Am 30. April feiert Jane Campion ihren 70. Geburtstag. Im Schüren
Verlag ist dazu jüngst eine intensive Auseinandersetzung mit der
neuseeländischen Regisseurin und ihren Filmen erschienen. Sie würdigt das Werk
der feministischen Filmemacherin, die mit dem wuchtigen Drama „Das Piano“ als
erste Frau in Cannes die „Goldene Palme“ errang.
Die am 30. April 1954 im neuseeländischen Wellington geborene Filmemacherin Jane Campion ist trotz ihres Erfolgs und ihres klaren Bekenntnisses zum Feminismus und zum feministischen Film im deutschsprachigen Raum bislang ohne wissenschaftliche Würdigung geblieben. Die zu ihrem 70. Geburtstag im Schüren Verlag erschienene Werkbiografie „Jane Campion und ihre Filme“ von Marisa Buovolo beendet diesen Zustand nun auf beeindruckende Weise. Die akademische Studie setzt allerdings eine gute Kenntnis Filme voraus, die in der Studie präzise analysiert werden. Unterstützt von anglo-amerikanischen Forschungsergebnissen, arbeitet Buovolo Intentionen und Stilmittel von Jane Campion heraus. Wiederkehrende Motive und Themenkreise, aber auch ihr fester Mitarbeiterstab werden von den ersten Kurzfilmen – „Peel“ gewann 1986 in Cannes die „Goldene Palme“ – bis zur Serie „Top of the Lake“ (2013/2017) und dem Drama „The Power of the Dog“ (2021) stringent analysiert.
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Buovolo interessiert dabei keine chronologische Nachzeichnung von Campions Schaffen, sondern vielmehr die Positionierung der Regisseurin als Kind ihrer Zeit inmitten des internationalen Autorenkinos und der Frauenbewegung im Film. Begünstigt durch das berufliche Engagement ihrer Eltern in der Theaterbranche sowie prägende Erfahrungen mit einer Super-8-Kamera, kam Jane Campion schon früh mit Literatur, Schauspielerei, Malerei und Fotografie in Berührung. Der familiäre Background ermöglichte ihr ein (erstes) Studium der Anthropologie in Sydney sowie Auslandsaufenthalte. Die Liebe zu Europa führte Jane Campion nach London, wo sie eine Kunstausbildung begann, und nach Perugia zu einem kurzen Italienisch-Studium. Anfang der 1980er-Jahre schrieb sie sich in Sydney an der Australian Film, Television and Radio School ein.
Eine eigene Handschrift
Nach dem Studium entschloss sie sich für Australien als Wahlheimat. Neuseeland erschien ihr zu eng; die finanziellen Mittel der Filmbranche waren dort gering und Experimente nicht gefragt. Das Brechen mit herkömmlichen Sehgewohnheiten und Dramaturgien in einer von Männern dominierten Filmindustrie begünstigte die Handschrift der Außenseiterin mit einem Faible für Teamarbeit. „Die männlichen Studenten waren damals so davon überzeugt, dass ihnen große kommerzielle Erfolge gelingen würden, während ich unfähig schien, irgendetwas wie einen Film zu machen“, erinnerte sich Campion in der Rückschau.
Doch gerade aufgrund der formalen wie inhaltlichen Originalität ihrer Filme profilierte sich Jane Campion als Avantgardistin und Chronistin eines anderen Neuseelands und eines anderen Australiens. Die anthropologische Ausbildung beeinflusste ihre Entwicklungsgeschichten des weiblichen Kosmos und der Sprache als Zeugnis für Schmerz und Leid. Sie erzählen von Normalität und Wahnsinn und spiegeln die in ihren Augen „bigotte, konformistische Gesellschaft Neuseelands“.
