© imago/Matthias Reichelt (Thomas Heise)

Sehnsucht, vergessen - Thomas Heise & "Material"

Ein Gespräch mit Thomas Heise über „Material“

Veröffentlicht am
14. Juni 2024
Diskussion

Thomas Heises Essay „Material“ (2009), ein Höhepunkt der diesjährigen „Berlinale“, ragt „schon jetzt wie ein erratischer Block aus dem Meer audiovisueller Reminiszenzen an Agonie und Aufbruch im deutschen Osten heraus (...) eine Beschwörung jenes Gefühls von Freiheit, das für ein paar Wochen von einem utopischen Traum zur greifbaren Realität geworden zu sein schien“. (Ralf Schenk im FILMDIENST fd 06/2009).


Ihr Film „Material“ über die Ereignisse in der DDR im Herbst 1989 hat mehrere Erzählebenen. Schnell kommt er auf den 4. November zu sprechen, dann auf den 9. November 1989. Sie haben auf der Straße gedreht, sind herumgelaufen. Mit welcher Absicht sind Sie damals losgezogen? Wie müssen wir uns die Tage im Herbst 1989 vorstellen?

Thomas Heise: Nachdem ich in der DDR beim Film nicht mehr arbeiten konnte, bin ich über Heiner Müller ans Deutsche Theater geholt worden. Das ist wohl eine Spezialität von Diktaturen, dass immer alles gleichzeitig geht: Ich bin aus der Filmhochschule geflogen und gleich Meisterschüler an der Akademie der Künste geworden. Das würde heute nicht mehr gehen, man wäre zunächst verbrannt. Heiner Müller begann 1987 mit der Inszenierung seines Stücks „Der Lohndrücker“. Ich habe im Auftrag der Akademie daran in Gestalt eines Arbeitsbuchs mitgearbeitet. Dafür zeichnete ich mit der Kamera alles auf, was stattfand; ich habe mich wie eine Ratte oder der Geheimdienst benommen und jedes Gespräch rund um die Inszenierung festgehalten. Daraus ist auch ein Film entstanden, „Der Ausländer“. Der beschreibt die Inszenierungsarbeit von Heiner Müller am Deutschen Theater. Dann kam relativ bald Bewegung in die DDR. Die später berühmte Demonstration am 4. November auf dem Alexanderplatz wurde von den Berliner Theatern organisiert. Ich war im Vorbereitungskomitee und von daher abgesichert. Wenn jemand fragte, „Was machen Sie denn hier mit der Kamera?“, dann konnte ich immer sagen: „Wir sind das Vorbereitungskomitee 4.11.!“ Ich hatte auch einen Zettel dabei, der das belegte. Vorher hatte ich mich mit der Kamera nicht auf die Straße getraut.

Wie war das mit dem Sich-trauen? Manchmal ist in „Material“ die Distanz zum Geschehen sehr groß. Es wirkt, als sei da eine gewisse Angst im Spiel.

Thomas Heise: Was heißt Angst? Ich war natürlich unsicher. Da kommen mehrere Sachen zusammen: Ich hatte noch nie eine Kamera bedient, war zwar an der Filmhochschule, aber da war ich Regisseur; alle Bereiche waren getrennt. Es war ja nicht wie heute, dass man Kameras hatte, die jeder sofort bedienen kann. Ich konnte mit der Kamera gar nicht umgehen, habe sie eine Woche nicht angefasst, sondern nur angeguckt. Also, diese Unsicherheit ist nicht nur eine politische, sondern auch die technische.

Auf welchem Filmmaterial haben Sie denn gedreht?

Thomas Heise: Nachdem ich bei der Filmhochschule Babelsberg rausgeflogen war, machte ich alles Mögliche, um zu überleben, und landete 1983 bei der Filmproduktion „Wundkanal“ von Thomas Harlan. Der Produzent Bernhard Stampfer wollte 1987 von mir einen Film fürs Westfernsehen über Heiner Müller haben. Ich konnte nicht Nein sagen, weil ich die Kamera haben wollte. Aber ich muss zugeben: Ich wusste, dass ich nicht mit Müller fürs Westfernsehen drehen würde – dann ist man einmal ganz berühmt, und das war’s dann. Ich habe also den Produzenten enteignet, die Kamera behalten, es gab ja noch die Mauer – was sollte er machen?

