© Universal (Ray Winstone im Würgegriff von Ben Kingsley in „Sexy Beast“)

Disziplin & Kontrolle (IX): „Sexy Beast“

SKS-Blog „Disziplin & Kontrolle“ (IX): In „Sexy Beast“ folgt die Handlung über einen Safeknacker, der zu einem letzten Coup gezwungen werden soll, nicht der Logik der Disziplinargesellschaft

Veröffentlicht am
18. Oktober 2024
Diskussion

In Heist Movies sind Raubzüge und Überfälle oft der Inbegriff von Disziplin, da diese ohne akribische Planung kaum durchführbar wären. Anders verhält es sich in „Sexy Beast“ (2000) von Jonathan Glazer, in dem ein Safeknacker im Ruhestand von einem psychopathischen Kollegen zu einem letzten Coup gezwungen werden soll. Der neunte Beitrag zum Blog „Disziplin & Kontrolle“ behandelt einen Film, der nicht der Logik der Disziplinargesellschaft folgt, sondern von Räubern zwischen Affekten und Getriebenheit erzählt.


Der Einsatz des disziplinarischen Heist Movies ist die Erzählung eines komplexen Verbrechens auf filmisch nachvollziehbare Weise, also die Verknüpfung filmischer Zeichen zu einem Kausalsystem äußerlich aufeinander einwirkender Mechanismen. Versteht das Publikum nicht, was auf dem Spiel steht, scheitert der Film.

Wenn Doc Riedenschneider (Sam Jaffe) und Louis Ciavelli (Anthony Caruso) in „Asphaltdschungel“ (1950) sich auf dem Rücken unter der unsichtbaren Schranke des elektrischen Alarmsystems hindurchschieben, um zu den Juwelen im Tresor zu gelangen, so wird die Bewegung des Sich-Hinlegens verknüpft mit dem schrillen Ton einer Alarmglocke beziehungsweise seines Ausbleibens. Oder wenn in Jules Dassins „Rififi“ (1955) von dem auf der Straße patrouillierenden Polizisten zum am Fenster eines dunklen Apartments stehenden Einbrecher geschnitten wird, der still darauf wartet, mit seinen Komplizen ein Loch durch das Parkett der im ersten Stock liegenden Wohnung zu bohren, um von oben in das Juweliergeschäft einzudringen. Wenn die Bande später ein Taschentuch über das Loch legt, das dann sachte vom aus der unteren Etage strömenden Luftzug angehoben wird. Wenn sie schließlich einen Regenschirm an einem Seil durch das Loch im Parkett schieben, den Schirm unter der Decke des Juweliers öffnen, sodass der durch ihre Bohrarbeiten sich lösende Schutt keinen Laut beim Aufschlagen erzeugt. In all diesen Momenten verknüpft Dassin elegant verschiedene audiovisuelle Zeichen miteinander, um durch das Wissen der möglichen Konsequenzen dieser kausal aufeinander einwirkenden Mechanismen im Publikum Spannung zu erzeugen.

„Sexy Beast“ zeigt einen Safeknacker im Ruhestand, der keine Lust auf neue Coups verspürt (© Universal)
„Sexy Beast“ zeigt einen Safeknacker im Ruhestand, der keine Lust auf neue Coups verspürt (© Universal)

Noch Brian De Palma bedient sich dieser Strategie des disziplinarischen Heistfilms, wenn Tom Cruise in „Mission Impossible“ (1996) an einem Draht von der Decke des Tresorraums abgeseilt wird, um sensible Informationen auf ein Speichermedium zu ziehen. Dabei darf nicht mal ein Schweißtropfen den Boden des Raumes treffen, die Raumtemperatur nicht vom sich durch die Arbeit aufheizenden Körper um mehr als einen Grad Fahrenheit angehoben werden und der im Tresor angebrachte Dezibelmesser nur eine bestimmte Quantität an Lautstärke messen. Alles, während wieder und wieder umgeschnitten wird auf einen CIA-Agenten, der kurz davor ist, den Innenraum des Tresors zu betreten.


Gruppenzwang

Die Funktionsweise von Jonathan Glazers „Sexy Beast“ (2000) hingegen unterscheidet sich grundsätzlich von jenen filmischen Operationen, die der Logik der Disziplinargesellschaft entstammen. Glazers Film handelt von Gal (Ray Winstone), einem Safeknacker im Ruhestand, der nichts weiter tut, als in der spanischen Sonne zu baden, auf Hasen in der Berglandschaft zu schießen und Tintenfisch zu essen. Wie so oft jedoch zieht ein Riss sich durch die Glückseligkeit des Ex-Gangstertums. In Form des „einen letzten Jobs“ zerbirst dieser Riss Gals porzellanene Zeit der ineinanderfließenden Urlaubsstunden, zu wabernd für das Korsett eines Wochentags. Die Nachbeben seines Berufs werden personifiziert in der Figur Don Logan (Ben Kingsley), der nach Spanien fliegt, um Gal zu rekrutieren.

