© StudioCanal (Jean-Paul Belmondo, Emmanuelle Riva in „Eva und der Priester“)

Verteidigung des Originals

Die Werke des französischen Ausnahmeregisseurs Jean-Pierre Melville erreichten das deutsche Publikum einst nur in entstellenden Rumpfversionen. Eine exemplarische Spurensuche in unterschiedlichen Fassungen dreier Filme aus Melvilles Frühwerk.

Aktualisiert am
30.10.2024 - 13:30:49
Diskussion

Jean-Pierre Melville war als Regisseur in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg eine Ausnahmegestalt. Von der Nouvelle Vague als Vorbild verehrt, stießen seine fatalistischen Filme über Gangster und andere Parias auf Unverständnis bei der breiten Masse der damaligen Kinokultur, zumal außerhalb seines Heimatlands Frankreich. So wurden seine Arbeiten für ihre deutschen Kinopremieren regelmäßig gekürzt und teilweise im Sinn verfälscht. Der Vergleich dieser Rumpfversionen mit den Originalfassungen erlaubt bemerkenswerte Erkenntnisse über die Komplexität von Melvilles Filmen.


Jean-Pierre Melville (1917-1973) war ein Cinéphiler durch und durch. Geprägt von der Résistance, hegte der in Paris Geborene dennoch große Sympathie für das Deutsche: die Sprache, das Denken, die Philosophie. Stammte doch die polnisch-jüdische Familie Grumbach – so sein richtiger Familienname – aus dem französischsprachigen Belfort, das bis 1871 zum Elsass gehörte. Die Namensänderung in Melville interpretierten einige Kritiker als Spiel, als Affinität für doppelte Identitäten, im Leben wie im Werk des Cineasten.

Seine ersten Projekte realisierte der Autodidakt ohne offizielle Genehmigung, ohne Geld. Er galt als Außenseiter in einer zentralisierten französischen Filmindustrie mit Wagenburgmentalität. Deshalb installierte er 1950 im 13. Arrondissement von Paris, in der Rue Jenner, sein eigenes Studio: Traum und Albtraum zugleich! Melville zelebrierte das Harte, das Männliche, das Ungeschliffene. Obwohl seine filmische Ästhetik immer auch einen Hauch von Künstlichkeit, einen fahlen (Nach-)Geschmack und Bilder voll narzisstischer Romantik vermittelt.

Der unabhängige, von Produzenten und Gewerkschaften mit Ablehnung gestrafte Créateur würde die heute zum Klischee mutierte Einordnung als „Kreativer“ wahrscheinlich verachten. Viele Nachrufe klassifizierten den 1973 früh Verstorbenen als Einzelgänger, als Samurai, übte er doch nahezu alle Filmgewerke selbst aus.


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Wie bei anderen großen Außenseitern unter Regisseuren, die in der 1940er-Jahren zu drehen begannen – man denke vor allem an Robert Bresson –, zeigen sich die Überforderung und die daraus resultierende ablehnende Haltung bei manchen zeitgenössischen Rezipienten nicht allein in den (gespaltenen) Kritiken und (niedrigen) Einspielergebnissen. Sie manifestieren sich auch in den oft stark gekürzten, teils im Sinn entstellten Fassungen seiner Werke, die international von den Verleihern verbreitet wurden, wie sich schon an auseinanderklaffenden Längen-Angaben der Filme ersehen lässt. Im Falle von Jean-Pierre Melville soll im Folgenden anhand von dreien seiner Werke – „Drei Uhr nachts“, „Und keine blieb verschont“ und „Eva und der Priester“ – gezeigt werden, welche gravierenden Auswirkungen die Schnitte in den deutschen Kinofassungen für Ausrichtung und Verständnis der Filme bewirkten.

