In der arte-Mediathek ist gerade der Dokumentarfilm „Route One/USA“ von Robert Kramer zu sehen, der auch 35 Jahre nach seiner Entstehung noch immer viel über die USA zu erzählen hat. Ein vierstündiger Film, der nur mit Hilfe von drei Fernsehsendern, der Rai, Channel 4 und La Sept, entstehen konnte.
Der vierstündige Dokumentarfilm „Route One/USA“ (1989) wurde als Projekt für die große Leinwand entworfen. Der Filmemacher Robert Kramer drehte ihn auf Super-16mm-Material. Als der Film dann in einer 35mm-Kopie ein ganzes Jahr lang in einem Pariser Kino lief, erfüllte sich ein Traum. Finanziert wurde „Route One/USA“ allerdings von drei Fernsehanstalten. Neben der italienischen Rai und Channel 4 aus Großbritannien war dies vor allem der französische Sender La Sept.
Der Kultursender wurde 1986 als eine Art politisches
Kompensationsgeschäft vom französischen Staatspräsidenten François Mitterand initiiert.
Zuvor hatte Mitterand den öffentlich-rechtlicher Sender TF1 privatisiert und außerdem
zugelassen, dass Berlusconi auf dem französischen Fernsehmarkt einen Sender
betreiben durfte. Im Gegenzug sollte La Sept mit hohem Anspruch die Künste im
Fernsehen präsentieren, zu denen in Frankreich selbstverständlich auch der Film
zählt.Thierry Garrel war der für Dokumentarfilm zuständige Redakteur, der
unter dem Stichwort „Grand Format“ vor allem große und teure Produktionen
unterstützte, zu denen auch „Route One/USA“ gehörte.
Alles auf Anfang: „Route One/USA“
Als der Film 1989 fertiggestellt war, steckte La Sept schon in der Krise, obwohl der Sender noch nicht einmal mit dem Betrieb begonnen hatte. Es hatte sich nämlich herausgestellt, dass das geplante Vollprogramm viel zu teuer würde. Mitterand suchte deshalb nach einem finanzkräftigen Partner, den er dann in den öffentlich-rechtlichen Sendern in Deutschland fand. So kam es nach langen medienpolitischen Debatten 1990 zur Gründung des deutsch-französischen Senders arte, dessen französischer Teil von La Sept gebildet wurde.
Als arte im Juli 2024 die restaurierte Fassung des Films von Robert Kramer in zwei Teilen ausstrahlte und ihn dann in seine Mediathek stellte, kehrte der Sender für einen Moment zu seiner Anfangsgeschichte zurück, ohne das anzumerken oder vielleicht sogar selbst zu merken.
Beim Wiedersehen von „Route One/USA“ hält der Film dem kritischen Blick auch nach vielen Jahren stand. In der Gegenwart erweist er sich in vielen Dingen sogar als beispielhaft. So geht das Konzept einer Reise auch heute noch auf, bei der das Filmteam 1988 die USA entlang des Highway 1 von der kanadischen Grenze bis nach Florida durchquerte. An den Orten, an denen sich das Team längere Zeit aufhielt, wechseln sich Gesuchtes, etwa Museen und gesellschaftliche Einrichtungen, und Zufälliges ab, wozu Begegnungen und Gespräche zu rechnen sind, die sich unterwegs ergaben.
Der Film hält so beispielsweise fest, wie sich religiös gebende rechte Gruppierungen schon Ende der 1980er-Jahre massiv gegen liberale Ideen hetzten, etwa eine freie Kindererziehung oder gegen das Recht auf Abtreibung. Er führt vor Augen, wie sich Städte in arme und reiche Viertel spalten, wie Armut Verzweiflung generiert und in die Abhängigkeit von sozialer Hilfe führt. Er berichtet vom alltäglichen Rassismus, unter dem sowohl die afroamerikanische Bevölkerung auch die Nachfahren der Ureinwohner zu leiden haben. Und er konstatiert veränderte Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft wie in der Industrie, in Krankenhäusern oder bei der Feuerwehr, die schon damals Jahr für Jahr gegen gewaltige Waldbrände ausrücken musste.
