Im Oktober 2023 wurde in der früheren Eisenwerk-Anlage im saarländischen Völklingen die Ausstellung „Der deutsche Film. 1895 bis Heute“ eröffnet, die noch bis August 2024 zu sehen ist. Eine gelungene Ergänzung zur Ausstellung stellt der jetzt erschienene Begleitkatalog dar. Kundige Essays, pointierte Kurzvorstellungen vieler Schlüsselwerke und zahlreiche Filmfotos würdigen fast 130 Jahre deutsche Filmkunst.
Noch bis zum 18. August zeigt die Völklinger Hütte im Saarland die Ausstellung „Der deutsche Film. 1895 bis Heute“. Jetzt gibt es auch einen Begleitkatalog zu der aufwändigen Schau über 128 Jahre deutsche Filmgeschichte. Der 410 Seiten starke Band ist ein Bilder- und Lesebuch im besten Sinne des Wortes. Im „Vorspann“ führen die beiden Herausgeber, Ralf Beil als Generaldirektor des Weltkulturerbes Völklinger Hütte und Rainer Rother als Direktor der Deutschen Kinemathek in Berlin, in das Thema ein, ohne den Leser mit filmhistorischen Details zu überfordern.
In sieben Kapiteln skizzieren die Autoren Horst Peter Koll und Daniela Sannwald einen an der Schau orientierten zeitgeschichtlichen Überblick. Die Essays sind dem frühen Film bis 1918, der expressionistischen Filmkunst, Fritz Langs Monolith „Metropolis“, dem Film im Nationalsozialismus, dem Nachkriegskino, dem deutschen Film in Ost und West sowie der Neuorientierung Gesamtdeutschlands gewidmet. Zeitgenössische Plakatmotive, Anzeigen, Skizzen und Szenenfotos unterstützen und vertiefen die Ausführungen. So entsteht für den Leser ein transparentes Panorama – informativ, gut lesbar, maßvoll mit Zitaten und Analysevorschlägen belegt.
Wegweisende Arbeiten werden vorgestellt
Pro Kapitel werden wegweisende Arbeiten der Filmkunst und ihre Entstehungszeit vorgestellt. Für jedes Werk sind zwei Seiten reserviert: Eine Pressestimme und kleine Szenenfotos begleiten einen kurzen Infotext; die gegenüberliegende Bildseite präsentiert in der Regel drei Schwarz-weiß- oder Farbfotos. Lebens- und Arbeitsverläufe von stilbildenden Künstlern runden die Filmbeispiele ab. Es ist eine Zeitreise in die Atmosphäre vergangener Jahrzehnte deutscher Filmgeschichte, die noch ohne permanente „Social Media“-Präsenz auskommt. Der Band bietet ausreichend Gelegenheit, Produktions- und Rezeptionsgeschichte, Strategien der Filmvermarktung, die Kreation von Mode, gesellschaftlichen Themen und Publikumsreizen nachzuempfinden.
Das Kino, ein Licht-Spiel, wie die Brüder Lumière ihren genialen Cinématographen, der Aufnahme- und Wiedergabeapparat in einem war, nannten, war immer schon ein Seismograph, der Fiktion und Dokumentation als zwei Seiten derselben Medaille verstand und etablierte. Es führte von den marktschreierischen Lehr- und Wanderjahren, von ersten festen Projektionsstätten in schäbigen Kaschemmen bis zum starbesetzten „Kunstfilm“, der in glamourösen Kinopalästen das großstädtische Publikum, die feine Gesellschaft und Intellektuelle gleichermaßen begeisterte.
Unfassbar entwicklungsreich mutet der Weg vom Berliner Wintergarten-Programm der Gebrüder Skladanowsky (1895) bis zu den Highlights des Weimarer Kinos an. Unfassbar auch der Aderlass im „Dritten Reich“, mit dem mehr als 2000 jüdische und anderweitig unliebsame Künstler aus allen Filmgewerken von der gleichschaltenden NS-Ideologie vertrieben wurden. War es nur ein Schritt von der Gigantomanie eines visionären „Metropolis“ zur Propaganda der NS-Diktatur und zum Eskapismus mit seinen fließenden Übergängen und Stimmungen? Nach Joseph Goebbels’ Vorstellungen von der Reichsfilmkammer firmierten Film und Kino schließlich als „Volkskunst im besten Sinne des Wortes“.
