Javier Espada ist ein Experte für seinen Landsmann Luis Buñuel und hat ein Forschungszentrum und ein Museum in dessen Geburtsort Calanda gegründet. In seinem neuen Dokumentarfilm „Buñuel - Filmemacher des Surrealismus“ (Kinostart am 10. Oktober) breitet Espada seine Faszination für den Regisseur auch als Film aus und führt eine neue Generation an dessen Werk und Philosophie heran. Ein Gespräch über Buñuels Sozialkritik, seinen Humor und den subversiven Umgang mit religiösen Motiven.
Der Film trägt den Titel „Buñuel – Filmemacher des Surrealismus“. Welche Bedeutung hatte der Surrealismus für Luis Buñuel?
Javier Espada: Für Buñuel war der Film in erster Linie eine Befreiungsbewegung, die den Rahmen der Kunst und der Gesellschaft sprengte. In seinem ersten Film „Ein andalusischer Hund“ (1929) zeigt er das ganz deutlich, wenn das Rasiermesser durch das Auge schneidet.
Der Surrealismus hat bei Buñuel auch viel mit religiösen Motiven zu tun. Wie stark hat ihn der Katholizismus geprägt?
Espada: Sehr stark! Er selbst schreibt in seinen Erinnerungen, dass sich die Stadt Calanda zum Zeitpunkt seiner Geburt immer noch in einer Art Mittelalter befunden habe. Seine Kindheit war von archaischen religiösen Ritualen geprägt: die Trommeln zur Karwoche und die allgegenwärtigen Kirchenglocken, die von der Taufe bis zur Beerdigung Leben und Tod begleiteten. Oder wenn Verstorbene auf dem Platz ausgestellt wurden und der Priester Asche auf der Brust des Leichnams verrieb. Auch die Prozessionen der asketischen Karmeliter-Mönche, bei der sie ein Banner mit einem Sensen-schwingenden Skelett vor sich hertrugen. Der Tod war immer gegenwärtig, und Tod und Religion lagen nah beieinander. Der Gegenpol war für Buñuel die Sexualität. Die Spannung zwischen Tod und Erotik hat sein Werk sehr geprägt.
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„Viridiana“ (1961) ist dafür ein interessantes Beispiel. Für Tod und Sexualität, aber auch für den Gegensatz von Moderne und Tradition. Sie zeigen in Ihrem Film in einer Parallelmontage die Bauarbeiter, die das Haus renovieren, und Viridiana, die mit den Armen den Angelus singt.
Espada: Der Angelus ist sehr eng mit Buñuels Kindheit verbunden. Er wird heute noch in vielen Städten um 12 Uhr mittags gesungen. Etwa in Zaragoza, der Stadt, in der ich lebe. Dort werden Gesang und Musik aus der Kathedrale mit Lautsprechern übertragen. Das ist eine Tradition, die Buñuel sehr beeindruckt hat. In der Schule wurde der Unterricht unterbrochen, Kinder und Lehrer knieten sich auf den Boden. In „Viridiana“ zeigt Buñuel das über eine Parallelmontage, ganz im Geist von Eisenstein. Aber er geht nicht mit bitterem Ernst oder aggressiv gegen die Religion vor, sondern er hat dabei immer auch ein Gespür für Humor.
Wenn es bei Buñuel wirklich um harte Sozialkritik geht, wie etwa in „Las Hurdes - Erde ohne Brot“ (1933) oder in „Die Vergessenen“ (1950), spielt die Kirche keine Rolle mehr.
Espada: In vielen seiner Filme spürt man eine starke Faszination, fast eine Hassliebe zur religiösen Ikonografie und zur Bilderwelt der katholischen Kirche. Buñuel war sehr interessiert am religiösen Spektakel: die Gewänder und die goldenen Gegenstände sind Elemente einer großartigen Inszenierung, die sehr prunkvoll ist und auch sehr filmisch. Dabei faszinierte ihn die Ambivalenz des Religiösen: auf der einen Seite das prunkvolle Ritual, die goldene Schale, der Kelch und die Hostie. Doch dieser Prunk steht im Gegensatz zu der Armut, die die katholische Kirche predigt.