So kann man sich täuschen…

Thomas Heise: Ja, aber so ist es gelaufen. Das ist mir heute natürlich unangenehm. Aber so war es halt, ich hatte mich wirklich richtig schlecht benommen. Die Kassetten kamen auch aus der Bundesrepublik. Müller konnte sie auf meine Bitte hin importieren.

Im Film heißt es: „Man kann sich die Geschichte länglich vorstellen, sie ist aber ein Haufen.“ Das heißt: Die Ordnung muss erst hergestellt werden, das Verstehen folgt erst hinterher. Der Film wirft uns einen Haufen vor die Füße: eine Art „Nachlass zu Lebzeiten“?

Thomas Heise: Wir haben, so glaube ich, sehr genau daran gearbeitet. Mir geht schon lange die Frage durch den Kopf, wie man das alles, was man so treibt, in eins bekommt. Das geht natürlich nie ganz auf, aber man muss es versuchen. Es ergaben sich Zusammenhänge innerhalb der Filmteile. Ein Zusammenhang war beispielsweise der der Sprache: Man konnte sehen, dass es an verschiedenen Stellen immer wieder darum geht, dass Menschen sich zum ersten Mal in ihrem Leben überhaupt öffentlich äußern. Vor einer größeren Menge. Das fand ich spannend. Genau so wie den Umstand, dass dieses öffentliche Reden dann wieder ins Schweigen zurückfällt. Das war das Leitmotiv des Umgangs mit dem ganzen Zeug.

Es gibt auch Momente, wo Sprache entgleitet. Wo manchmal nur noch Schweigen herrscht, oder geschrieen wird. Im letzten Drittel lässt sich eine Rückkehr zur formalen, auch floskelhaften Sprache beobachten, etwa in den Szenen mit dem neuen CDU-Minister Krause, der ganz anders redet als die Menschen in den Momenten der Revolte.

Thomas Heise: Mich hat interessiert, wie man Sprache zum Verschweigen benutzen kann. Genauso wie Schweigen als solches ja auch Sprache ist. Ich würde übrigens nicht von „Revolte“ sprechen, so aktiv war der Prozess nicht. Eine „Revolution“ war es schon gar nicht. Auch hier ist Sprache wichtig, in diesem Fall die unsere: Heute heißt es „friedliche Revolution“, aber nur, um nicht „Revolution“ sagen zu müssen. Denn das hätte ja bis heute eine Sprengkraft.

Das Adjektiv „friedlich“ schränkt ein…

Thomas Heise: Genau. Wir feiern den Mauerfall. Nicht den Herbst 1989, in dem ein Volk sich von seiner Regierung gelöst und zum Souverän erklärt hat. Das hat natürlich seinen Grund. Es ist gewollt, dass man auch in der Bundesrepublik nicht allzu grundsätzlich über die Grundlagen der Gesellschaft nachdenkt. Volker Braun hat für alles den Begriff „Übergangsgesellschaft“ gefunden. Den finde ich treffender.

Es gibt eine irrwitzige Passage in einem Gefängnis: Die Gefangenen kritisieren die Wärter, diese üben dann eine Art Selbstkritik. Es ist klar, dass die Zeit der alten Sprache vorbei ist, aber man hat noch keine neue.

Thomas Heise: Ja, die versuchen dort alle ein Schriftdeutsch zu sprechen. Das ist etwas ganz Merkwürdiges. Ich bin nachts angerufen worden von einem Kollegen. In der Nacht vom 7. auf den 8. Dezember 1989 gab es Unruhen, die Gefangenen hatten es irgendwie geschafft, aus den Zellen zu kommen und aufs Dach zu klettern. Die Situation konnte dadurch beruhigt werden, dass der Gefängnisdirektor sagte: „Ich kümmere mich darum, dass das Fernsehen kommt“. Wir waren dann „das Fernsehen“, wir wurden in gewisser Weise benutzt. Eine absurde Situation. Nachher durften wir auch mit den Gefangenen reden. Auffällig war, dass die Gefangenen eine bessere Sprache hatten als die Wärter. Was damit zu tun hatte, dass die zehn Jahre oder mehr einsaßen und viel Zeit zum Lesen und zum miteinander Reden hatten, und daher auch die Sätze besser bauen konnten, während die Wärter mit anderen Menschen nur in Befehlsform gesprochen hatten. Es war ein merkwürdiges Gemisch aus DDR-Beamtensprache und dem, was sie wirklich bewegte. Für mich war das ein absolut utopischer Moment, als die Gefangene und ihre Wärter gemeinsam darüber redeten: Was ist der bessere Knast?