Roger Duchesne als gealterter Spieler in „Drei Uhr nachts“ (© IMAGO / Prod. DB)
Roger Duchesne als gealterter Spieler in „Drei Uhr nachts“ (© IMAGO / Prod. DB)


I. Drei Uhr nachts (1956)

Melvilles erster Spielfilm, „Das Schweigen des Meeres (1947/49), basiert auf dem gleichnamigen Roman von Résistance-Mitglied Vercors, sein zweiter, „Die schrecklichen Kinder“ (1950) auf einem Roman von Jean Cocteau. Bei diesen beiden Werken benennen Quellen wie Kinostart-Listen, Sender und DVD-Verleiher mitunter zwar leicht voneinander abweichende Filmlängen, doch sind diese mit unterschiedlichen Abspielgeräten erklärbar. Von einer signifikanten Längenabweichung hinsichtlich Original und deutscher Version kann nicht gesprochen werden. Anders verhält es sich beim Gangsterfilm „Drei Uhr nachts“ (1956). Die Originalfassung von 103 Minuten weicht gegenüber der deutschen Verleihversion von 1958 um 5 Minuten ab (allerdings existieren unterschiedliche Längenangaben für das Original zwischen 98 und 104 Minuten.) Die meist kürzeren Schnitte in der deutschen Fassung von „Drei Uhr nachts“ bewirken keine Straffung der Erzählperspektive oder Spannungsverdichtung des Plots, der um einen Geldraub aus dem Tresor des Spielcasinos in Deauville kreist. Die diversen Auslassungen machen aber das Charakterbild, die (Lebens-)Geschichte des gealterten Spielers und Edelgangsters, der im Mittelpunkt des Films steht, in der Summe ärmer. Nachvollziehbar wird das in den eingefügten, deutsch untertitelten Originalpassagen der restaurierten Edition vom Anbieter Arthaus.

Bereits indem die Sequenz vor dem Filmtitel („Das ist die sonderbare Geschichte von Bob, dem Spieler, wie sie am Montmartre erzählt wird.“) entfällt, wird die nachfolgende Erzählung geschwächt. Bezeichnend ist auch Bobs fehlende Selbsteinschätzung vor dem Schaufenster, wenn er seine Krawatte pedantisch zurechtrückt und meint: „Eine richtige Gaunerfratze!“ Seiner Haushaltshilfe hängt er die Notiz an die Tür: „Madame Regnier, putzen Sie heute nicht, lassen Sie mich schlafen. Ich bin spät nach Hause gekommen.“ Als Bob später zur Tür geht, liest er die Antwort: „Monsieur Bob, um Sie nicht zu stören, habe ich die Wäsche in die Küche gelegt. Der Kaffee steht auf dem Herd. Bis morgen, Celeste.“

Noch aussagekräftiger ist die entfallene Teilsequenz, in der Bob mit der selbstbewussten jungen Anne im Auto zu seinem Elternhaus fährt und seine Herkunft, seinen Lebensweg offenbart. Die Frage „Und Ihr Vater?“ beantwortet er mit: „Ich heiße Montagne, wie meine Mutter.“ Anne bemerkt anspielend auf das belastete Vater-Sohn-Verhältnis: „Sie hatte kein Glück mit euch beiden.“ Bob erklärt: „Zehn Jahre später kam ich zurück. Am frühen Morgen, ich hatte nicht geschlafen. Ich stolperte über eine Frau, die den Boden putzte. Sie kniete auf dem Boden. Das Bild war mir vertraut. Daran habe ich sie erkannt. Ich bin schnell weg, ohne ein Wort. Seitdem habe ich jeden Monat Geld geschickt. Dann kam es zurück. Sie hat nie mehr den Boden gewischt.“

Bobs Reflexion der Vergangenheit setzt sich in der geschnittenen Szene mit seinem Kumpel Roger, einem Tresorspezialisten, im Auto fort. Jener sagt: „Du tust mir leid. Du bist tiefer gesunken denn je.“ Bobs ungehaltene Entgegnung „Was?“ kontert Roger: „Du hast es doch gehört. Schämst du dich denn nicht?“ Bob bekennt: „Ich habe mein ganzes Leben lang Scheiße gebaut. Als Kind hatte ich noch Entschuldigungen. Jetzt nicht mehr!“ Später, während einer Autofahrt mit stimmungsvoller Musik, fertigt Roger Zeichnungen vom Spielcasino Deauville und dessen Umgebung an.

