Lange waren sie nur selten Filmhelden, doch mittlerweile hat das Kino sein Faible für Dirigenten entdeckt. Die Männer und Frauen hinter dem Pult sind manchmal versierte Vermittler, manchmal schreckliche Tyrannen. Oder auch ganz normale, von Problemen belastete Menschen wie aktuell im Drama „Die leisen und die großen Töne“ (Kinostart am 26.12.). Bei allen Unterschieden im Detail legen diese Filme bei der musikalischen Vorbereitung großen Wert auf Glaubwürdigkeit. Eine Passage durch aktuelle Dirigentenfilme.
Man könnte darüber sinnieren, warum die Leben berühmter Dirigenten wie Arturo Toscanini, Herbert Karajan oder Karl Böhm bislang noch nicht verfilmt wurden. Doch da Dirigenten seit einiger Zeit im Kino Konjunktur haben, würde es nicht erstaunen, wenn das in naher Zukunft geschehen sollte. Ein Film über Sergiu Celibidache mit John Malkovich ist bereits in Arbeit. Bradley Coopers Biopic „Maestro“ um den legendären Leonard Bernstein machte ja schon einen Anfang.
Wie es zu diesem anhaltenden Interesse an diesem Berufsstand gekommen ist, lässt sich nur schwer fassen. Aber das Talent, eine große Gruppe von Menschen unterschiedlichster Nationalitäten zu einem homogenen Klangkörper zu formen und zu bewirken, dass sich das gemeinsame Erleben magisch auf das Publikum überträgt, hat sicherlich damit zu tun.
Porträts realer Dirigiergrößen, zu denen man auch die Dokumentation „Joana Mallwitz- Momentum“ (2024) zählen kann, bilden jedoch nur einen kleinen Teil innerhalb der boomenden Dirigentenfilme. In den überwiegenden Produktionen sind die Protagonisten zumeist fiktive Figuren, bisweilen inspiriert von realen Pultstars.
Die Fähigkeit, große Gruppen zu kontrollieren
Emmanuel Courcol, Regisseur des Dramas „Die leisen unddie großen Töne“, erlag schon in jungen Jahren der Faszination von Herbert von Karajan. Er legte Platten von ihm auf und dirigierte dazu. Vor allem die Fähigkeit der Kapellmeister, große Gruppen zu kontrollieren, imponiert dem Franzosen. Das hebe sie von Politikern ab, die damit überfordert seien.
Courcol war sich zu dem Zeitpunkt, als ihm dieses Thema in den Sinn kam, nicht bewusst, dass er in einen regelrechten Boom hineingeraten würde. Freunde, denen er von seinem Projekt erzählte, reagierten skeptisch. Aber er ließ sich nicht beirren und vertraute auf seine Geschichte, in der es in erster Linie um soziale Unterschiede im Musikerleben geht und um das Potenzial von Musik, Grenzen zu überwinden und divergente Kräfte zusammenzuführen: Profimusiker und Amateure, Sinfonieorchester und Blaskapellen. Auch wenn das nach Courcols Einschätzung aufgrund der Klassenunterschiede eher einem Wunschdenken entspringt.
Denn Orchestermusiker, die hohen Leistungsansprüchen genügen müssen, fühlen sich in der Regel erhaben gegenüber den durch die Straßen ziehenden Kapellen mit ihren populären Klängen zum Mitklatschen. Und den Menschen, die mit ihren Trompeten, Posaunen, Klarinetten, Tuben und Saxofonen in der Freizeit proben, ist der Zugang zur klassischen Musik meist verschlossen geblieben.
Mit „Die leisen und die großen Töne“ bricht Courcol
liebevoll eine Lanze für die Hobbymusiker, indem er mit dem Vorurteil aufräumt,
dass jemand, der es nicht weiter als zum Mitglied einer solchen Kapelle
gebracht hat, kein Talent habe. Mit dem Posaunisten Jimmy (Pierre Lottin), dem Bruder des erfolgreichen Dirigenten
Thibaut (Benjamin Lavernhe),
bringt er eine Figur ins Spiel, die mit ihrem absoluten Gehör durchaus das Zeug
gehabt hätte, eine erfolgreiche Karriere als Musiker zu starten – wenn Jimmy in
gleicher Weise gefördert worden wäre wie sein Bruder Thibaut.
