Das 77. Filmfestival in Cannes (14.-25.5.2024) laviert in den ersten Tagen geschickt zwischen der zweiten #MeToo-Welle in Frankreich und den Versuchen, nicht für politische Zwecke missbraucht zu werden. Die Lösung für das Versprechen von Cannes-Chef Thierry Frémaux, „ein Festival ohne politische Kontroversen“ zu veranstalten, besteht bislang in ambitionierten Filmen, die aus einer Frauenperspektive erzählt werden.
Politik soll in diesem Jahr nur auf der Leinwand zu sehen sein, hatte Cannes-Chef Thierry Frémaux angekündigt und eine Sperrmeile rund ums Festivalgelände verhängt, die Demonstrationen jeder Art abhalten soll. Gegen die zweite #Metoo-Welle in Frankreich wäre das allerdings ein aussichtsloses Unterfangen gewesen. Seit einer Rede der Schauspielerin Judith Godrèche bei der „César“-Verleihung Ende Februar hat die Diskussion über strukturelle Gewalt im Filmgeschäft beträchtlich an Fahrt gewonnen. Godrèche hatte die Regisseure Benoit Jacquot und Jacques Doillon beschuldigt, sie als Minderjährige sexuell missbraucht zu haben.
Ihrer Forderung, „das Schicksal des französischen Films nicht länger Männern zu überlassen, die der Vergewaltigung angeklagt sind“, stieß auf offene Ohren. Binnen kürzester Zeit gingen bei ihr tausende Mails von Betroffenen ein, die auch einem Aufruf Godrèches folgten und sich für einen Kurzfilm in den Straßen von Paris versammelten. In dem kurzfristig realisierten „Moi Aussi“ (Ich auch), der am Eröffnungstag gleich zweimal gezeigt wurde, stehen diese Menschen stumm nebeneinander und halten sich die Hände vor den Mund. Dann aber tanzt ein junges Mädchen zwischen ihnen hindurch und leiht ihren inneren Wunden das Ohr, was sich als wahre Sturzflut aus den Mails mit Berichten über Misshandlungen, Nötigungen und handfeste sexuelle Gewalt aus dem Off ergießt.
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Weibliche Perspektiven dominieren
Die prominente Platzierung von Godrèches „Moi aussi“ am Beginn des Festivals ist der bislang sichtbarste Ausdruck einer strategischen Entscheidung von Cannes, nicht länger als Bremser in Sachen Gendergerechtigkeit am Pranger stehen zu wollen. Obwohl Frémaux weiter strikt eine Quotierung von Filmen nach dem Geschlechterproporz ablehnt und darauf beharrt, seine Programmauswahl ausschließlich nach qualitativen Kriterien vorzunehmen, überraschten die ersten Filme durch ihre eindeutige Perspektive: Sie erzählen durchgängig aus Sicht von Frauen.
Das gilt sogar für das martialische „Mad Max“-Prequel „Furiosa – A Mad Max Saga“ von George Miller, der in dem zweieinhalbstündigen Endzeitfilm die Vorgeschichte der Protagonistin nachträgt, die in „Mad Max – Fury Road“ (2015) mit einer Handvoll anderer Frauen aus den Klauen eines Tyrannen flieht. Über einen Zeitraum von 15 Jahren hinweg skizziert „Furiosa“ jetzt, wie aus einem pfiffigen Mädchen eine knallharte Rächerin heranreift, die auch der Verlust ihres linken Unterarms nicht davon abhalten kann, den Mörder ihrer Mutter zur Rechenschaft zu ziehen. Und die dennoch weiter von jener grünen Oase träumt, aus deren matriarchaler Gesellschaft sie als Kind herausgerissen wurde.
In dem brachialen, mit wahnwitzigen Stunts und gigantischen Spezialeffekten gedrehten High-Speed-Actionfilm mitten in der australischen Wüste dominieren Kampf, Härte und ein gnadenloser Sozialdarwinismus, weshalb sich der Part der wortkargen Protagonistin kaum von dem ihrer männlichen Antagonisten unterscheidet. Dennoch gewinnt die fünfte Fortschreibung der testosterongesteuerten „Mad Max“-Saga durch die weibliche Hauptfigur eine zeitgeistige Dimension hinzu, die allein schon durch die schlanke Gestalt der Hauptdarstellerin Anya Taylor-Joy den Kult der Stärke karikiert.
Desolate Familienverhältnisse: „Bird“
Der abgründige Sound des „außer Konkurrenz“ gezeigten Blockbuster-Events verebbte allerdings schnell angesichts eines zwar nicht so actionreichen, aber nicht weniger bewegten Dramas von Andrea Arnold, in dem die fluide Handkamera den Träumen und Sehnsüchten eines zwölfjährigen Mädchens folgt, das in den Tagen seiner ersten Menstruation mit sich und den Nöten seiner Umwelt klarzukommen versucht. „Bird“ spielt wie schon „Fish Tank“ (2009) in der Grafschaft Kent im Südosten Englands und kreist um desolate Familienverhältnisse, Gewalt und verwahrloste Kinder, die an Stelle ihrer unzurechnungsfähigen Eltern Verantwortung übernehmen.