„Drei Uhr nachts“: Rückfall in alte Muster am Spieltisch (© IMAGO / Prod. DB)
„Drei Uhr nachts“: Rückfall in alte Muster am Spieltisch (© IMAGO / Prod. DB)

Dem „Schotten“, dem Finanzier des Vorhabens, demonstrieren Bob und Roger das komplizierte Öffnen des Spezialsafes. Bob beschwichtigt dessen Skepsis: „Aber Roger hat bereits eine bessere Methode gefunden.“ Die Nachfrage „War es schwierig, die Schlösser zu besorgen?“ beantwortet er mit: „Nein. Jemand, der beim Hersteller gearbeitet hat.“ Und er fragt Roger: „Brauchst du noch lange?“ Der mahnt: „Sei nicht ungeduldig. Lass mir Zeit, sie zu erforschen.“


Das Glück des Spielers

Nachts folgt die absehbare Unausweichlichkeit: „Jetzt wird Bob seine letzte Partie spielen, und das Schicksal nimmt seinen Lauf.“ Beim Verlassen der Wohnung wirft er eine Münze, um sein Glück zu testen. Die nachfolgende Sequenz – eine Autofahrt, Straßen- und Scheinwerfer-Lichter, Musik, das Casino von Deauville, drei Männer verlassen das Auto – ist eine ästhetische Gesamtkomposition, eine Raffinesse voll polyphoner Suspense-Atmosphäre. Die zahlreichen kurzen Schnitte zerstören in der deutschen Fassung das Erlebnis des dramaturgischen Konzepts.

Lapidar startet der Kommentar: „1 Uhr 30 morgens.“ Bob geht ins Casino, sieht sich innen um. „Als erstes muss er den Croupier aufsuchen und fragen, ob alles gut läuft“, wird das Publikum informiert. „Bob spielt und vergisst, was er Roger versprochen hatte“, heißt es weiter. Bob sitzt am Spieltisch, und vergisst die Zeit: „3 Uhr 30 Uhr.“ Später: „Das ist Robert Montagne, genannt Bob, der Spieler, so wie ihn seine Mutter geschaffen hat.“ Es folgen Zwischenschnitte: am Meer, zwei Autos, in denen Roger und die anderen warten. Am Spieltisch sagt der Croupier: „Karte auf den Ersten. – Acht auf den Zweiten.“

Der nächste Kommentar klärt über Bobs unausweichliche Situation auf: „Das Glück, sein alter Lehrmeister, hatte ihn vergessen lassen, warum er hier ist.“ In seiner Glückssträhne gibt er sich großzügig: „Für die Angestellten. - Wechseln Sie mir das sofort.“ Um „genau 5 Uhr“ nimmt das Schicksal seinen Lauf: Draußen, auf der Straße, setzt nach der Ankunft von Bobs Kompagnons eine Schießerei mit der Polizei ein. Bob kommt durch die Drehtür und hört die Rufe: „Madame, gehen Sie nach Hause. – Sie auch, Monsieur.“

Kein Ausweg in „Drei Uhr nachts“ (© IMAGO / Everett Collection)
Kein Ausweg in „Drei Uhr nachts“ (© IMAGO / Everett Collection)

II. Und keine blieb verschont

Weitaus stärker noch gekürzt als „Drei Uhr nachts kam bereits ein Jahr zuvor Melvilles „Und keine blieb verschont (Quand tu liras cette lettre, 1953) in die deutschen Kinos. Die Verletzung religiöser Gefühle und die Verquickung mit einem fragwürdigen Lebenswandel hat 1957 zu Ablehnung und durchweg schlechten Besprechungen geführt. Die junge Karmeliterinnen-Novizin Thérèse verlässt das Kloster, um ihre jüngere Schwester Denise nach dem Tod der Eltern im Schreibwarengeschäft von Cannes und im Leben zu unterstützen. Als der notorische Frauenheld Max das Mädchen verführt und vergewaltigt, zwingt sie ihn, Denise nach einem Selbstmordversuch zu heiraten. Aber dessen Einwilligung soll ihm nur den Zugang zu ihr selbst ermöglichen. Mit dem gestohlenen Geld der Großeltern seiner Verlobten verunglückt der Mann auf der Flucht nach Tanger beim Überqueren der Bahngleise.