Mit dem steht dem Film eine Autorität vor, die der Laienmusik vorurteilsfrei begegnet und der seine Fähigkeiten ohne Dünkel dazu nutzt, die Truppe für einen Wettbewerb zu rüsten. Die damit verbundenen Erwartungen erfüllen sich zwar nicht, aber dafür findet das Drama ein sympathisch-utopisches Finale, wenn die Bläsertruppe nach allerhand Niederlagen spontan im Konzertsaal aufläuft, Ravels „Bolero“ anstimmt, und die Orchestermusiker auf dem Podium sich ihnen nacheinander anschließen. Hoffnungsreicher ließe sich ein Brückenschlag zwischen Profis und Laien nicht denken.
Vermittler zwischen den Fronten
Eine ähnlich bewegende Geschichte erzählt Dror Zahavi in „Crescendo“ (2019). Hier spielt Peter Simonischek einen Dirigenten, der – unübersehbar inspiriert von Daniel Barenboim und seinem West-Eastern Divan Orchestra – im Nahostkonflikt vermitteln will, indem er junge israelische und arabische Musiker in einem Orchester zusammenführt. Die schwerwiegenden Konflikte kann allerdings weder der lebensnahe Film noch der argentinische Weltklasse-Musiker Barenboim lösen. Der hatte seine Erwartungen auch nicht zu hoch gehängt, als er nach der Gründung des Orchesters 1999 meinte, er könne „nur den Hass verringern“.
Die Konflikte zwischen den verfeindeten Lagern lassen sich in „Crescendo“ trotz größter diplomatischer Bemühungen des Dirigenten nicht unter dem Deckel halten. Doch dass sie kraft der Musik und ihres engagierten Leiters überhaupt in einen Dialog miteinander treten, ist schon ein Erfolg.
Wie Courcol endet auch Zahavi mit einem Hoffnungsfunken, indem er Israelis und Araber am Flughafen spontan und trotz einer Panzerglasscheibe zwischen sich gemeinsam musizieren lässt, und zwar gleichfalls Ravels „Bolero“.
Dass gleich zwei Filmemacher für ihre gesellschaftspolitische Botschaft Ravels berühmtes, von Fabrikmaschinen inspiriertes Stück ausgewählt haben, mag diese Musik selbst erklären. Mit ihrem gleichbleibenden prägnanten Rhythmus und der einfachen, sich in Endlosschleifen wiederholenden Melodie ist dieser Ohrwurm recht einfach realisierbar, zumal im Moment spontanen Improvisierens ohne Noten.
Macht, die einige auch missbrauchen
Als diejenigen, die ein musikalisches Geschehen steuern, genießen Dirigenten freilich eine Macht, die auch missbraucht werden kann, wenn Musiker angeschrien, beleidigt, geohrfeigt oder sexuell belästigt werden. Gleichzeitig sind aber auch die Maestros verletzbare Wesen mit menschlichen Schwächen, die mal hinter den Kulissen verborgen bleiben, mal an die Öffentlichkeit dringen und für Aufruhr sorgen.
Verständlicherweise reizen die aus solchen Gegensätzen
resultierenden Spannungsfelder das Kino. Todd Fields Drama „Tár“ steht dafür beispielhaft,
auch wenn hier kein Mann, sondern ein Frau im Zentrum steht. Wie die US-amerikanische
Dirigentin Marin Alsop kritisiert, erscheint diese lesbische Lydia Tár (Cate Blanchett) als eine sehr
untypische, mit Allüren behaftete Dirigentin, die Studierende ihrer
Meisterklassen herablassend behandelt, Musikerinnen unverhohlen Avancen macht
und eine Elevin sogar zu einer Verzweiflungstat angetrieben haben soll, worüber
sie zusehends in die Kritik gerät und schließlich zu Fall kommt.