In der Nacht, in der Gal von der baldigen Ankunft Dons erfährt, träumt er von einem Wesen – halb Mann, halb Hase –, das eine Maschinenpistole auf ihn, der doch nur seinen Tintenfisch essen will, richtet. Denn im Gegensatz zu den disziplinarischen Überfallsszenarien entscheidet Gal sich nicht freiwillig, dieses eine letzte Mal Teil eines kollektiven Zugriffs auf fremden Besitz zu werden – sei es nun aus Gier, Stolz oder Not. Gal schlägt Dons Forderung respektvoll aus, aber Don drangsaliert Gal, schikaniert und tyrannisiert ihn, zieht ihm schließlich eine Flasche über den Schädel, sodass Deedee (Amanda Redman), Gals Partnerin, Don im Affekt schließlich eine Ladung Schrot in den Bauch schießt.

Um Dons Tod gegenüber Teddy (Ian McShane), Mr. Blackmagic himself, dem Drahtzieher des Bruchs, zu vertuschen, reist Gal also doch nach London, um beim Raub auf den Tresor des Imperial Emblatts mitzuwirken. Dabei hätte Gal jederzeit aus seiner Villa in Spanien flüchten können. Über die Kontrollgesellschaft schreibt Deleuze: „Der Mensch ist nicht mehr der eingeschlossene, sondern der verschuldete Mensch.“ Es ist eben diese Schuld gegenüber seinen früheren Arbeitgebern – eine andersartige Schuld als jene, die Gal neun Jahre lang in einem englischen Gefängnis dem Staat gegenüber abgegolten hat – die ihn in der Unterwelt fixiert, ihm seine Handlungsautonomie nimmt.

Mit dem Auftreten von Don Logan (Ben Kingsley) stellt sich die Frage nach dem „Ob“ nicht mehr (© Universal)
Don Logan (Ben Kingsley) akzeptiert kein „Nein“ von Gal (Ray Winstone) (© Universal)


Affekttunnel

Der Tresorraum des Imperial Emblatts grenzt an ein Dampfbad. Eine Gruppe Arbeiter mit Sauerstoffmasken und Drucklufthammern – unter ihnen Gal – bohrt vom Schwimmbecken aus unter Wasser einen Tunnel in den anliegenden Tresor und flutet diesen so gleichzeitig, um das Sicherheitssystem der Bank außer Kraft zu setzen. Dabei sticht ins Auge, dass der Raubüberfall nicht etwa von einer quasi familiären Bande diverser Spezialist:innen durchgeführt wird. Da ist bloß Teddy, der rauchende Gangsterboss, welcher vom Schwimmbeckenrand seine Befehlsempfänger zur Eile antreibt, und da sind die Männer in Badehose, deren einzige Qualifikationen Muskelkraft und Verschwiegenheit zu sein scheinen. In den Worten Dons: „As far as the job, it’s a piece of piss. A monkey could do it. That’s what I thought of you.“

Im durchfluteten Tunnel ist Gal ein Getriebener, von Affekten Elektrisierter, einer, der die Orientierung verloren hat, über den die eigene Vergangenheit hereinbricht, dem Erinnerungsfetzen an Don in seiner Blutlache das Bewusstsein zersieben. Gals Fausthiebe auf den fluchenden Don binden sich chemisch an die Stöße des Drucklufthammers. Die Mauer des Tresors bricht zeitgleich zur Erinnerung an den Bruch von Dons Schädeldecke. Nicht zu denken an die von den Genreklassikern beschworene Würde der Arbeit und die damit einhergehende Spontaneität des Subjekts. Das Ausbeutungsverhältnis, in das Gal gezwungen wurde, die nackte Gewalt, präsentiert sich ungeniert. „In den Disziplinargesellschaften hörte man nie auf anzufangen (von der Schule in die Kaserne, von der Kaserne in die Fabrik)“, schreibt Deleuze, „während man in den Kontrollgesellschaften nie mit irgendwas fertig wird.“ So ist es folgerichtig, dass Teddy, als er Gal zurück zum Flughafen fährt, ankündigt, dass auch er ihn vielleicht irgendwann einmal besuchen wird in Spanien ...

Die Planungsebene in „Sexy Beast“ (Ian McShane und James Fox) (© Universal)
Die Planungsebene in „Sexy Beast“ (Ian McShane und James Fox) (© Universal)


Literaturhinweis

Postskriptum über die Kontrollgesellschaften. Von Gilles Deleuze. In: Neue Rundschau, 3/1990.


Zum Siegfried-Kracauer-Stipendium

Das Blog „Disziplin & Kontrolle“ von Leo Geisler über die Wandlungen im Heist-Genre entsteht im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Stipendiums, das der Verband der deutschen Filmkritik zusammen mit MFG Filmförderung Baden-Württemberg, der Film- und Medienstiftung NRW und der Mitteldeutschen Medienförderung (MDM) jährlich vergibt.

Die einzelnen Beiträge des aktuellen Stipendiums, aber auch viele andere Texte, die im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Stipendiums in früheren Jahren entstanden sind, finden sich hier.

Kommentar verfassen

Kommentieren