1953 gedreht, wurde die französisch-italienische Koproduktion, in der die Chansonniere Juliette Gréco ihre erste große Leinwandrolle spielt, in Frankreich noch im selben Jahr uraufgeführt. Während das Original 106 Minuten lang war, brachte es die von der Synchronfirma Ifu erstellte deutsche Fassung beim Kinostart 1957 mit einer FSK-Freigabe ab 18 Jahren lediglich auf 94 Minuten. Recherchen zur um gut zehn Prozent gekürzten Version blieben in deutschsprachigen Archiven bislang erfolglos. Die Melville-Sammeledition von Arthaus/StudioCanal enthält nur die deutsch untertitelte Originalfassung. Die FSK-Neubewertung von 2017 gibt für diese eine Dauer von 106 Minuten und 9 Sekunden bei 24 Bildern pro Sekunde und 101 Minute 54 Sekunden bei 25 Bildern pro Sekunde (was der DVD-Filmlänge entspricht) an. Und trotz der wiedereingefügten Minuten ist die Jugendfreigabe, die in den 1950er-Jahren noch bei 18 Jahren lag, auf 12 Jahre gesenkt worden.

In der Fachzeitschrift Filmwoche - der neue Film (18. März 1957) notierte Rezensent Dr. H. Müller für „Und keine blieb verschont“ eine Länge von 93 Minuten. Die FSK-Einstufung des vom Verleih Türck-Südwest angebotenen Films lautete: „Nicht jugendfrei, nicht feiertagsfrei“. Bezeichnend in Müllers Besprechung sind diverse zeittypische Formulierungen: „Der junge Automechaniker mit dem muskelstrotzenden Körper weiß, warum er sich als Betätigungsfeld das mondäne Cannes ausgesucht hat: da gibt es immer elegante, nicht mehr ganz junge Frauen (auch solche, die in unglücklicher Ehe leben) ... Natürlich verschmäht der skrupellose Jüngling von der Tankstelle und Amateurboxer auch jüngere Kost nicht … Doch diese mannigfaltige Jagd auf das Freiwild der Liebe geht schief aus.“ Weiter ist von Zynismus, Kolportage, von mittleren Publikumschancen und Mangel an Originalität die Rede.

Das Melodram „Und keine blieb verschont“ wurde stark angefeindet (© StudioCanal)
Das Melodram „Und keine blieb verschont“ wurde stark angefeindet (© StudioCanal)

Ähnlich fällt der Tonfall anderer Rezensentinnen und Rezensenten der damaligen Zeit aus. Das Verzeichnis „La Production Française“ (1953) gibt die Vergewaltigung brisant verharmlosend mit „Max verführt Denise“ wieder und meint: „Das ist das Schicksal.“ Franziska Violet von der Süddeutschen Zeitung urteilt unmissverständlich: „Stoff genug für ein halbes Dutzend Kriminal- und Lasterfilme, dazu ein Zettelkasten mit Spannungs-, Graus- und Animiereffekten.“ Klare Hinweise darauf, dass Melvilles Film auf verbreitete gesellschaftliche Ablehnung stieß und der Verleih dementsprechend wenig zimperlich seine Schnittfassung erstellte.


