechts“ schlägt erzählerische Widerhaken in einen Whodunit (© BR/Provobis/Hendrik Heiden)

Über die Zeit mit Lucky will sie nicht viel sagen, nur dass sie sich frei fühle. Im Bild links oben wird das nur von einigen Lichtinseln erhellte Zimmer, in dem das Gespräch stattfindet, in einem Schwenk erkundet (Kamera: Hendrik A. Kley). Der Therapeut sagt: Klingt gut.“ Sie setzt fort: „Aber alle hassen mich dafür.“ Und: „Du verstehst es auch nicht.“ Er geht nach einer kurzen Pause darauf ein: „Mia, was gibt es da nicht zu verstehen?“ Doch darauf antwortet sie nicht. Stattdessen fragt sie ihn, warum er wisse, dass sie die Kekse gerne mag, die nun im Bild links oben auftauchen, während sie selbst im Bild unten rechts zu sehen ist, wie sie sich eine Zigarette dreht. „Ich glaube, deine Mutter mochte die auch“, sagt der Therapeut mit rauer Stimme. „Mom hätte es verstanden, glaube ich“, sagt Mia, und fährt fort: „Lucky ist genauso. Also anders, aber auch so verständnisvoll.“


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Der letzte Credit erscheint überraschenderweise oben links, statt oben rechts. Es ist der des Regisseurs: Dominik Graf. Dann blendet der Titel in Schwarz ab. Kurz danach wird dort aufgeblendet. Bei Mias Wort „verständnisvoll“ erscheint dort der Therapeut in einer Großaufnahme. Er schaut direkt in die Kamera, während Mia unten rechts den Blick auf die Zigarette abgesenkt hat, die sie sich dreht. Im Splitscreen wird die Zahl der Flächen von vier auf zwei reduziert, die fast das 16:9-Gesamtbild füllen. Der Therapeut schaut weiter in die Kamera, sodass man sieht, dass sich nichts in seinem Gesicht regt, als Mia sagt: „Er macht Pornos.“ Sie schaut nun ebenfalls in die Kamera und fährt fort: „Er hat mich gefragt, ob ich mitmachen will.“ Sie habe einen Moment gezögert, dann aber bei der Vorstellung zugestimmt, „dass das ganze Internet mich mit ihm zusammen sehen kann“.


Vier Bilder, ein Geschehen

Links erscheint der Titel des Films „Jenseits des Rechts“, während sie ergänzt: „Das war so crazy neu.“ Sie sei komplett zerflossen. „Und ich wollt’s so sehr wie noch nie in meinem Leben.“ Sie reiht aneinander, was nun anders sei: Die Dunkelheit, die sie sonst immer so gespürt habe, nicht erst „seit Mama tot ist“, sei verschwunden. Auch das Gefühl, dass die Welt immer enger werde, sie einschnüre, bis sie keine Luft mehr bekäme. Es sei so gewesen, als ob Lucky nur auf sie gewartet hätte, dass er wisse, „dass ich – sorry – benutzt werden will“. Sie schaut nach längerer Pause wieder in die Kamera. Es ist ein Blick, der Unsicherheit ausdrückt. Doch und wie zu sich selbst ergänzt sie bekräftigend: „Aber ich kann trotzdem mit ihm wieder atmen.“

Ihre Großaufnahme springt ins Vollbild. Sie schaut nach links aus dem Bild. Jäh wird kurz in Weiß aufgeblendet. Es folgt eine 20 Sekunden währende, aus mehreren kurzen Einstellungen bestehende Reminiszenz an ihre Zeit mit Lucky – ein karnevalesker Porno-Spaß, so hat es Anschein. Der Film wird immer wieder auf dieses Porno-Material zurückkommen, es kurz zitieren, um die Nervosität zu erklären, die dessen Präsenz im Netz bei Mias Familie auslöst. Dann springt der Film zurück ins Zimmer des Therapeuten. Sie schaut ihn an. Er lächelt gequält.

Karnevalesker Porno-Spaß oder große Liebe? (© BR/Provobis/Hendrik Heiden)
Karnevalesker Porno-Spaß oder große Liebe? (© BR/Provobis/Hendrik Heiden)

Die Eingangssequenz dauert mitsamt dem Serienvorspann 4 Minuten und 50 Sekunden und ist von einer beeindruckenden Intensität. Notwendige Informationen für den Handlungsverlauf, die in anderen Serien oft wie aufgesagt wirken, sind hier in die säkulare Beichte eines Therapiegespräches eingebettet. Zugleich wird manches eher zufällig angesprochen, was später zu überraschenden Wendungen führt. Etwa die erste Begegnung von Mia mit Kommissarin Cris Blohm (Johanna Wokalek) und Kommissar Dennis Eden (Stephan Zinner), die sich nachts auf der Straße begegnen, als sie sich um einen verletzten Vogel kümmert. Später begegnet sie ihnen beruflich. Denn ihr Freund Lucky wurde tot am Set seiner Porno-Drehs aufgefunden; sein Computer und die Festplatten mit den Filmaufnahmen sind verschwunden.


Ein Blick in unterschiedliche Milieus

Johanna Wokalek spielt zum dritten Mal jene Cris Blohm, die seit September 2023 im Zentrum der Münchner Ausgaben von „Polizeiruf 110“ steht. Den ersten Film „Little Boxes“ hat Dror Zahavi inszeniert, den zweiten, „Funkensommer“, Alexander Adolph. Das Drehbuch dieses dritten Films stammt von dem Filmkritiker Tobias Kniebe. Dass ihn Dominik Graf inszenierte, kann man auch an einer Fülle von Details erkennen: vom Splitscreen über die kurzen Reißzooms bis zum häufigen Tempuswechsel.

