© 20thCentFox/Courtesy Everett Collection (Brian De Palmas „Das Phantom im Paradies“)

Kuchenfilm (V): Kino als Verbrechen

SKS-Essayreihe „Kuchenfilm“ (V): Über die Verbindung von Kino und Verbrechen

Veröffentlicht am
03. Dezember 2024
Diskussion

Ausgehend von persönlichen Erinnerungen an heimliche Blicke auf verbotene Filmbilder sinniert Siegfried-Kracauer-Stipendiat Leonard Geisler in seinem fünften Essay über den Reiz des Filmesehens als Grenzüberschreitung, voyeuristisches Begehren und in Rückgriff auf den französischen Filmphilosophen Jean Louis Schefer über die Verbindung zwischen Kino und Verbrechen.


Ich bin aufgewachsen in einem Reihenhaus im dörflichen Südhessen. Eine Wand trennt das Wohnzimmer von der Treppe, die in den ersten Stock führt. Diese Trennwand spaltet das Zimmer im Erdgeschoss jedoch nur bis zur Raumhälfte auf. Diagonal von den oberen Stufen der sich einmal um die halbe Achse windenden Treppe steht ein Fernseher, der über die Jahre zwar gewachsen ist, sich aber nie vom Fleck bewegt hat. Während das restliche Wohnzimmer von der Trennwand verdeckt ist, kann man den Fernseher von der dritt- oder vierthöchsten Treppenstufe aus sehen, wenn man sich nur tief genug bückt. Früher war der Raum in der Etage über dem Wohnzimmer mein Kinderzimmer. Nachdem sie meine Schwester und mich ins Bett gebracht hatten, setzen meine Eltern sich in der Regel auf die im toten Winkel gelegene Couch und schauten fern.

In der Regel schob ich mich dann durch die angelehnte Tür meines Zimmers, die immer einen Spalt offenstand, damit ein Streifen Licht ins Dunkel scheint, schlich zur Treppe und setzte mich auf die vierthöchste Stufe, um heimlich an die Bilder zu kommen, die mir vorenthalten wurden, stets lauschend, ob die Körper auf der Couch sich nicht bewegten, um im Zweifelsfall mit zwei stillen Schritten aus dem Sichtfeld einer eventuell hinter der Wand hervortretenden Person zu verschwinden. Ich erinnere mich an Bilder von einem Mann, der in einem Fernsehkrimi erschossen wird. Und ich erinnere mich an das Gefühl, einen untersagten Blick zu erhaschen auf eine Welt, die größer und abgründiger ist, als ein hessisches Dorf sie verkauft.


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Der Wahrnehmungsmodus des Voyeurismus

Seitdem ist das Kino Flaschenpost aus einem mir verbotenen Land, einem Areal, das hinter der Grenze dessen wuchert, was erlaubt ist. Als Jugendlicher stieß ich auf eine Website, die auf der Top-Level-Domain .to endet (Königreich Tonga, ein Inselstaat im Südpazifik). Auf dieser Website entdeckte ich das amerikanische Kino, die Traummaschine, dessen Grammatik unsere Fantasie kolonisiert. Ich begann, Filme nicht mehr bloß über die Knotenpunkte ihrer Darstellenden zu verknüpfen, begann das Gesehene um die Filmschaffenden herum zu organisieren. Ich schaute die verpixelten Filme mit Kopfhörern, auf halber Lautstärke, wie schon als Kind immer horchend, ob meine Mutter nicht die Treppe hochgestiegen kommt. Das Wissen um die Existenz des Strands mit all den angespülten Flaschen, um all die vergilbten Bilder in ihren Bäuchen, stimulierte in mir ein Begehren, zu sehen, die im digitalisierten Polyesterfilm konservierten Obsessionen nun vielleicht schon erkalteter Körper zu sammeln und zu sortieren.

Die Filme von Brian De Palma zeichnet der Wahrnehmungsmodus des Voyeurismus aus (© imago images/Mary Evans)
Die Filme von Brian De Palma zeichnet der Wahrnehmungsmodus des Voyeurismus aus (© imago images/Mary Evans)

Dabei verschleiern die Filme ihre Psychogenese mit unterschiedlicher Sorgfalt. Beispielsweise erzählt Brian de Palma in einem Gespräch mit Noah Baumbach eine Anekdote aus seiner Kindheit. Weil der Junge seinen Vater, einen Chirurgen, des Ehebruchs verdächtigte, fotografierte er von der gegenüberliegenden Straßenseite die Frauen, die dessen Praxis betraten. Eines Tages durchschlug er die Glastür mit der Faust und bedrohte seinen Vater mit einem Messer: „Wo ist sie?“ Der Junge fand dessen Geliebte schließlich versteckt in einem Schrank in der dritten Etage der Praxis. Ob in de Palmas Filmen junge Frauen sterben müssen, um die Hilflosigkeit eines Kindes, das seine Mutter leiden sieht, wettzumachen, bleibt Spekulation. Jedenfalls ist das kinematografische Objekt des Messers und der Wahrnehmungsmodus des Voyeurismus eingeschrieben in die DNA seiner Filmografie.


