Heist Movies atmen den Geist der Tragödie. In „Le Gang
des Bois du Temple“ verschwendet der französischen Regisseur Rabah Ameur-Zaïmeche
nur ein Minimum an erzählerischer Energie für die kausalen Verkettungen. Im
Zentrum des eigenwilligen Heist Movies steht vielmehr die Sehnsucht nach
Gerechtigkeit, und sei es die im Ganoven-Milieu.
„The Temple Woods Gang“ (2022) von Rabah Ameur-Zaïmeche beginnt mit einem Tod. Monsieur Pons (Régis Laroche) steht auf seinem Balkon im Pariser Vorort Clichy-sous-Bois. Er raucht und wartet auf den Krankenwagen. Seine Mutter wird in einem Leichensack aus der Wohnung geschafft. Erst später, auf der Beerdigung, sieht man ihn weinen.
Vorne am Altar steht eine alte Frau, die bretonische Chanson-Sängerin Annkrist. Ihre Ohrläppchen wurden von den drei Ringen, die dort schon ein Leben lang hängen, in die Länge gezogen. Ihr Gesicht ist zerfurcht und zugleich ein Beweis, dass Schönheit nicht vergeht. Mit einer Hand auf der Kirchenorgel besingt sie auf militante Weise die Notwendigkeit, zärtlich zu sein: „L’amour ne fait pas d’esclaves, mais des volontaires“, Liebe macht keine Sklaven, sondern Freiwillige. Dann legt sie die Innenseiten ihrer zittrigen Hände auf ihre Brust, und mit einem Mal wird klar, wie fragil so eine menschliche Existenz doch ist. In ihrer Stimme liegt eine Würde, die sich nicht besitzen, nur zitieren lässt und die gleichzeitig die einzige Erlösung ist.
Wenngleich Monsieur Pons das Herz der Erzählung bildet, so wird diese doch durch seinen Nachbarn Bébé (Philippe Petit) und dessen Komplizen im Genre verankert. Durch ihre Augen wird das Begehren gelehrt – sei es eine bionische Handprothese oder schlichtweg die Geste, jene zu mahnen, die die Welt unter sich aufteilen, dass diejenigen, die nichts haben, die Dreistigkeit ihrer Herrschaft nicht verzeihen werden. Mit Straub/Hölderlin möchte man beipflichten: „Es ist die Zeit der Könige nicht mehr. Schämet euch, wenn ihr noch einen König braucht.“
Nachdem Bébés Bande herausgefunden hat, dass das Auto
eines arabischen Prinzen (Mohamed Aroussi) ihre Gegend durchquert,
beschließen sie, dem Fahrzeug auf einer Autobahnzufahrt den Weg abzuschneiden
und es auszurauben. Die Figuren modellieren ihren Heist nach dem Überfall der
Pariser Acht, die 2014 den Autokonvoi eines Mitglieds des saudi-arabischen
Königshauses überfielen. Es gelang ihnen, 250.000 Euro zu erbeuten.
Weil Ameur-Zaïmeche versteht, dass der Heist im Geiste der Tragödie geboren wurde, verschwendet er bloß ein Minimum an erzählerischer Energie darauf, die kausalen Verkettungen herauszuarbeiten, die dazu führen, dass Bébé schließlich im Gefängnis abgestochen und seine Freunde von den Schergen des Prinzen niedergeschossen werden. Die Tränen, die im Genre fließen, wurden immer schon vergossen.
Zahn um Zahn
Der Prinz selbst ist eine mythische Figur. Man begegnet ihm zum ersten Mal, nachdem der Raub geglückt ist. Die Gebetskette, deren Perlen er mit seiner Rechten mechanisch zählt, symbolisiert den tragischen Motor der Erzählung, der die Geschehnisse so gemächlich wie unaufhaltsam in Bewegung hält. Der Prinz wirkt angeschlagen, krankgemacht durch die Veränderung der Besitzverhältnisse. Es ist, als hätte ihn die Vorstellung, seine Hegemonie zu verlieren, so sehr geschwächt, dass er es nur noch mit Mühe schafft, das Fruchtfleisch von seinen Datteln zu lutschen und ihre Kerne neben die goldene Schale auf den Tisch fallen zu lassen. Er ist so geschwächt, dass die Linke, die er seinem Diener (Lucius Barre) entgegenstreckt, damit dieser sie küssen kann, eine Tonne zu wiegen scheint.