Für Buovolo geht es in Campions Filmen um „Haut, Filmtexturen, Intimität, Berührungen, Begegnungen von Körpern“. Es ist ein dezidiert subjektiver Zugang einer feministisch orientierten Filmwissenschaftlerin, die ihren Forschungsgegenstand verehrt. „Im Zentrum steht das Konzept der haptischen Visualität, eine ‚taktile‘ Art des Sehens und Wissens, die den Körper der Zuschauenden direkter in die Bilderwelt miteinbezieht“, schreibt Buovolo. Sie möchte die Leser „auf transkulturelle Reisen durch Campions Bilderwelten mitnehmen und dabei mit Suggestionen, Beobachtungen, Gedanken und Verknüpfungen mögliche Interpretationsschlüssel anbieten, um einen eigenen Zugang zu finden.“ Interessanterweise notiert sie: „Ich sage nicht, dass Männer sich auf Campions Filme nicht einlassen oder dass die Erfahrung für sie entfremdend sein muss. Aber sie finden vielleicht nicht denselben Ort, an den sie sich im Kino gewöhnt haben, sie müssen stattdessen andere Zugänge entdecken.“
Ausbruch aus Gefängnissen
Campions verstörendes Kino-Spielfilmdebüt „Sweetie“ (1989) wurde in den bundesdeutschen (Programm-)Kinos im Original mit Untertiteln gezeigt. Wie schon bei der Premiere in Cannes fielen die Kritiken äußerst ambivalent aus. So resümierte etwa der Kritiker der „Nürnberger Nachrichten“: „Der Film funktioniert ebenso wenig wie die gezeigten zwischenmenschlichen Beziehungen. Ein echter Low-Budget-Randgruppen-Film eben. Während sich die ,Scene‘ vermutlich bei einigen Szenen vor Amüsement kringeln wird, sitzt der Rest der ahnungslosen Menschheit gelangweilt bis verstimmt vor der Leinwand. ‚Schließen Sie sanft die Augen‘, sagt ein Meditationslehrer zur spröden Kay. Dieser Aufforderung ist der Kritiker sofort nachgekommen.“
Der Film thematisiert die Befreiung der „Heldinnen“ aus selbstgewählten oder tradierten „seelischen und sozialen“ Gefängnissen. Er propagiert ein Kino der Widersprüche, der Verstörung und der schmerzhaften Provokationen. Diese Standortbestimmung von Jane Campion als Vertreterin eines wandelfähigen Feminismus, des „sogenannten Frauenfilms“, ist mit einer Sichtbarmachung der Machtverhältnisse im Kampf der Geschlechter in der Kunst(theorie) verbunden, in der Unheimlichkeit des weiblichen Blicks oder der „Taktilität“, wie Buovolo das nennt.
Campions Geschlechter(de-)konstruktionen sind nicht erst seit „Das Piano“ zwischen Faszination und Grenzverletzungen angesiedelt. Mit dem 1993 mit der „Goldenen Palme“ geadelten Film schuf Campion das Modell eines subversiven Melodrams im viktorianischen Zeitalter, als Ausbruch aus dem patriarchalischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem. Im Spiegel und Wandel der feministischen Filmtheorie ergänzen sich selbstbewusstes weibliches Begehren und spröde Leidenschaft mit der Darstellung kolonialer Gewalt in der neuseeländischen (Maori-)Vergangenheit. Fast beiläufig gelingt Campion dabei eine Genreumwidmung, die subtil auf Passivität und Unterordnung anspielt – im Dekor, in der Kleidung, im Frisur- und Körperschmuck.
Buovolo interpretiert die Bedeutung von Kleidung als Außenwelt der Innenwelt, als „Seelenlandschaft“. Das Konzept von Verwandlung, Enthüllung und Verhüllung ist damit Chance und Unterwerfungsritual zugleich. Die Kategorie der „haptischen Visualität“ mündet in „erotisch-emotionales Verlangen nach Raum“, in eine Landvermessung und Rebellion weiblicher Körper – jenseits eines männlichen Zugangs beim Filmgenuss im Kino.
Die Signatur roter Stöckelschule
„Portrait of a Lady“ (1996) zeigt exemplarisch
polyphone Strategien der Flucht aus einer konventionellen Frauen- und
Mutterrolle, verbunden mit der Sehnsucht und dem Anspruch auf eine autonome
Persönlichkeit. Frauen in wirtschaftlichen, künstlerischen und diplomatischen
Kontexten wussten auch in früheren Jahrhunderten eine unabhängige
Lebensgestaltung einzufordern und sichtbar umzusetzen. Für die Gegenwart
spiegelt sich diese Haltung in der Miniserie „Top of the Lake“
(2013). Aufgrund der veränderten Wahrnehmung durch die permanente digitale Verfügbarkeit
von Filmen setzte Campion aufs Fernsehen, um ihre Themen feiner
auszuformulieren. Neuseelands archaische Naturschönheiten fungieren in der
Serie als Fluidum geheimnisvoller Ambivalenzen. Unterschwellig tauchen immer
wieder Traumata und Erinnerungen an familiär bedingte Neurosen auf, mitunter
auch verbotene Fantasien wie Inzest.
Entlarvt die Utopie eines Neuanfangs in Sachen Mütterlichkeit ein Alter Ego der Regisseurin? Deutet die Diskussion um (Leih-)Körper für alternative Familienformen in der Frauenkommune von Toplake auf eine Veränderung hin? Buovolo analysiert sehr genau die Bedeutung der High Heels, die Signatur der roten Stöckelschuhe, inklusive ihrer filmhistorischen Reminiszenzen. Die Fortsetzung der Serie mit „Top of the Lake - China Girl“ (2017) interpretiert Buovolo als Hommage an David Lynchs „Eraserhead“, in der Campions Kapitalismus-Kritik als „Produkt eines perversen sozialen Systems“ verständlich wird. „Das Destruktive und Düstere des Patriarchats“, so Buovolo, „ist ein wiederkehrendes Motiv in Campions Werk und hat ihren eigenwilligen Feminismus von Anfang an geprägt.“
Fluchtpunkt und Reibefläche Familie
Als Schlüsselbegriff führt Buovolo dem Ausdruck „Kino der Intimität“ für das Filmschaffen von Jane Campion ein, definiert als Beziehung zwischen weiblichem Publikum und dem Frauenbild im Film. „Sweetie“, „Ein Engel an meiner Tafel“ (1990) und „In the Cut“ (2003) thematisieren die Gegensätze von Stadt und Land. Neben der subtilen Inszenierung von Licht und Schatten stehen seit Campions erster, 18-minütiger Fingerübung „Tissues“ (1980) Fragen der Erziehung, der Selbstfindung und der Visualisierung weiblicher Identität und Sexualität im Zentrum ihres Schaffens. Konflikte und Gegensätze zwischen Schwestern bilden einen ständigen Bezugsrahmen; Campions ältere Schwester Anna arbeitet ebenfalls als Filmemacherin. Wohl nicht von ungefähr taucht eine unübersehbare Hass-Liebe schon in der Mädchen-Freundschaft des 1986 fürs Fernsehen realisierten Langfilmdebüts „Two Friends“ von Jane Campion auf.