Und noch etwas anderes deutet auf Graf als Regisseur hin. Er hat ein gleichsam soziologisches Interesse an der Stadt München, in der er aufgewachsen ist und über die er gemeinsam mit Michael Althen den Filmessay „München - Geheimnisse einer Stadt“ gedreht hat. Auch in „Jenseits des Rechts“ wechselt er mit den Drehorten die sozialen Szenerien. Vom gehobenen Mittelstand des Therapeuten über die Wohnwagensiedlung des Porno-Drehs bis zur großbürgerlichen Villa, in der Mia mit der jüngeren Schwester Sasha und ihrem Vater (Martin Rapold) lebt, der mit dubiosen Finanzgeschäften sehr erfolgreich ist.

Mit jedem Wechsel der Drehorte geht auch ein Wechsel der Erzählperspektive einher. Graf folgt vielen Figuren, schneidet von der Kommissarin zum Kommissar, die phasenweise autonom ermitteln, von Mia zu ihrem Vater, der Computerfachleute seiner Firma beauftragt, die Porno-Videos im Netz zu löschen, vom Therapeuten, der Mia zuhause aufsucht, weil sie einen Behandlungstermin nicht wahrgenommen hat, zu den Polizeitechnikern, die Überwachungsvideos aus der Umgebung des Tatorts studieren.

Auf allen Handlungsebenen gibt es Friktionen. Der Dienstcomputer der Polizei braucht viel Zeit, um DNA-Daten abzugleichen. Telefonanrufe landen mehrfach nur auf der Mailbox. Die Löschung der Pornos, die auf Datenbanken rund um den Globus liegen, erweist sich als kompliziert. Und der Polizeipräsident bittet seine Beamten, zurückhaltend in der Firma von Mias Vater zu ermitteln, da diese für München bedeutend sei.

Der dubiose Finanzmann (Martin Rapold) und seine Rechtsberaterin (Carin C. Tietze) (©: BR/Provobis/Hendrik Heiden)
Der dubiose Finanzmann und seine Rechtsberaterin (© BR/Provobis/Hendrik Heiden)

Komplizierte Materie, beiläufig erklärt

Zugleich nimmt sich Graf Zeit für Cris Blohm, die zwar erst spät ins Bild kommt, aber dann lange Zeit nicht nur auf eigene Faust ermittelt, sondern auch gegen eine Reihe von Rechtsprinzipien verstößt. Um das darzulegen, bedarf es mehrerer Gespräche, in denen die rechtlichen Probleme von DNA-Proben erörtert werden. Diese in anderen Filmen meist problematischen Sachdialoge reichert Graf durch Störungen oder Abschweifungen so an, dass man ihre Erklärfunktion fast vergisst.

Die komplizierte Rechtslage bringt die Kommissarin dazu, in der Villa von Mias Vater nach dessen DNA-Material zu suchen. Dort feiert Mias Schwester gerade eine Fete, während Mia in ihrem Zimmer „Golden Brown“ von den Stranglers hört, den Lieblingssong ihrer Mutter, während ihr Vater, in dessen Zimmer die Musik herüberschallt, mitsummt. Blohm wird Zeugin, wie die Schwester und ihre Freunde im Internet für ihre Follower posieren. Ihre Präsenz entspricht durchaus den Pornoszenen, in denen Mia sich und ihren Körper erprobt. Click-Zahlen sind die Währung, in der sich für Lucky das Pornogeschäft auszahlte, und an denen Sasha ihre gesellschaftliche Bedeutung bemisst; vergleichbar dem Gold, mit dem ihr Vater sein Geld und das Luxusleben der Töchter verdient.

Als Mias Vater die Kommissarin in seiner Villa entdeckt, eskaliert die Situation. Cris Blohm fesselt ihn und weiß dann nicht mehr weiter. Wie sie sich aus ihrem selbstverschuldeten Dilemma herauswindet, wie der Abgleich der DNA des Vaters, die sie ihm mit Gewalt entnimmt, ein überraschendes Ergebnis zeitigt und das die Handlung ein weiteres Mal beschleunigt, ähnelt weniger einer klassischen Krimi-Auflösung als einem Trip der Kommissarin – bar jeden Alkohols oder jeder Droge. Am Ende denkt man an den Anfang zurück, als man sich an die Spuren erinnert, die der Film dort nebenbei schon gelegt hatte und die auf den Täter hinwiesen, der die Tat da aber noch nicht begangen hatte.

Das Team (Johanna Wokalek, Stephan Zinner) hat sich gefunden (© BR/Provobis/Hendrik Heiden)
Das Team (Johanna Wokalek, Stephan Zinner) hat sich gefunden (© BR/Provobis/Hendrik Heiden)

Eine würdige Nachfolgerin

Selten war ein klassischer Whodunit so konsequent zu Ende erzählt und zugleich ad absurdum geführt, denn am Ende rettet die Verhaftung dem Täter möglicherweise das Leben. Dominik Graf hat neben seinen eigenen Polizeifilmen und einer Gangsterserie wie „Im Angesicht des Verbrechens“ (2010) eine Reihe von Krimi-Formaten geprägt: von der Vorabendserie „Der Fahnder“ (1985-1993) über eine „Tatort“-Folge mit Götz George als Schimanski (1986) oder mehrere Episoden mit Miroslav Nemec und Udo Wachtveitl als Batic und Leitmayr (1995) bis zu den Folgen des „Polizeiruf 110“ mit Matthias Brandt als Hanns von Meuffels (2011-2014) oder Verena Altenberger als Bessie Eyckhoff (2019-2022). In diese Liste herausragender Produktionen reiht sich nun „Jenseits des Rechts“ nahtlos ein und steigert die Erwartung auf weitere Folgen des „Polizeiruf 110“ mit Johanna Wokalek.

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