III. Eva und der Priester

Während der italienisch-deutschen Besatzung Frankreichs flüchtet die überzeugte Atheistin und Kommunistin Barny, nachdem ihr russisch-jüdischer Mann im Krieg gefallen ist, mit ihrer kleinen Tochter France in die Grenzregion um Grenoble. Um ihrer Verachtung für die Kirche Ausdruck zu verleihen, konfrontiert sie im Beichtstuhl den jungen katholischen Priester Léon Morin mit der Aussage, Religion sei „Opium für das Volk“. Jener kontert den Vorwurf mit dem Angebot zu Diskussionen in Glaubensfragen, die bei Barny schließlich zur Konvertierungsabsicht und sexuellen Sehnsüchten führen. Doch Morin bleibt seinem Gelübde ihr und anderen Frauen gegenüber treu. Nach Kriegsende kehrt Barny nach Paris zurück, der Abbé wird in eine kleine Diasporagemeinde versetzt.

In einer Radiosendung äußerte Melville über „Eva und der Priester“: „Es ist vollkommen richtig, dass ich während der Dreharbeiten von ‚Léon Morin, Prêtre‘ wirklich überzeugt war, ich sei ein Katholik, und wie ein wahrer Mystiker glaubte.“ Der Film atmet neben dem historischen Hintergrund der Besatzung, des Widerstands und der Vichy-Zeit unverkennbar die Aufbruchstimmung in der Katholischen Kirche im Vorfeld des II. Vatikanischen Konzils (1962-1965). Die Suche nach Wahrheit, Glaube und Lebensrealität entfaltet ein strenges ästhetisches wie religiöses Fresko – zeitlos, grandios in seinen schauspielerischen und inszenatorischen Leistungen. Eindringlich auch das Porträt einer intellektuell selbstbewussten Frau, die in der Versuchsanordnung einer unmöglichen Liebe als emotionaler Katalysator Verzicht erfahren muss.


Verstümmelter Torso

Die Zuschauer in West-Deutschland konnten all dies bei der Kinopremiere allenfalls erahnen. „Eva und der Priester wurde dort im Juni 1963 als übel verstümmelter Torso – Besatzungszeit und Kollaboration weitgehend ausblendend – mit einer Länge von 91 Minuten vom Verleih Nora in die Kinos gebracht. Dabei kursierten in seinem Entstehungsland bereits unterschiedliche Versionen des Films. Die ursprünglich mit 193 Minuten angegebene Fassung soll vom Regisseur selbst „freiwillig“ auf 128 Minuten gekürzt worden sein; wahrscheinlich, um den Kinoeinsatz im üblichen Zeitrahmen zu gewährleisten. „Man wollte mir die Schnitte untersagen. Ich musste mich vor Carlo Ponti verstecken“, rechtfertigte sich Melville. Nachweisbar ist, dass die Präsentation beim Filmfestival in Venedig 1961 verlässlichen Quellen wie „La Cinématographie Française“ und „Variety“ zufolge 128 beziehungsweise 130 Minuten dauerte. Auch die amerikanische Filmzeitschrift „Films and Filming“ (August 1962) gibt 130 Minuten an.

„Eva und der Priester“ wurde in Deutschland zuerst um ein Viertel gekürzt (© StudioCanal)
„Eva und der Priester“ wurde in Deutschland zuerst um ein Viertel gekürzt (© StudioCanal)

Zwei Jahre nach der Uraufführung mit einer teils verfälschenden Synchronisation in die bundesdeutschen Kinos gekommen, brachen sich Zensur oder politische Rücksichtnahme (Hinweise auf Gestapoaktivitäten, Deportationen, französische Reaktionen) und überempfindliche religiöse Moralauffassungen Bahn. „Eva und der Priester“ entbehrt in der stark gekürzten, entstellenden deutschen Version nahezu jede Aussagekraft. Beispiellos ist die bewusste Demontage von Melvilles feinfühliger Beschreibung der Okkupationszeit in der französischen Provinz zu nennen.