Es gibt im Film ein Verbindungsglied zwischen den verschiedenen Strängen: Sie zeigen Momente des Aufstands. Mir scheint, dass sich die Sprachen des Aufstands einander ähneln. Es gibt Momente, wo Menschen die Floskeln durchbrechen und zu einer direkten „Basissprache“ zurückfinden. Zu klaren, kurzen, sich wiederholenden Kommunikationen?

Thomas Heise: Das Tolle ist, dass alle „Ich“ sagen: „Ich möchte jetzt hier etwas sagen.“ Das ist uns erst im Schnitt aufgefallen. Doch es geht auch um Bilder. In manchen Passagen, etwa der Gefängnisszene, werden die utopischen Elemente der Ereignisse ganz deutlich sichtbar. Man hat sie leider vergessen. Aber man sollte sehen: Da war doch noch was. Da ist eine Sehnsucht, und man merkt: Die ist heute verloren.

Wenn Sie jetzt, im Jahr 2009, Bilder aus dem Iran und den dortigen Unruhen sehen: Finden Sie dort Ihre Erlebnisse wieder?

Thomas Heise: Eigentlich nicht. Aber wahrscheinlich müsste man auch da zehn Jahre warten. Und sich dann das Material anschauen.

Was ist der Vorteil dieses zeitlichen Abstands? Schaut man dann anders drauf?

Thomas Heise: Meine Erfahrung zeigt mir, dass der Abstand gut ist. Ich mache ja als Dokumentarfilmer keinen Tagesjournalismus, sondern komme immer zu spät, weil ich ein paar Monate im Schneideraum zubringe. Ich darf mich also um die Gegenwart gar nicht kümmern. Meine Frage müsste vielmehr sein: Wie sieht der Film in 600 Jahren aus? Was passiert dann? Dann sind andere Fragen wichtig, nicht der aktuelle Quatsch. Das Tagesaktuelle ist schon am nächsten Tag völlig uninteressant.

Musik spielt in „Material“ eine wichtige Rolle. Sie verwenden sie sparsam, aber doch pointiert. In der Passage, in der Sie Ereignisse des 8. Novembers zeigen, kommen mehrere Menschen in langen Ausschnitten zu Wort, dann immer kürzer, fast stakkatohaft, schließlich erscheint Egon Krenz, der einige Wochen zuvor Honecker abgelöst hatte. Der redet wieder länger. Unter der Szene liegt Musik, zuerst sachte, leise, aber sie schwillt an, dann dominiert sie und macht am Schluss Egon Krenz fast mundtot…

Thomas Heise: Das ist ein Stück von Charles Ives, das er zum Untergang eines Schiffes geschrieben hatte. Ives war für mich schon als Jugendlicher eine Entdeckung. Was ich an Ives spannend finde, ist, dass die Art und Weise, wie er Musik macht, etwas damit zu tun hat, wie ich Filme mache: Das sind Collagen und Montagen aus verschiedenen Tonfetzen, die er zusammensetzt. In diesem Fall ist es ein komplettes Stück von Ives, ungekürzt, unbearbeitet, nicht irgendwie leiser oder lauter eingespielt. Es war nötig, in dieser Szene irgendetwas zu machen. Die große Oper, die das auch ist, der große Untergang, wenn Krenz vom Sozialismus redet, voller Pathos, brauchte diese Musik. Das ging nicht anders. Krenz glaubte in diesem Moment wirklich daran.

In dieser Passage empfindet man als Zuschauer die Absurdität der Situation. Können Sie sich erinnern, wie Sie das erlebt haben, was die Menschen in dem Moment geglaubt haben?