Mich fasziniert immer wieder, wie er diese Gegensätze im Schnitt zusammenfügte.
Espada: Buñuel filmte scheinbar naturalistisch, ohne große Komplikationen. Aber immer wieder gibt es kurze Einstellungen: eine Hand, vielleicht ein Kruzifix und wenn das Kruzifix unten in einem Messer endet, wie in „Viridiana“ – umso interessanter! Die Montage macht er mit allen diesen Inserts; er lässt die Großaufnahmen so in die Filmerzählung einfließen, dass sie wirklich das Unterbewusste oder Unbewusste des Zuschauers erreichen.
„Viridiana“ wurde 1961 in Cannes mit der „Goldenen Palme“ ausgezeichnet. Nach einer scharfen Kritik des „L’Osservatore Romano“, der Tageszeitung des Vatikans, eskalierten die Ereignisse. Woher kamen der Hass und die heftigen Reaktionen, die „Viridiana“ provozierte, einer der ganz wenigen Filme, die Buñuel in Spanien gedreht hat?
Espada: Der Film war ein überraschender Schlag gegen die Basis der Diktatur, gegen den Nationalkatholizismus. Das Regime legitimierte sich über die katholische Kirche, und die unterstützte die Diktatur mit all ihren Verbrechen. Auf den spanischen Münzen standen neben dem Kopf von Franco die Worte: „Führer durch Gottes Gnade“.
Wie konnte der Film überhaupt in Spanien gedreht werden?
Espada: Es gab in Spanien erstaunlicherweise eine linke Produktionsfirma, die UNINCI. Sicher hat sie auch deshalb überlebt, weil der Bruder eines der Produzenten Torero war und der Stierkampf in der folkloristischen Kultur der Franco-Diktatur ganz oben stand. Sie wollten mit Buñuel, der in Mexiko lebte, einen Film machen. Buñuel schickte ihnen ein relativ neutrales Drehbuch. Darin ging es um eine Novizin. Das störte die Zensur nicht, aber sie bemängelten das Ende. Darin klopft Viridiana an die Tür ihres Cousins, und die beiden bleiben alleine im Zimmer zurück. Für die Zensur ging das nicht; zumindest das Dienstmädchen müsse bei den beiden bleiben. (lacht) Buñuel fand das ganz toll, da hatte er eine Ménage-à-trois. Er ließ die drei miteinander Karten spielen, auf dem Plattenspieler läuft Rockmusik, und der Vetter sagt süffisant: „Ich wusste, dass meine Cousine am Ende mit mir Karten spielen wird.“ Der ganze Film war eine Zeitbombe. Buñuel beendete die Postproduktion aber nicht in Spanien. Vor der finalen Tonmischung schaffte er das Material heimlich nach Paris. Um an der Grenze keine Schwierigkeiten zu bekommen, packten sie die Filmrollen ins Auto der Stierkämpfer. An der Grenze stand die Guardia Civil und winkte ihnen zum Abschied zu: „Viel Glück, Toreros, viel Glück!“
Und Cannes?
Espada: Das Festival war schon fast zu Ende und die Jury hatte sich schon auf die Preisträger geeinigt. Aber dann sehen sie „Viridiana“ und waren so beeindruckt, dass sie dem Film die „Goldene Palme“ gaben, ex aequo mit ihrem ursprünglichen Favoriten „Noch nach Jahr und Tag“ von Henri Colpi. Der Korrespondent des „Osservatore Romano“ beklagte sich in einer bitteren Kritik, dass das katholische Spanien einen solch blasphemischen Film im Wettbewerb von Cannes zeige. Luis Buñuel war selbst gar nicht anwesend. Deshalb nahm José Muñoz Fontán, der Generaldirektor für Film der spanischen Regierung, den Preis entgegen. Als er mit der „Goldene Palme“ in der Hand an der spanischen Grenze ankam, hatten sie ihn schon aller Ämter enthoben. Die spanischen Behörden machten etwas Unglaubliches: Sie entzogen „Viridiana“ die Drehgenehmigung. Damit existierte der preisgekrönte Film offiziell also gar nicht mehr. Sie versuchten auch die Kopien zu zerstören, doch die Hauptdarstellerin Silvia Pinal und ihr Mann, der mexikanische Co-Produzent Gustavo Alatriste, nahmen die Kopie mit nach Mexiko. Damit war der Film gerettet.