Die Protagonistin Bailey (Nykiya Adams) wohnt mit einem Halbbruder bei ihrem Vater in einem besetzten Haus, während ihre Mutter mit drei weiteren Kindern ein paar Straßenzüge weiter von einem gewalttätigen Liebhaber gegängelt wird. Als Bailey erfährt, dass ihr Vater wieder heiraten will, läuft sie weg und stößt inmitten einer sich selbst überlassenen Natur auf einen seltsamen Mann (Franz Rogowski) namens Bird, der wie ein aus dem Nest gefallener Vogel nach seiner Vergangenheit sucht. Wahlweise steht Bird auch auf den Dächern von Hochhäusern, wo er wie ein Engel dem Geschehen unter sich folgt. Zwischen den beiden Außenseitern besteht eine eigenartige Verbindung, die sich wie von selbst in den impressionistischen Gestus des Films fügt, wobei innen und außen, Entbehrungen und Sehnsüchte fließend ineinander übergehen, obwohl an der Härte der Verhältnisse nichts geschönt ist.
Bailey filmt die Welt um sich herum mit ihrem Handy und projiziert diese Aufnahmen an die Wand ihres Zimmers, was die Handlung spielerisch ins Imaginäre ausfransen lässt. Das greift mitunter sogar in metaphorische Gefilde über, wenn Bird sich in einen gefiederten Beschützer verwandelt, bleibt durch die prekäre Welt der Erwachsenen aber doch auch an eine harsche Wirklichkeit zurückgebunden. Der leicht träumerische Erzählrhythmus behindert in keiner Weise das Anliegen des Films, der auf bemerkenswerte Weise das Ringen der Protagonistin mitvollzieht, die sich nicht nur um ihre Geschwister kümmert, sondern nach und nach auch zwischen ihren Ängsten und den Wünschen der anderen zu unterscheiden lernt. Ein kraftvoller, berührender Film, der auf autobiografischen Erfahrungen der Regisseurin beruht, die in ähnlichen Verhältnissen aufgewachsen ist und die Sorge um andere auch schon in ihren früheren Werken thematisiert hat.
Zerplatzende Illusionen: „The Girl with the Needle“
Ungleich härter und auf eine gänzlich andere Weise brutaler
als „Furiosa“, wirft das in hartem Schwarz-weiß gefilmte Drama „The Girl with the Needle“ von Magnus von Horn die Zuschauer in die Zeit am Ende
des Ersten Weltkrieges. Eine Arbeiterin (Vic Carmen Sonne) aus
einer Tuchfabrik in Kopenhagen glaubt, dass ihr Ehemann gefallen ist, und lässt
sich auf eine Affäre mit dem Besitzer ein. Doch als sie schwanger ist,
zerplatzen ihre Illusionen wie eine Seifenblase; außerdem kehrt plötzlich ihr traumatisierter,
unter einer Gesichtsmaske grässlich entstellter Gatte zurück.
Dennoch scheint es das Schicksal gut mit ihr zu meinen, als sie in ihrer Verzweiflung an eine ältere Frau (Trine Dyrholm) gerät. Die nimmt sich ihrer an und verspricht, ihr Kind nach der Geburt an wohlhabende Adoptiveltern zu vermitteln. Was sie dann auch tut, auch wenn es sich dabei um keine Wohltätigkeit, sondern um eine Art Geschäft handelt.
Der Verzicht auf Farbe befreit den Film von den Zwängen des Historien-Genres und schärft den Blick auf die individuelle wie soziale Not der Protagonistin, die nicht nur ihre Wohnung verliert, sondern ohne Arbeit buchstäblich verhungern würde; selbst hochschwanger schleppt sie noch schwere Lasten und entbindet schließlich auf einem Zwischenlager für Rüben. Der verstoßene Ehemann sucht währenddessen als Gruselobjekt in einem Varieté sein Auskommen. Nur die freundliche Frau scheint ein Herz für die Not von anderen Frauen zu haben; zudem kennt sie sich mit Drogen und Giften aus, die allzu sentimentale Anwandlungen dämpfen.
Doch schon das kunstvolle Intro mit gespenstisch aus der Dunkelheit herausmodellierten Gesichtern deutet an, dass dies alles kein gutes Ende nehmen wird; die melodramatischen Untertöne drängen nur langsam und verhalten in die Handlung und blenden dabei auch die gesellschaftliche Einbettung des Geschehens nicht aus, die in den individuellen Schicksalen das Bild einer ganzen Generation von Frauen sichtbar machen.
Influencerinnen-Träume: „Wild Diamond“
Und noch ein weiterer Wettbewerbsfilm passt in diese Linie des Festivals, diesmal mitten in der Gegenwart angesiedelt: „Wild Diamond“ von der Französin Agathe Riedinger. Eine Heranwachsende (Malou Khebizi) aus der französischen Kleinstadt Fréjus setzt alles daran, als Influencerin Karriere zu machen, inklusive kosmetischer Korrekturen und der Unterordnung des gesamten Tagesablaufs unter das ehrgeizige Ziel. Als sie zu einer Reality-Sendung eingeladen wird, schnellen ihre Follower-Zahlen prompt in die Höhe. Doch der potenzielle Ruhm wirft auch gleich Schatten voraus: Die Mutter ist eifersüchtig, der Freund weniger; dafür fordern finanzkräftige Gönner schon erste Gegenleistungen ein.
Neben der glänzenden Hauptdarstellerin Malou Khebizi punktet die Inszenierung mit vielen aufmerksamen Momenten, die mit kleinen Nuancen die Spannung dieses Traums ausloten, auch ohne Schulabschluss gesellschaftlich nach oben zu klettern. Ruhm und Reichtum sind dabei nur die Sprossen für eine Freiheit, in die auch weiterhin die Sorge um die kleine Schwester passen soll.