Im Wechsel der Jahreszeiten
Diese Themen des Jahres 1988 stehen gleichberechtigt neben historischen Exkursen, etwa zum US-amerikanischen Bürgerkrieg oder zum Vietnamkrieg, literarischen Zitaten von Thoreaus „Walden“ bis zu einem Kinderbuch und Szenen, in denen religiöse Praktiken erörtert werden. All das wird in beobachteten Szenen und in Gesprächen erfasst.
Zugleich zeigt die von Kramer selbst geführte Kamera immer wieder die unterschiedlichen Landschaften im Wechsel der Jahreszeiten. Die Zeit, die sich der Film lässt, verleiht diesen Landschaftsbildern eine gewisse Autonomie. So verschafft sich „Route One/USA“ Ruhepausen, in denen man über das zuvor Gehörte und Gesehene nachdenken kann, ohne die Natur- und Stadtpanoramen zu ignorieren, die Kramer mit besonderen Blickwinkeln fotografiert, ohne auf Effekte oder Pointen zu setzen.
Nebenbei protokolliert der Film auch die unterschiedlichsten Möglichkeiten, wie man sich durch die USA bewegen kann. Zu sehen sind endlose Güterzüge, die das Land durchqueren, Autokolonnen, die sich durch die Städte quälen, Flugzeuge, in denen ein Politiker wie Jesse Jackson sich wie in einem permanenten Wahlkampf zu verhalten scheint, ein Hubschrauber, in dem der reichste Mann einer Stadt seinen Besitz vorführt, Schiffe, die New York ansteuern oder langsam durch die Kanäle in Miami manövriert werden. Dazu kommen die technischen Hilfsmittel, die diesen Verkehr erst ermöglichen: der Leuchtturm vor New York oder eine Hebebrücke in Florida. Aber auch die Tierwelt hat ihren Platz, egal ob es sich um Schweine auf einer Farm handelt oder um Giftschlangen, Krokodile oder Schildkröten.
Entdeckungen an den Rändern des Fernsehens
Ebenfalls zu sehen ist, wie Politiker reden, wie Prediger predigen oder Journalisten recherchieren. Dabei ist oft nicht das, was sie in die Kamera sagen, wichtig, sondern vielmehr, wie sie es tun. Man spürt, dass viele von ihnen darauf trainiert sind, sich gegenüber einer Kamera zu verhalten. „Route One/USA“ weist indirekt darauf hin, wenn er immer mal wieder Fernsehteams erfasst, die noch die geringsten Anlässe aufnehmen, um in den regionalen Fernsehsendern als Nachrichten präsentieren zu sein.
Es sind gerade diese Entdeckungen an den Rändern der klassischen Fernsehbilder, die „Route One/USA“ zu einem besonderen Film machen. Zugleich aber irritiert der Film, weil er nicht nur inszenierte Passagen enthält, sondern über eine fiktive, von einem Schauspieler gespielte Figur verfügt. Paul McIsaac spielt einen Arzt, der wie sein Freund Robert Kramer nach vielen Jahren in die USA zurückkehrt und mit Kramer zusammen eine Reise entlang der Route One unternimmt, um zu entscheiden, ob er wieder in den USA leben möchte und wie er dort beruflich neu tätig werden könnte.
Der Film ist so durch eine doppelte Perspektive geprägt: die
des Arztes, der auf die Menschen zugeht, sie in Gespräche verwickelt und sie
befragt, und die des Regisseurs, der selbst die Kamera führt und auch die
Gespräche in besonderen Bildern festhält. Kramer kehrte für diesen Film
tatsächlich in die USA zurück. Er hatte sie Ende der 1970er-Jahre verlassen, nachdem
er als linker Filmaktivist keine Arbeitsmöglichkeiten mehr fand. Sein
spektakulärer Spielfilm „Ice“ (1970),
der vom linksradikalen Widerstand gegen eine zur Diktatur mutierten
US-Gesellschaft erzählt, fand eher in Europa Anerkennung. Es wäre spannend,
diesen Film, der weder auf DVD noch im Internet zugänglich ist, unter der
Perspektive eines möglichen Wahlsiegs von Donald Trump wiederzusehen.