Buñuel hat in Spanien kaum arbeiten können. Die meisten seiner Filme entstanden in Mexiko und in Frankreich. Zwei sehr unterschiedliche, aber ebenfalls katholisch geprägte Länder. Wie verschieden sind die Filme Buñuels aus seiner mexikanischen und seiner französischen Zeit?
Espada: Sehr unterschiedlich. In Mexiko gab es extreme Spannungen und bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen, da die Revolution zum laizistischen Staat führte und die Privilegien der Kirche sehr eingeschränkt wurden. Die Klöster, die in strenger Klausur lebten, wurden aufgehoben. Es war Priestern und anderen Kirchenmitarbeitern verboten, außerhalb des Dienstes geistliche Kleidung zu tragen. Der ganze Prunk musste hinter den Kirchenmauern bleiben. Die Bischöfe durften nicht als Bischöfe gekleidet auf die Straße gehen; das gefiel ihnen natürlich nicht. Buñuel war sehr inspiriert von Schriftstellern wie Benito Pérez Galdós, einem Vertreter eines sozialen Realismus, mit sehr klaren, sehr fortschrittlichen Ideen. In vielen seiner Filme in Mexiko ist die Religion sehr präsent, teils dramatisch, aber auch mit viel Humor. In „Nazarin“ (1959), in „Simon in der Wüste“ (1965) oder „Der Würgeengel“ (1962) und natürlich in „Er“ (1952), wenn der Protagonist in seiner Wahnvorstellung versucht, den Priester am Altar zu erwürgen. Aber auch in Frankreich, in seiner reiferen, fortgeschritteneren Phase, kehrt die Religion wieder in sein Werk zurück. „Die Milchstraße“ (1969) spielt mit den Motiven des Jakobswegs und der Häresie. Das hat Buñuel begeistert: Wie etwas, das als sicher gilt, mit einer anderen Auffassung, die genau so richtig wie unrichtig sein kann, als falsch und ketzerisch verteufelt wird. Seine ganze französische Phase ist eine Rückkehr zu seinen Ursprüngen, zu seinem Realismus à la Buñuel. Er hatte einen Produzenten, der ihm künstlerische Freiheit ließ, und so spielen seine großen Themen Religion und Erotik wieder eine große Rolle.
Sie haben sich jahrzehntelang mit Luis Buñuel und seinem Werk beschäftigt. Was beeindruckt Sie am meisten?
Espada: Seine Lebensphilosophie. Er hat zum Beispiel gesagt: „Meine Zweifel und meine Irrtümer prägen mich genauso wie meine Gewissheiten.“ Klar, wir leben alle mit der Summe unserer Ungewissheiten und wir denken, dass wir nur sicher sind, wenn wir Gewissheit haben. Aber die Zweifel sind auch Teil von uns. Denn wenn man sich einer Sache ganz sicher ist, kann man sie ja in einen Briefumschlag stecken und absenden. Die Zweifel dagegen halten einen lebendig. Buñuel führt vor Augen, dass es besser ist, misstrauisch und nicht zu leichtgläubig zu sein. Dass man auch im Licht den Schatten suchen und die Dinge mit einem gewissen Humor betrachten soll. Buñuel hat viele Filmemacher inspiriert, aber man kann ihn nicht kopieren. Er hat so viel von sich selbst, von seinen Zweifeln und Gewissheiten, in seine Filme hineingelegt, dass man ihn nicht imitieren kann. Mit „Die Vergessenen“ ist er weit über den italienischen Neorealismus hinausgegangen und hat ein Kino der sozialen Anklage geschaffen, das sich nicht mit der reinen Unterhaltung begnügt oder mit einem Kuss der Hauptfiguren endet, sondern zum Denken und Zweifeln anstiftet. Er selbst hat das einmal so ausgedrückt: „Ich würde mit meinen Filmen gerne dazu beitragen, dass der Zuschauer spürt, dass er nicht in der besten aller möglichen Welten lebt. Die Welt könnte viel besser sein. Das liegt auch in unserer Verantwortung!“