Außer sich wettert Martin Ripkens in einer detaillierten Analyse in der „Filmkritik“ (August 1963): „Möglicherweise ist dies ein großer Film. Ich kann es nicht beurteilen, ich kann es nur ahnen. Von den 130 Minuten, die von der amerikanischen ‚Legion of Decency‘ nach der Pariser Premiere gezählt wurden, sind bei uns 91 Minuten geblieben … Decaes Kamera ist wie ein Gewehr im Anschlag. Sie bewegt sich nur, um den Akteuren zu folgen, die sich viel vor kalten, hellen Wänden bewegen, nur wenige Schritte tun. Alle Räume sind psychologische Landschaften. Morins Zimmer ist ein Ordinationsraum. Das Büro ist ein Verlies der verratenen Frauen.“

Und Franz Everschor notierte 1963 im film-dienst: „Von den zwei Stunden des Originals hat der Verleih ein knappes Viertel herausgeschnitten, die FSK unseres Wissens weitere 180 Meter … Die Kürzungen wurden überdies so stümperhaft vorgenommen, dass auch der ahnungslose Zuschauer über sie stolpern muss.“ Für den Kritiker resultieren daraus Realitätsverlust, fehlende Atmosphäre und Hintergründe der Besatzungszeit, eine mangelhafte Zeichnung der körperlichen und seelischen Verfassung der Frau, die Tragweite des Konflikts zwischen Glaube und Liebe. Volker Schlöndorff, Assistent Melvilles bei „Eva und der Priester“, erinnerte sich auf Nachfrage nicht an die immensen Kürzungen in der deutschen Version, zu denen auch sein eigener Auftritt gehörte.


Ambivalente Atmosphäre

Eliminiert oder deutlich abgeschwächt werden durch die Verstümmelung das Trauma der Okkupation, die Gefühlslage der französischen Nachkriegsgesellschaft. Jean-Pierre Melville adaptierte Béatrix Becks autobiographische, 1952 mit dem „Prix Goncourt“ prämierte literarische Vorlage weitgehend werkgetreu. Die pikante Liebesgeschichte zwischen einem Priester und einer Witwe beflügelte in den 1950er-Jahren sicher die Neugier des Publikums.

Pikante Liebesgeschichte mit ideologischen Grundsatzdialogen (© StudioCanal)
Pikante Liebesgeschichte mit ideologischen Grundsatzdialogen (© StudioCanal)

Statt spekulativer, aufreizender Bilder nutzte der Regisseur knisternde Dialog- und Situationserotik, um einen ironischen, aber verführerischen Geistlichen zu zeigen. Neben theologischen Grundsatzdiskussionen geht es dem Film um zeitlose Verhaltensmuster eines spezifischen gesellschaftlich-sozialen Milieus. Bausteine sind Widersprüche, ambivalente Figuren, der Verzicht auf orthodoxe Moral, die Abwesenheit der Männer (in der Résistance, in den Wäldern) und Barnys sexuelle Enthaltsamkeit einerseits, ihre Sehnsucht andererseits, sichtbar im Kontakt mit dem jungen, attraktiven Landpriester.

Barnys innere Monologe und damit wichtige erzähldramaturgische Funktion lösen geschickt ambivalente Positionen politischer Mythen auf. Sie hören sich oft wie distanzierend-bilanzierende Kommentare des Regisseurs an. Der Film kommt ohne Schwarz-Weiß-Zeichnung, ohne Moralpredigten aus. Da werden keine hehren Résistance-Idole, keine bösartigen Kollaborateure porträtiert. Barny macht in der Diskussion mit der Vichy-Anhängerin Christine, in der es um die (Mit-)Schuld des Widerstands, um das eigene Überleben geht, deutlich: „Als Katholikin hast du kein Recht, die Kollaboration zu befürworten.“ Und die beiden alten Damen, bei denen sich Barnys Tochter in Obhut befand, erklären angesichts des Abzugs der Deutschen: „Wir sind in die Stadt gekommen, um die geschorenen Frauen zu sehen.“