Das Bildersehen als Überschreitung

Nach der Schule zog ich nach Freiburg, um zu studieren. Unter der Woche lief fast jeden Abend um 20 Uhr das Programm des universitären Filmclubs in einem tribünenartigen Hörsaal mit herunterklappbaren Holzstühlen, den tagsüber die juristische Fakultät beanspruchte (deren Gegenstimme das Kino ist). Für gewöhnlich war ich spät dran. Oft schloss ich mein Fahrrad erst einige Minuten vor Vorstellungsbeginn am Platz der Alten Synagoge ab, um mit den Leuten aus meinem Studium Gras zu rauchen, bevor wir zum abgedunkelten Hörsaal hasteten. Doch meistens kam ich allein. Das Gras hatte eine eher an- als entspannende Wirkung auf mich. Ich sorgte mich, dass die Mitglieder des Filmclubs an der Abendkasse bemerken würden, dass ich high bin. Ich bildete mir ein, sie könnten noch die unscheinbarste Rötung meiner Augäpfel registrieren. Sobald die Bilder an der Wand erschienen, ließ das Unwohlsein nach, gänzlich verschwand es jedoch nie. Insbesondere der mir unvertraute Freundeskreis kam mir kategorisch fremd vor, als wüssten sie etwas, von dem ich nichts verstand.

Im Nachhinein vermute ich, dass der Reiz des unbehaglichen Rauschs darin lag, eben jenen Anspannungszustand herzustellen, der mein Verhältnis zum filmischen Erzählen seit meinem Versteck auf den Treppenstufen konturierte. Das Bildersehen ging immer einher mit einer Überschreitung, einer Verletzung der Regeln meiner Eltern, des Urheberrechts, des Betäubungsmittelgesetzes. Vielleicht provoziert die Heimlichkeit des verbotenen Blicks eine erhöhte Empfindsamkeit, macht empfänglicher für die Bilder, so wie eine Trennung empfänglicher macht für das affektive Potential trauriger Musik. Gewiss handelte es sich bei den durch die Überschreitung hergestellten Zuständen um weitestgehend fiktive Delinquenzszenarien, resultierend aus einer gewissen Langeweile. In den Worten von Burroughs: „Meine kriminellen Handlungen waren Gesten, unprofitabel und größtenteils unbestraft. Ich brach in Häuser ein und spazierte herum, ohne etwas mitzunehmen.”


Delinquent-Werden

Dennoch ist Wim Wenders auf der richtigen Spur, wenn er in „Der amerikanische Freund“ (1977) die Verbrecherorganisation, die Bruno Ganz dazu bringt, Auftragsmorde zu begehen, ausschließlich mit Filmregisseuren besetzt: Dennis Hopper, Gérard Blain, Nicholas Ray, Samuel Fuller, Peter Lilienthal, Daniel Schmid, Jean Eustache. Man muss es Wenders anrechnen, dass er verstand: Kino machen heißt, delinquent werden.

Auch Jean Louis Schefer zufolge kriminalisiert das Kino den in der Dunkelheit sitzenden Körper. Die Verbindung zwischen Kino und Verbrechen stellt Schefer in seinem Essay „Das Verbrecherische Leben“ – in Anlehnung an Buñuels „Das verbrecherische Leben des Archibaldo de la Cruz“ (1955) – parallel auf den drei Ebenen der Überlebensschuld, des Identitätsdiebstahls und des Wunsches her (nachzulesen im Band „Der gewöhnliche Mensch des Kinos“). Der Pariser Schefer wurde 1938 hineingeboren in den Zweiten Weltkrieg: „Schutzräume in der Nacht, Bombardements, Gebete auf Knien in einem verdunkelten Wohnzimmer während der Bombenexplosionen, staubiger Kaffee und Vorbeizug von Gefangenen vor den Fenstern, nächtliche Reisen, allein, in einem Lastwagen im Winter, vier Jahre lang …“

