Die Buchreihe „Filmgeschichte kompakt“ will kurze Einführungen und Überblicke nationaler Filmhistorien bieten und ist zuletzt um einen Band zum französischen Kino ergänzt worden. Filmwissenschaftler Thomas Brandlmeier unternimmt darin einen Parcours durch 130 bewegte Jahre und stellt Epochen, Strömungen und zahlreiche bedeutsame Filmschaffende vor. Neben pointierten Œuvre-Würdigungen zeichnet sich der Band durch seinen großen Informationsgehalt und bereichernde Einschübe aus.
In Zeiten, in denen das Kino ganz allgemein an einem Minderwertigkeitskomplex leidet, hat eine selbstbewusste Ansage etwas sehr Erfrischendes. Man nehme nur die Ausrufezeichen des Traditionsstolzes, die französische Produktionsfirmen gern an die Anfänge ihrer Filme setzen. So erinnert Gaumont stets daran, dass es die älteste bestehende Produktionsstätte ist, „depuis que le cinéma existe“, seit das Kino existiert. Aber auch die wesentlich später dazugekommenen Vertreter der Zunft stehen Gaumont an aufrichtigem Pathos wenig nach – Canal+ wirbt mit dem knappen „aime ce film“ (liebt diesen Film), Arte France mit dem poetisch gewundenen „Le film que vous allez voir est né sous un bon étoile“ (Der Film, den Sie sehen werden, wurde unter einem guten Stern geboren). Aufrichtig ist das deshalb, weil diese Ansagen sich allesamt aus dem Bewusstsein speisen, Teil eines von der Geburt des Kinos bis heute ungebrochenen Innovationsgeistes in Sachen Film zu sein. Das Kino als nationales Erbe ist in Frankreich eben kein leerer Begriff, sondern politischer und gesellschaftlicher Konsens, der ebenso bewahrt wie ständig ausgebaut wird.
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Vor diesem Hintergrund steht jeder historische Abriss des französischen Films vor einer ebenso reizvollen wie herausfordernden Aufgabe. In der Buchreihe „Filmgeschichte kompakt“, die seit 2021 im Verlag „edition film+kritik“ erscheint, geht es an sich um kurze, überblicksartige Einführungen in nationale Filmgeschichten, von Verlagsseite angesetzt auf lediglich circa 100 Seiten. Bisher erschienen sind in dieser Reihe Übersichten zum chinesischen und japanischen Film sowie zum Film im Nationalsozialismus, für Herbst 2024 angekündigt sind drei weitere Einlassungen, zum britischen, dänischen und argentinischen Kino. Eingehalten hat die 100-Seiten-Grenze bislang zwar keiner der Einzelbände, am auffallendsten ist die Überschreitung jedoch beim vierten Band, der dem französischen Film gewidmet ist. Dessen Autor, der Filmwissenschaftler Thomas Brandlmeier, hat letztlich fast 250 Seiten benötigt, auch wenn er dabei immer noch zahlreiche Kompromisse und Lücken in Kauf nahm.
Chronologischer Parcours mit persönlichen Akzenten
Eine streng wissenschaftliche Herangehensweise kam schon aus Platzgründen nicht in Frage, wie Brandlmeier im Vorwort erläutert. So verzichtet er auf Zitate zugunsten einer „Filmgeschichte als Geschichten“ nach dem Vorbild von Godards „Histoire(s) du Cinéma“, aufbauend auf der eigenen, jahrzehntelangen Beschäftigung mit französischen Filmen. Angelegt ist das Buch daher als zwar weitgehend chronologischer Nachvollzug der französischen Filmentwicklung, in Schwerpunkten wie sprachlichem Duktus setzt der Autor jedoch laufend persönliche Akzente.
Angesichts der Masse an Material und der Textlastigkeit – auch für Filmbilder war am Ende kaum noch Platz – ist der Parcours durch 130 Jahre Filmgeschichte aber launig und beachtlich kurzweilig geraten. Im Gegensatz zu anderen Filmnationen lässt sich bei Frankreich nicht leicht zwischendurch ein Jahrzehnt als weniger bedeutsam abtun oder gar überspringen, sodass Brandlmeier jede Epoche gleichermaßen angemessen berücksichtigen muss. Die innovativen Hochphasen stechen gleichwohl heraus, insbesondere die Beschäftigung mit der Nouvelle Vague ist im Rahmen des Buches durchaus detailliert ausgefallen. Gleiches gilt für die produktive Pionierzeit des Kinos, die für Brandlmeier nicht, wie vielleicht zu erwarten, mit den Lumière-Brüdern und ihrer Organisation einer öffentlichen Kinovorführung auf den 28. Dezember 1895 datiert ist, sondern bereits drei Jahre zuvor beginnt. Allerdings ebenso mit einem Franzosen, dem weithin vergessenen Émile Reynaud, der schon ab 1892 im Pariser Musée Gravin kurze Zeichentrickfilme vorführte und bis 1900 mehr als eine halbe Million Zuschauer erreichte.
Im Zentrum: Die wichtigen Regisseur:innen
Reynaud folgend würdigt Brandlmeier dann die Vielzahl weiterer französischer Stummfilm-Innovatoren: Die Lumières und Georges Méliès, die das Fundament für die dokumentarische respektive fiktionale Arbeit im Kino legten, den Filmstar-Prototyp Max Linder, Alice Guy als erste Regisseurin von Weltrang, den Zeichentrick-Vorreiter Émile Cohl, den seriellen Erzähler Louis Feuillade, den Kritiker und intellektuellen Filmemacher Louis Delluc, die Avantgarde der 1920er-Jahre. Nicht zu vergessen die geschäftstüchtigen Produzenten wie die Brüder Charles und Émile Pathé oder Léon Gaumont, die ihrerseits Anteil an der Vitalität von Frankreichs Kino schon in dessen ersten Jahren hatten.