Tatsächlich sind Übergriffe im realen Konzertbetrieb ein Thema, wenn man an den britischen Dirigenten John Eliot Gardiner denkt, der für Schlagzeilen sorgte, nachdem er einen Sänger geohrfeigt haben soll. Oder an François-Xavier Roth, der Musikerinnen mit Fotos von seinem Genital belästigte. Von Dirigentinnen sind solche Entgleisungen bislang aber nicht bekannt.
Die eigene Familie nicht im Griff
Eine bewegendere Geschichte über eine verletzte Seele erzählt Matthias Glasner in „Sterben“. Hier ist der Konflikt privater Natur. Dem Dirigenten Tom Lunies (Lars Eidinger) wird erst nach dem Tod seines Vaters sein familiäres Trauma bewusst, als er von seiner Mutter erfährt, dass sie ihn als Baby einmal auf den Boden fallen ließ, da sie sein unaufhörliches Geschrei nicht mehr ertragen konnte. Unter ihrer Lieblosigkeit hat der Sohn sein ganzes Leben lang gelitten.
Aber das ist nicht alles, was Tom belastet. Als höchst schwierig gestaltet sich die Beziehung mit seiner Ex-Freundin, um deren von einem anderen Mann stammendes Kind er sich wie um ein eigenes kümmert. Zudem zieht ihn sein bester Freund, ein Komponist, in dessen Selbstmordpläne hinein. Und als wäre das alles nicht genug, sabotiert Toms alkoholsüchtige Schwester die Uraufführung eines Werkes, das dem Film seinen Titel gibt, mit einem Husten- und Brechanfall.
Alle Figuren in „Sterben“ sind sehr komplex, was ihren Reiz ausmacht. Tom erscheint hart im Leben, gibt sich verständnisvoll, geduldig und resilient in Konfliktsituationen. Gleichzeitig wird aber auch spürbar, wie Lebensenttäuschungen an ihm nagen und ihm die Kontrolle in einer Extremsituation wie dem Konzert in der Berliner Philharmonie entgleitet, als nach dem störenden Auftritt seiner Schwester die Uraufführung platzt.
Auf diese Weise zoomt Glasner von der menschlichen Seite her an einen Dirigenten heran, den die meisten nur aus der Entfernung erleben. Trotz einiger Überzeichnungen trifft er dabei einen wahren Kern. Dirigenten sind oftmals sensible Naturen, denen Probleme, gerade auch in ihrem beruflichen Umfeld, stark zusetzen. Claudio Abbado, an dessen Krebserkrankung die schwierige Beziehung zu den Berliner Philharmonikern gewiss einen Anteil hatte, mag beispielhaft dafür stehen.
Charismatisch & auf hohem Niveau
Was die Dirigenten von „Sterben“, „Die leisen und die großen Töne“, „Crescendo“, „Maestro“ und „Tár“ miteinander teilen, sind ihr Charisma und ihre Qualitäten als Führungspersönlichkeiten. Ihre Schwächen, Ecken und Kanten differieren, und die filmischen Erzählungen beleuchten auf bewegende Weise unterschiedliche Facetten, mal mehr, mal weniger dicht. In „Sterben“ wirkt eine eigens von Lorenz Dangel für den Film komponierte, konzertsaaltauglich-packende sinfonische Musik mit einem schwermütigen Cello-Solo höchst ambitioniert.
Wichtig aber ist, dass alle genannten Filmen sich auf einem hohen künstlerischen Niveau bewegen. Auch dank einer guten musikalischen Beratung und Schauspielern, die auf ihre Rollen kompetent vorbereitet wurden. Sie bewegen sich derart überzeugend auf dem Podium, dass sich annehmen ließe, sie könnten auf langjährige Dirigiererfahrungen zurückgreifen. Das ist nicht selbstverständlich. In früheren Jahrzehnten sah man Schauspielern an, dass sie noch nie zuvor einen Taktstock in der Hand gehalten hatten. Wenn sich Produktionen eines vergleichbar hohen Anspruchs und musikalischer Kennerschaft versichern, kann es davon gerne noch mehr geben.