„Der amerikanische Freund“ demonstriert auch durch die Besetzung, dass Kino machen heißt, delinquent zu werden (© StudioCanal)
„Der amerikanische Freund“ demonstriert auch durch die Besetzung mit Regisseuren wie Dennis Hopper, dass Kino machen heißt, delinquent zu werden (© StudioCanal)

Der Krieg ließ die Musik der Kindheit jedoch nicht verstummen. Erst nach seinem Ende, in einer Vorstellung von Vittorio de Sicas „Schuhputzer“ (1946), brach er schließlich über Schefer herein: „Alle Angst des Krieges, vier Jahre Terror, zerbrochene Objekte und verschwundene Gesichter ließen sich mit einem Mal im Saal nieder, mit dem ersten Bild des Films.“ Die Bilder in der Dunkelheit, ihre monumentalen Gesichter in Granitgrau, sind Erinnerungsstätte für ein Verbrechen, das an niemandem begangen wurde und gleichzeitig beständig in der Schwebe gehalten wird. Weil wir Filme im Kino sehen, „als ob ein Kind in uns noch immer unsere Hand hielte“, wird das Verschüttete erfahrbar, wird in der Reflexion der Bilder ein Text, der nie geschrieben wurde, lesbar. Die durch die deutsche Besetzung Frankreichs biografisch eingefärbte Erfahrung des Kinos als Raum, der Wunden gleichermaßen leckt wie aufreißt, verleimt Schefer mit den Eigenschaften der filmischen Form als solcher, nämlich der Montagetechnik des Schnitts: „Das Universum ist diskontinuierlich; etwas in ihm, im Innersten des Simulierten selbst, ist immer zerbrochen: Die Katastrophe oder die größte Verstümmelung ist schon geschehen.“


Jeder Mensch, der ins Kino geht, sagt: Ich will etwas anderes sein

Das zweite Verbrechen, dessen sich die Delinquenten im Kinosaal schuldig machen – es handelt sich hierbei um den Hauptanklagepunkt –, ist der Identitätsdiebstahl. Menschen bewegen sich durch die Welt als Subjekte, als Schwerpunkte, Geister oder Zentren, um die sich das Außen, vermittelt durch die Sinnesorgane, krümmt. Dieser Subjektstatus wird im Kino von der entkörperlichten, frei umherspringenden Kamera aufgelöst (und weil der Körper in Vergessenheit gerät, ist es so unerträglich, einen fremden Mund im Kinosaal schmatzen zu hören; man will ihn vierteilen, skalpieren, jemanden aus der Sitzreihe dahinter bitten, ihn mit einer Klavierseite zu erdrosseln). An die Stelle des einen Schwerpunkts rückt der Schnittrhythmus: „Der ungewisse, vom Zentrum entlastete, um dieses Bleigewicht erleichterte Körper wird von den Ideogrammen geritzt oder tätowiert, die jeden, der darin die Schrift seines Begehrens entziffert, zur Hölle schicken.“ Einen Film sehen heißt, die Selbstamputation wünschen, sich ausstreichen, wegwischen, annullieren. Jeder Mensch, der ins Kino geht, sagt: Ich will etwas anderes sein.

Dieses Andere ist eine gespensterhafte Existenz, ein unerwarteter Vampir, eine wimmernde Kreatur, ein durchsichtiger Schläfer, ein unbestimmtes Etwas im riesigen Aquarium unseres Innenlebens, „als stecke in seiner gedämpften Flüssigkeit ein Tier oder ein konturloser Mensch die Hände aus oder lache wie ein Zwerg all diesen Bildern zu, deren Licht er, wie er weiß, gleichwohl ist“. Die Gespensterhaftigkeit dieser zweiten, aufgepfropften Existenz liegt darin begründet, dass wir die fremde Welt zwar wahrnehmen, zwar in sie hineingeworfen werden, nicht aber in ihr handeln, nicht mit ihr interagieren können: „Das heimtückische Vergnügen unter einer niedrigen Decke, die Hitze einer gemeinsamen Indiskretion, der erhabene Elan, den ich mit meiner Ohnmacht begleite – wie ein ungeschickter Tänzer nur mit einem Fuß die Musik skandieren kann, die ihn über die Tanzfläche fliegen lassen müsste –, für all das werde ich sterben, so weit weg von den Bildern und davon, sie zu berühren, so weit entfernt von ihrem Licht.“ Die Cinephilie lässt uns zur Hölle fahren, weil sie uns zu dem Verbrechen verführt, eine ganze Welt herzuschenken für den Blick in ein anderes Leben, uns dazu verführt, unsere Erinnerung zu bevölkern mit Bildern, die wir bloß ohnmächtig erfahren haben.