Dem Muster des Auftakts folgen auch die weiteren Kapitel des Buches. Brandlmeier führt bei allen Epochen in erster Linie die wichtigen Regisseure auf, deren historische Bedeutung er anhand ihres Œuvres kurz zusammenfasst. Der notgedrungenen Knappheit steht ein bemerkenswerter Wille zur Informationsfülle gegenüber, was mitunter etwas kurzatmig wirkt, immer wieder aber auch mustergültig die Ziele der „Filmgeschichte kompakt“-Reihe erreicht. Gerade weniger bekannte Figuren der Filmgeschichte wie den Lehrfilmer Jean Painlevé charakterisiert der Autor mit einem sicheren Gefühl für die Würdigung einer Lebensleistung in wenigen, aber knackigen Zeilen, die Neugier auf den tatsächlichen Kontakt mit dem Werk wecken.
Präziser Blick auf Rahmenbedingungen
Bereichernd sind auch die Einschübe zu den technischen, wirtschaftlichen und theoretischen Voraussetzungen, die der Kunst der Filmemacher vorausgingen und diese erst möglich machten. So weist Brandlmeier beispielsweise auf die Nachkriegskonkurrenz der Filmzeitschriften „Cahiers du Cinéma“ und „Positif“ hin, die mit unterschiedlichen Theorien ein neues Kino propagierten und ab Ende der 1950er-Jahre beiderseits auch umzusetzen begannen – wobei die selbstsicheren „Cahiers“-Wortführer um Truffaut und Godard aber weit mehr Bekanntheit erlangten als die „Positif“-Auteurs um Robert Benayoun und Luc Moullet. Hilfreich zum Verständnis der speziellen Verhältnisse in Frankreich ist auch die Aufschlüsselung des Fördersystems durch staatliche, regionale und europäische Einheiten, die in Kombination mit den künstlerischen Ansprüchen andere Ergebnisse zeitigte als beim im Prinzip ähnlichen System in Deutschland: „Großes Kino statt Fernseh-Ästhetik.“
Bei aller gelungenen Verdichtung klammert das Buch allerdings auch viele filmische Bereiche aus, deren Beitrag zur französischen Filmgeschichte eigentlich unstrittig ist. Vom Autor selbst angekündigt sind Ellipsen wie das fast völlige Fehlen der Dokumentarfilm-Entwicklung (mit Ausnahmen wie den Holocaust-Chronisten Claude Lanzmann und Marcel Ophüls), des Blicks auf Kurzfilme und den Animationsfilm, wobei vor allem letzteres angesichts der franko-belgischen Ausnahmestellung in diesem Bereich bedauerlich ist.
Vieles bleibt ausgeklammert
Ebenso werden abseits der zahlreichen Regisseure nur wenige Vertreter anderer Sparten hervorgehoben, was vor allem bei der in Frankreich so markanten Kultur von Stars auffällt – nur wenige, etwa Max Linder, Jean Gabin, Gérard Philipe und Louis de Funès, erhalten ein paar eigene Zeilen spendiert. Fast gänzlich außen vor bleiben auch die bedeutenden Techniker, die ihrerseits Anteil an der Qualität des französischen Films hatten. Als Kamerakunst-Experte würdigt Brandlmeier immerhin einige Bildgestalter wieRaoul Coutard und Nestor Almendros, andere Gewerke kommen jedoch kaum zum Zug. Hier zeigen sich die Grenzen des kompakten Formats, die für die interessierten Leser eine weitere Vertiefung mit Hilfe anderer Überblickswerke unumgänglich machen.
Für das französische Kino seit der Jahrtausendwende macht Brandlmeier in den letzten Abschnitten des Buches keine dominierende Strömung mehr aus, vielmehr einen Stilpluralismus und eine Vielzahl an Schwerpunkten. Dementsprechend ist dieser abschließende Teil sprunghafter und zerfaserter als die vorigen, auch wenn die Einzelbetrachtungen zu medialen Experimenteuren, migrantischen Filmemachern, Komödienregisseuren und Künstlerfilmern weiterhin überzeugen. Ein eigenes Kapitel ist den Regisseurinnen seit 2000 vorbehalten, den Ausklang bilden Porträts der Cannes-Gewinnerin Julia Ducournau und der Venedig-Gewinnerin Audrey Diwan. Durch den Redaktionsschluss Ende 2022 kommen Filmemacher wie Justine Triet, Nicolas Philibert, Quentin Dupieux, Thomas Cailley und andere, die 2023 prominent von sich reden machten, dann in dem Buch nicht mehr vor. Was freilich nur daran erinnert, dass eine ergänzte Fassung des Bandes in der Zukunft sinnvoll sein dürfte. Vorläufig sei wertgeschätzt, was vorliegt. Für Einsteiger in die Vielfalt des französischen Kinos wie auch für Cineasten, die ihr Wissen ergänzen wollen, erfüllt „Filmgeschichte kompakt: Der französische Film“ seinen Zweck vollauf und bietet Anregungen en masse.
Literaturhinweis
Der französische Film. Filmgeschichte kompakt. Von Thomas Brandlmeier. Verlag edition text+kritik, München 2023, 242 Seiten. 28 Euro. Bezug: In jeder Buchhandlung oder hier.