Differenzierte Porträts

Die Präsenz der italienischen Besatzer empfindet Barny trotz Brief-Zensur als „leicht“. Die Menschen auf der Straße lachen, zeigen keine Furcht vor den Soldaten. Mit Ankunft der Deutschen – sichtbar im markanten Fanfareneinzug, durch Judenstern-Symbole, deutsche Wegweiser, nächtliche Schüsse bei verdunkelten Fenstern – ändert sich die Situation signifikant. Nachdem die Deutschen die Italiener vertrieben haben, beginnen die Deportationen, gespiegelt in einer Fensterscheibe. Später ist im Schaufenster zu lesen: „Schuhe gibt es erst wieder, wenn die Stadt befreit ist.“

Melville vermeidet Klischees. Der deutsche Soldat Günther wird während Manöverübungen differenziert gezeichnet. Barnys Tochter singt dem traurigen Militär ein Lied vor, weil er an die russische Front verlegt wird. Und wie problematisch die „Befreiung“ Frankreichs im Alltag verlaufen konnte, schildert der Film anhand zweier amerikanischer Soldaten, die Barny und ihre Tochter nach Hause begleiten. Einer will den Rucksack erst zurückgeben, wenn er mit der Mutter in die Wohnung gehen durfte. Verstört fragt das Kind: „Sind das die neuen Deutschen?“

Besonders die Nazi-Besatzung wurde aus der deutschen Fassung herausgeschnitten (© StudioCanal)
Besonders die Nazi-Besatzung wurde aus der deutschen Fassung herausgeschnitten (© StudioCanal)

Die (weiblichen) Angestellten im ausgelagerten Korrespondenzbüro verhalten sich mehrheitlich eher indifferent während der Vichy-Zeit. Nur die antijüdisch eingestellte Katholikin Christine sympathisiert offen mit der Kollaboration, hängt ein Pétain-Bild auf, obwohl der Chef sichtlich verärgert darüber ist. Zurückhaltender agiert die von Barny angehimmelte, unnahbare Sekretärin Sabine, deren Bruder von der Gestapo verhaftet und nach Deutschland gebracht wird. Barny als bekennende Atheistin lässt mit anderen Gleichgesinnten ihre Tochter katholisch taufen, um so einer potenziellen Verhaftung zu entgehen.


Wiedergutmachung durch Director’s Cut

Der Director’s Cut von „Eva und der Priester“, der in Deutschland erstmals in der Melville-Sammeledition veröffentlicht wurde, leistet Wiedergutmachung für die vorenthaltene Originalfassung. Zahlreiche Details im Dialog oder im Umgang der einheimischen, fast ausschließlich weiblichen Bevölkerung miteinander bereichern die Literaturadaption ungemein. Durch zwei längere Passagen unterscheidet er sich auch entscheidend von der knapp zweistündigen französischen Kinoversion.

Die erste und längste Ergänzung setzt in der 38. Minute ein und dauert insgesamt 8 Minuten und 5 Sekunden. Die Sequenz startet im Korrespondenzbüro mit dem Eintreffen zweier deutscher Soldaten, die den anwesenden Frauen gegenüber (auf Deutsch) äußern: „Wir sollten hier vielleicht unsere Kommandantur einrichten.“ Sabine, Barnys Freundin, zeigt sichtlich Angst für ihre Beziehung. „Sie zu lieben, hätte bedeutet, Tod und Folter zu erleiden“, gesteht sich die Titelheldin ein. Als Barny nach Ankündigung der Ausgangssperre nach Hause geht, ist auf einem Plakat zu lesen: „Mit deinen europäischen Kameraden – unter dem Zeichen (SS) – siegst du.“

Im Büro erzählt Barny: „Wie immer, nach diesen heimlichen Beerdigungen, sagten sie mir heute Morgen, dass die Deutschen Gefangene erschossen haben. 15 für einen Offizier, 10 für einen Soldaten.“ Ihre aufreizend-provozierende Kollegin Christine erwidert: „Ich freue mich über die Exekutionen. Die sind alle Kommunisten und Juden. Was für eine Erleichterung.“ Auf der Flucht vor der Gestapo kommt eine Familie mit der Bitte zu Barny, bei ihr schlafen zu können. Als Illegale mit einem Visum für Ausländer fürchten sie die Deportation, Barny besorgt den untergeschlüpften Gästen auch Verpflegungskarten. Sie diskutieren über die Kriegssituation, den Wert des Glaubens trotz ihrer kommunistischen Überzeugung.