Kramer zog nach Frankreich, wo er an der Seine zwischen Rouen und Le Havre eine neue Heimat fand und dort auch nach kurzer schwerer Krankheit am 10. November 1999 im Alter von 60 Jahren starb. Näheres zu seiner Biografie, aber auch zu „Route One/USA“ kann man dem Dokumentarfilm „Looking for Robert“ entnehmen, den Richard Copans gedreht hat und der ebenfalls in der arte-Mediathek zur Verfügung steht. Copans fungierte bei „Route One/USA“ als Produzent und Kameraassistent.
Jazz und ein ironischer Unterton
Dass in „Route One/USA“ der Arzt ein Schauspieler ist, erfährt man in „Looking for Robert“, man kann es aber auch an vielen Stellen selbst erkennen, wenn Szenen wie in einem Spielfilm aufgelöst werden oder ein Gespräch in Schuss-Gegenschuss-Montage gezeigt wird, ohne dass im jeweiligen Gegenbild eine Kamera zu sehen ist. Oder wenn man zu Beginn ein Stethoskop demonstrativ herumliegen sieht, um die Behauptung, dass es sich bei der Hauptfigur um einen Arzt handle, auch im Bild zu belegen.
Der Film verleugnet auch nicht die Tatsache, dass eine Reihe wie zufällig erscheinender Momente sich der Recherche verdanken. Vom Filmteam initiierte Szenen wechseln sich mit inszenierten Szenen ab, die auf reine Beobachtungsmomenten folgen. Auch die Formen der Montage ändern sich: Mal werden klassisch Beobachtungsszenen durch Auslassungen verdichtet, mal werden Aufnahmen, die an anderen Orten und zu einer anderen Zeit stattfanden, aber thematisch zusammengehören, ineinander geschachtelt.
Die heterogenen Szenen werden durch improvisierte Jazz-Musik verbunden, die unter Leitung des Bassisten Barre Philipps für den Film aufgenommen wurden. All das verleiht „Route One/USA“ eine große Abwechslung und einen tendenziell ironischen Unterton, der deutlich macht, dass eine Reise ein paar Monate früher oder später vollkommen andere Bilder ergeben hätte, ohne darüber jedoch die Ernsthaftigkeit dessen zu relativieren, was der Film an gesellschaftlichen Erfahrungen erfasst.
Die Idee eines Reisefilms hat Robert Kramer nicht erfunden. Auch nicht die einer Reise entlang einer Autobahn quer durch die USA. Einen ähnlichen Film hat beispielsweise Hartmut Bitomsky im Jahr 1980 gedreht, „Highway 40 West“. Während Kramer die Ostküste der USA von Norden nach Süden entlangfuhr, bewegte sich Bitomsky mit seinem Kameramann Axel Block von der Ost- an die Westküste.
Das „Grand Format“ von La Sept
1989, als „Route One/USA“ fertiggestellt wurde, realisierte Bitomsky seinen Film „Der VW Komplex“, ebenfalls für La Sept. Das unterstreicht die Vielfalt der dokumentarischen Anstrengungen dieses kurzlebigen Fernsehprojekts. In der Gegenwart sind auch bei arte solche Auftragsvergaben an Dokumentarfilmerinnen und Dokumentarfilmer rar geworden. Im gegenwärtigen Programm dominieren kurzlebendige Dokumentationen, die oft recht hektisch für die unmittelbare Gegenwart gedreht werden. Im Unterschied zu den Filmen von Robert Kramer und Hartmut Bitomsky sind die nicht repertoirefähig.
Hinweise
„Route One/USA“ von Robert Kramer ist bei zum 1.2.2025 in der arte-Mediathek zu sehen.
In Frankreich ist außerdem eine aufwändig gestaltet BD/DVD-4-Disc-Box mit dem Titel „Robert Kramer: Route One/USA“ erschienen, die neben „Route One/USA) auch die beiden Filme „X-Country“ (1987) und „Dear Doc“ (1990) enthält. Eine Bezugsmöglichkeit findet sich hier.