In „Sweetie“ brillieren obsessive Träume und farbenfrohe Fantasien, die Suche nach familiärer Wärme und Geborgenheit. Körperliches Unbehagen, Leiden und Scham werden in „Ein Engel an meiner Tafel“ zum Katalysator, der von innen nach außen führt. Der Außenseiterin Janet Frame dient das Schreiben als Hilfe bei ihrer unbeholfenen Selbstsuche und -findung. Das Erotikdrama „In the Cut“ etabliert dann eine moderne Flaneuse als Heldin und verweigert sich einem oberflächlichen feministischen Autor(innen)-Kino. In einer Art emanzipierter Albtraumwelt erinnert der Film an die Einsamkeit in den existentiellen (Stadt-)Landschaften von Michelangelo Antonioni. „,In the Cut‘ könnte ein somnambuler, nachlässig erzählter Thriller sein. Aber man sieht den herzlosesten Film seit langer Zeit. Von Frauen produziert, von Frauen geschrieben, von einer Frau inszeniert, mit einem weiblichen Star. Kein Mann hat hier das Geringste zu sagen. Und das ist dann doch ein Fanal der Gleichberechtigung: Frauen in Hollywood können jetzt alles, was Männer können, auch allein“, urteilte Tobias Kniebe in der „Süddeutschen Zeitung“ zum Kinostart.
Die Kostüme der Designerin Janet Patterson unterstützen in Campions Filmuniversum nachhaltig das Verständnis. Die Funktion der Mode als Kunstform redet der Dekonstruktion der Kreationen das Wort. Beide, Janet Patterson und Jane Campion, inszenieren Kleider als Ausdruck äußerlicher Hüllen sozial lesbarer Wesen, voller Kraft und Identität. So übernimmt in „Portrait of a Lady“ der Schleier die Funktion von Enthüllung und Verhüllung, Unschuld und Verführung. In den Kameraeinstellungen werden Brüche, Widersprüche, Glück, Leidenschaft sichtbar umgesetzt. Pattersons Kostüme verstehen sich als Widerstand gegen eine Romantisierung der Welt, als Distanzierung von der Ästhetik konventioneller Kostümfilme.
Machtkampf zwischen Mann und Frau
„Holy Smoke“ (1999) ist das Porträt einer Grenzgängerin mit Wunsch nach Autonomie. Der Film stellt Machtverhältnisse und Spiritualität, aber auch gängige Vorstellungen weiblicher Sexualität in Frage. Eine Variante dazu liefert der unterkühlt fotografierte Film „Bright Star“ (2009). Er verschreibt sich einer modehistorisch exakten Rekonstruktion mit moderner Ausstrahlung: Nähen als Metapher für innere Subjektivität, als Parallele zur Poesie von John Keats.
„The Power of the Dog“ reflektiert in den Augen von Marisa Buovolo die Dichotomie der „Männlichkeiten“, eine „verborgene Sehnsucht“, in der es um Machismo und die patriarchalischen Rahmenbedingungen in Verbindung von Macht- und Herrschaftsansprüchen geht. Unterdrücktes (homo-)sexuelles Begehren produziere Formen „suizidaler, gewalttätiger und auch melancholischer Männlichkeit“. Der Film plädiere für eine Umkehrung der Geschlechterhierarchie und der Blickstrategien im standardisierten Hollywoodkino. Trotz Campions Weigerung „eine eindeutige feministische Botschaft zu verkünden“, beschreiben ihre Werke den „Machtkampf zwischen Mann und Frau, die uralten Zyklen des Missbrauchs und die archaischen Strukturen der Unterdrückung“, aber auch die Hoffnung auf die Neuordnung und Neuformulierung familiärer Strukturen.
Literaturhinweis
Jane Campion und ihre Filme. Von Marisa Buovolo. Schüren Verlag. Marburg 2024. 206 S., 70 Abb., 28 Euro. Bezug: In jeder Buchhandlung oder hier.
Die Bildauswahl zu den anspruchsvollen Texten der Studie ist hilfreich und exquisit, das blasse Schriftbild jedoch für die Lektüre eine Herausforderung. Das Literaturverzeichnis beschränkt sich auf wissenschaftliche Quellen; zeitgenössische Filmkritiken fehlen.