Filme wie „Schuhputzer“ machen das Verschüttete erfahrbar (© IMAGO / Everett Collection)
Filme wie „Schuhputzer“ machen das Verschüttete erfahrbar (© IMAGO / Everett Collection)


Der Zauber der symbolischen Grenzüberschreitung

Das dritte kinematografische Verbrechen ist das Verbrechen des Wunsches. Zwar ist unsere zweite Existenz eine Simulation, doch artikuliert sie unser tatsächliches Begehren: „Die imaginäre Welt berührt mich nicht, die Handlungen, die sie vermessen, dringen nicht in mein Leben; trotzdem sehne ich mich nach ihr, durch die Körper und Erscheinungen, die meine verborgenen Wünsche tragen, hindurch.“ In seiner Beschreibung einer Szene, in der ein Mann auf der Straße erstochen wird, bestimmt Schefer sich selbst als den einzigen Tatort, in dem der zeichenhafte Mord geschieht: „Auch wenn ich nichts anderes kann, als dieses Flimmern von Handlungen mit den vorbeiziehenden Objekten und Gesten zusammenzubringen, bin ich doch der einzige Ort, an dem die Zeit dieses Verbrechens eine Dauer besitzt – diese Dauer ist auf Anhieb in mir.“ Niemand stieße das Messer kaltblütiger zu als er, niemand seufze schmerzerfüllter auf. Wie von Ewigkeit her sind wir das Opfer, der Täter und die Gewalt zugleich.

Doch weshalb wünschen wir das Verbrechen im Film? Weshalb kann Hitchcock sagen: „In den letzten Jahren war es mir ein Vergnügen, mehrere hundert Opfer in den Wohnzimmern meiner amerikanischen Fernsehzuschauer zu verteilen; ich hoffe, dass dabei geflossene Blut hat die Teppiche nicht zu sehr ruiniert“? Die Antwort findet sich im subversiven Zauber der symbolischen Grenzüberschreitung. So ist jeder Gesetzkörper ein Ordnungssystem, das Produktion, also die Erfüllung unserer Wünsche, ermöglicht. Etwas in uns sträubt sich jedoch gegen jegliche Form der Organisation, gegen das Wünschen-Müssen. Deleuze und Guattari beschreiben dieses Etwas als den organlosen Körper: „Unter den Organen spürt er die widerlichen Larven und Maden und die schludrige Tätigkeit eines Gottes, der ihn, im Akt des Organisierens, erdrosselt.“ Dieser organlose Körper will keinen Mund, keine Zunge, keinen Magen: „Den Organmaschinen setzt der organlose Körper seine glatte, straffe und opake Oberfläche entgegen, den verbundenen, vereinigten und wieder abgeschnittenen Strömen sein undifferenziertes, amorphes Fließen. Den phonetisch aufgebauten Worten setzt er Seufzer und Schreie, ungegliederte Blöcke, entgegen.“

Im zeichenhaften Aufstöhnen des Täters, im Aufschreien des Opfers, in der kühlen Gleichgültigkeit des Messers, in seinem Dringen durch Mantel, Hemd und Haut, findet der organlose Körper für einen Augenblick zu sich, indem er sich in seiner Ohnmacht der Ordnung des Gesetzes entzieht. Wir sind mit einem Stock in den nassen Sand zwischen zwei Wellen gekritzelte Gesichter. Die Gesichter lächeln über ihre Struktur, doch blicken aufs Meer.


Literaturhinweis

Junky. Von William S. Burroughs. Penguin Books, London 1977.

Der gewöhnliche Mensch des Kinos. Von Jean Louis Schefer. Wilhelm Fink Verlag, München 2013.

Erlesene Verbrechen und makellose Morde. Von Henry Slesar. Diogenes, Zürich 1964.

Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Von Gilles Deleuze und Félix Guattari. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main 2019.


Zum Siegfried-Kracauer-Stipendium

Das Blog „Disziplin & Kontrolle“ von Leo Geisler über die Wandlungen im Heist-Genre entsteht im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Stipendiums, das der Verband der deutschen Filmkritik zusammen mit MFG Filmförderung Baden-Württemberg, der Film- und Medienstiftung NRW und der Mitteldeutschen Medienförderung (MDM) jährlich vergibt.

Die einzelnen Beiträge des aktuellen Stipendiums, aber auch viele andere Texte, die im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Stipendiums in früheren Jahren entstanden sind, finden sich hier.

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