Thomas Heise: Was sie geglaubt haben, weiß ich nicht. Das waren ja alles Genossen. Ich war keiner, ich war ja nur mit der Kamera dabei. Was ich in dem Moment interessant fand, war, dass verschiedene Gruppen da waren. Das war keine homogene Masse. Wenn sie am Schluss die „Internationale“ singen, klingt der Anfang verschoben: die einen langsamer, die anderen schneller. Erst am Ende einigt sich das irgendwie. Mein Eindruck war, und das ist als Erinnerung ganz stark: Wenn es nicht am nächsten Tag diese merkwürdige Meldung gegeben hätte von Schabowski, dann hätte es die nicht mehr gegeben. Die Basis der Partei hätte die Führung verabschiedet. Deswegen musste die Mauer aufgehen. Das war die einzige Möglichkeit, noch eine Weile an der Macht zu bleiben. Die haben gedacht, sie gewinnen Zeit damit. Indem sie Dampf aus dem Kessel lassen.

Zur Maueröffnung heißt es auf westlicher Seite ja immer wieder: Das sei dem Schabowski unterlaufen. Bei Ihnen klingt das aber eher wie Kalkül.

Thomas Heise: Es wurde nie genauer befragt, was das eigentlich bedeutet, diese merkwürdige Veranstaltung der SED am 8. November. Die Leute unten rufen „Parteitag“, Schabowski sagt „Parteikonferenz“. Das ist ein juristischer Unterschied, was die meisten nicht wissen: Der Parteitag kann die komplette Führung verabschieden, die Parteikonferenz nicht. Eigentlich geht es darum, dafür zu sorgen, dass man die Basis, die so aufgeregt war und diese Führung nicht mehr wollte, beruhigt. Das aber schaffen sie nicht, das erkennen sie in diesem Augenblick. Da hat natürlich keiner mehr geschlafen – wie bei „Macbeth“. Man selbst auch nicht, man rannte ja auch nur noch so herum.

Noch einmal zurück zum Anfang: Da zeigen Sie ausführlich eine Theaterprobe am Deutschen Theater in Berlin. Worum handelt es sich da?

Thomas Heise: Die Person ist Fritz Marquardt, ein Theaterregisseur. Man sieht: Da sind ein Regisseur und sein Bühnenbildner. Die sitzen vor einem Modell und streiten sich. Es geht um das Verhältnis von Zuschauerraum und Bühne. Sie machen sich ungeheure Gedanken um das, was sie da treiben. Das fand ich fantastisch. Denn das sieht man sehr selten. Oft geht es auch in der Kunst immer nur darum: Wie machen wir etwas so, dass es möglichst viele Zuschauer toll finden? Aber die beiden meinen das ernst, das betrifft sie! Man sieht das Existenzielle, wenn die sich mit Kunst befassen.

Das Verhältnis von Zuschauerraum und Bühne ist genau das, was in der Revolte 1989 erschüttert wurde. Wir befinden uns damit gleich im Zentrum des Films.

Thomas Heise: Natürlich geht es darum. Stimmt alles. Trotzdem: Sie überlegen sofort, was das bedeutet. Nehmen Sie doch einmal alles eins zu eins, was Sie da sehen. Dann wird es leichter. Die Zuschauer müssen nicht wissen, dass das der Regisseur Fritz Marquardt ist oder dass das Stück „Germania Tod in Berlin“ heißt und von Heiner Müller stammt. Sie müssen auch nicht wissen, dass Fritz Marquardt derjenige war, der Heiner Müller in der DDR durchsetzte. Und Sie müssen nicht mal wissen, dass es keinerlei Filmmaterial über Fritz Marquardt gibt, so vergessen ist der. Das ZDF interessiert sich nicht für den. Ich habe bei ihm gearbeitet. Das ist mein Lehrer. Darum leiste ich mir das einfach, Marquardts Arbeit vorzuführen. Am Anfang des Films steht die Szene, weil ich weiß: Da geht noch keiner raus. Das müssen sich alle angucken, und vielleicht haben sie ja Freude dran. In den Gesprächen über das Müller-Stück geht es um den Anzug, der einem nicht passt. Dieser unpassende Anzug ist auch das Problem dieses Films. So versuche ich zu erzählen.

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