Westdeutsch, ostdeutsch, gesamtdeutsch
Die Autoren erzählen von der Sehnsucht nach dem Vergessen der Vergangenheit bis zum westdeutschen Wirtschaftswunder. Vom Trümmerfilm bis zum Mauerbau werden die Gegensätze von Heimatvertreibung und Entnazifizierung schnell von Ablenkung und Verdrängung übertüncht. Der Heimatfilm „Grün ist die Heide“ (1951), ein symptomatischer Katalysator dieser (west-)deutschen Geschichte nach der Wiederaufnahme der Filmproduktion, wird mit kritischen Anmerkungen vorgestellt. Auch die Ablösung von „Opas Kino“ durch den aufmüpfigen Neuen deutschen Film und die „antifaschistische“ Grundsteinlegung der DEFA mit der Zielvorgabe eines sozialistischen Realismus werden betrachtet. Die Stagnation der 1980er-Jahre hangelt sich dann zur oft prätentiösen Selbstbesinnung im Zeichen von Wirtschafts- und Kulturförderungssystemen.
Koll deutet das gesamtdeutsche Filmschaffen aus der Perspektive des Falls der Berliner Mauer als Zäsur und Agonie der Gesellschaft. Das Verschwinden einer (sozialistischen) Utopie in bürokratischem Starrsinn und kapitalistischer Goldgräberstimmung habe die Flucht in klischeebeladene Komödien begünstigt, bis einige Vertreter der zweiten und dritten Generation des Neuen deutschen Films den Abschied von gestern einläuteten.
Stimmig in diesem Kontext ist die zitierte Analyse von Hans Helmut Prinzler: „Aber es gehört zu den schönsten Erfahrungen beim Umgang mit der Filmgeschichte, dass man manches aus zeitlichem Abstand anders sehen kann und sich auch nicht von einhelligen zeitgenössischen Verrissen beeinflussen lassen muss.“ Und auch Dominik Graf ist zuzustimmen: „So sind die Bruchstellen im deutschen Film auch seine Kontinuität. Die vermeintliche Provinzialität war in Wahrheit seine unendliche Geschichte.“
Die Globalisierung der Filmproduktion und -distribution, der Starkult, die Avantgarde des frühen Autorenfilms verdecken freilich, dass das zahlende Kinopublikum seinen Hunger nur zu oft mit hanebüchenen, rasch heruntergekurbelten Fließbandarbeiten befriedigte – und weniger mit den in hochkarätigen Feuilletons besprochenen filmästhetischen Meilensteinen.
Kleine Lücken
Trotz der gelungenen Konzeption des Katalogs hätten wenigstens zwei Komplexe im Buch als Ergänzung zur Ausstellung stärker extrapoliert werden können: die Funktion und Bedeutung der endlosen Dutzendware als Gegenbild zum ästhetisch wertvollen Film und die unverkennbaren Geschlechterdissonanzen in den Geschichten und Berufsbildern. Beispiele dazu finden sich seit der Sturm- und Drangzeit der Weimarer Republik zuhauf, etwa in den zaghaften Ansätzen des Bandes zu den 1960er- bis 1980er-Jahren mit den Arbeiten von feministischen Regisseurinnen wie Ula Stöckl oder Monika Treut. Hier hätte sich ein ausführlicher Essay angeboten.
Makellos hingegen ist die Optik des Bandes: Der auf hochwertigem Papier gedruckte, sorgfältig lektorierte Band gefällt selbst bei alten Bildmotiven oder Szenenfotos.
Josef Nagel
Literaturhinweis
Der deutsche Film. 1895 bis Heute. Hrsg. von Weltkulturerbe Völklinger Hütte, Ralf Beil, Rainer Rother. Sandstein Verlag, Dresden 2024. 424 Seiten, zahlreiche Abbildungen. 54 Euro. Erhältlich in jeder Buchhandlung oder hier.