Auch zwischen der Kommunistin (Emmanuelle Riva) und der christlichen Nazi-Sympathisantin (Irène Tunc) gibt es Konflikt (© StudioCanal)
Einen Konflikt gibt es auch zwischen der Kommunistin (Emmanuelle Riva) und der christlichen Nazi-Sympathisantin (Irène Tunc) (© StudioCanal)

Prompt wirft Christine Barny Hilfe für Illegale vor. Barny fragt ihre Freundin Lucienne nach deren Mann im Untergrund und weshalb sie das Risiko scheut, die Flüchtlinge aufzunehmen. Lucienne sagt: „Sie sollen zurück nach Hause. Sie würden sofort verhaftet. Was geht mich das an? Sie hätten in Russland oder Polen bleiben sollen.“ Barny droht: „Ich schwöre bei meinem toten Mann und beim Leben meiner Tochter, wenn du sie nicht aufnimmst, lasse ich dich vom Tribunal, dem ich angehöre, exekutieren.“

Die zweite zusätzliche Passage im Director’s Cut beginnt in der 88. Minute und dauert insgesamt 2 Minuten und 51 Sekunden. Hier werden Widerstand und Kollaboration an einem exemplarischen Beispiel anschaulich gemacht.

Barny trifft die Kollegin Gilberte zur sonntäglichen Fahrradfahrt und erzählt Freundin Lucienne: „Ich habe Gilberte wieder getroffen.“ Jene wird unmissverständlich: „Sie verkehrt immer mit den Deutschen. Wir haben Beweise, dass sie ihnen Informationen gibt. Beim nächsten Treffen wird sie exekutiert.“ Abbé Morin spricht mit Barny über ihre moralische Verpflichtung, Gilberte zu warnen, dabei jedoch sich und ihre Tochter in Gefahr zu bringen. Er wirkt in seinem Verhältnis zum Widerstand durchaus fragwürdig, auch intransparent. Barny sei keine Komplizin, könne die Konsequenzen ihres Handelns nicht ermessen, müsse diese Rolle im Drama spielen. Als Barny am nächsten Sonntag am Haus von Gilberte vorbeikommt, liest sie ein Schild, auf dem mit weißer Kreide geschrieben steht: „Hier wurde eine Verräterin exekutiert, die sich an die Deutschen verkauft hat.“ Links und rechts auf dem Schild sind zwei (seitenverkehrt gezeichnete) Hakenkreuze zu sehen. Eine Frau mit Kinderwagen kann oder will Barnys Frage nach dem Geschehen nicht beantworten.


Fazit

Die Frage nach dem Original (ob Festival- oder Uraufführung) und den unterschiedlichen, gekürzten Filmfassungen lässt sich im Fall von Jean-Pierre Melville nicht eindeutig beantworten – weder für das Herstellungsland noch für die jeweilige deutsche Kinoversion. In der gesamten Filmgeschichte finden sich mehr oder weniger bedeutsame Praktiken des Eingriffs, der Zensur – aus kommerziellen, künstlerischen, politischen oder moralischen Beweggründen. Und von vergleichbaren Vorkommnissen wimmelt es in der Literatur-, Kunst- oder Musikgeschichte. Notwendig ist ein neues Plädoyer für eine kinematographische, archäologische Spurensuche, eine von der Tagesaktualität befreite Erinnerungskultur. Weil es den richtigen oder falschen Schein des Originals, nicht zuletzt in der woken Cancel Culture, zugunsten eines fragwürdigen moralischen Anscheins gegen jede missbräuchliche Geschichtsumdeutung verteidigen muss.


Dank an die Bibliothek des Deutschen Filmmuseums & Filminstituts (DFF) in Frankfurt für ihre Unterstützung der Recherchen.

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