Wie anders dagegen bewegt er seinen Körper in dem Nachtclub gegen Ende des Films, nachdem die sechs Männer aus Clichy-sous-Bois hingerichtet worden sind. Sobald die Klänge des Raï-Musikers Sofiane Saidi ertönen, ist der Prinz dreißig Jahre jünger. Er springt, die schulterlangen Locken offen, auf die Bühne und zuckt die schlanken Gliedmaßen zum ekstatischen Rhythmus, sodass man nicht umhinkommt, sich schlecht zu fühlen für die in der Menschenmenge wachenden Bodyguards mit dem Knopf im Ohr, die ja auch nur ihren Job machen. Das Leben selbst pulsiert, unschuldig und gefräßig, durch die Adern des Prinzen. Es verspottet jene, die nicht mehr tanzen können. So auch Pons, der sich nicht regt und zur Bühne blickt, auf der für Leute wie ihn kein Platz ist.
Während die Genre-Konvention des Gangsterfilms sich damit begnügt, Aufstieg und Fall der Entmächtigten nachzuzeichnen, geht Ameur-Zaïmeche einen Schritt weiter und findet in Monsieur Pons seinen alttestamentarischen Gott. Im Chor mit der heiligen Johanna der Schlachthöfe lässt er ihn sprechen: „Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht.“ Nicht viel später bekundet der Prinz in einer Kunstgalerie sein Interesse für ein Gemälde: „Not for sale?“ Es soll sein Haus in London schmücken. In der Dunkelheit eines gegenüberliegenden Daches wartet Pons auf ihn, der durch das Zielfernrohr seines Gewehrs blickt. An die Leerstelle der tatsächlichen Gerechtigkeit rückt Ameur-Zaïmeche die ästhetische.
Ich erinnere mich gut an die Premiere des Films bei der Berlinale 2023 und die Worte, mit denen Ameur-Zaïmeche sein Werk beschrieb. Ihm sei es darum gegangen, die Machthaber nicht auf die Idee kommen zu lassen, dass nur, weil ihre Unterdrückung fortwähre, deren Zwangscharakter im Bewusstsein der Unterdrückten verblasse. Über die Philosophie schreibt Adorno: „Perspektiven müssten hergestellt werden, in denen die Welt ähnlich sich versetzt, verfremdet, ihre Risse und Schründe offenbart, wie sie einmal als bedürftig und entstellt im Messianischen Lichte daliegen wird.“ Gleiches gilt für das Kino, dessen Aufgabe es vielleicht ist, durch die Gegenüberstellung der Welt, so wie sie ist, und ihrem filmischen Abbild eben jene Kluft spürbar zu machen, die zwischen ihr und einer gerechteren liegt.
Literaturhinweis
Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Von Theodor W. Adorno. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main 2003.
Schriften. Von Danièle Huillet, Jean-Marie Straub. Vorwerk 8, Berlin 2020.
Zum Siegfried-Kracauer-Stipendium
Das Blog „Disziplin & Kontrolle“ von Leo Geisler über die Wandlungen im Heist-Genre entsteht im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Stipendiums, das der Verband der deutschen Filmkritik zusammen mit MFG Filmförderung Baden-Württemberg, der Film- und Medienstiftung NRW und der Mitteldeutschen Medienförderung (MDM) jährlich vergibt.
Die einzelnen Beiträge des aktuellen Stipendiums, aber auch viele andere Texte, die im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Stipendiums in früheren Jahren entstanden sind, finden sich hier.